Buch lesen: «Die Rache des Waschbären», Seite 4

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Donnerstag, 8. September 2011, 23.14 Uhr

„Benjamin Blümchen“, rief Borowka. Fredi zeigte ihm einen Vogel. „Nee, komm. Nur vernünftige Helden. Nicht so Kindergartenfiguren.“ Borowka verzog enttäuscht das Gesicht und überlegte weiter. Die beiden Kumpel saßen sich im Bistro der Diskothek „Haus Waldesruh“ gegenüber. Die Großraumdisko war unter diesem Namen aber kaum bekannt. Überregionale Anerkennung hatte sie sich unter der Bezeichnung „Himmerich“ erworben, wie eigentlich der kleine Ort hieß, in dem das Tanzlokal beheimatet war. Früher als „Bauerndisko“ für seinen „Ball der einsamen Herzen“ verspottet, war das Haus heutzutage jedes Wochenende der Anlaufpunkt für Tausende von Menschen, die zu allen möglichen Stilrichtungen tanzen wollten. Fredi und Borowka hatten sich von ihren Fußballfreunden abgesetzt, mit denen sie unterwegs waren, und sich ins etwas ruhigere Bistro im vorderen Bereich zurückgezogen. Borowka hatte Fredi überredet, mitzukommen, damit er am Vorabend der Beerdigung seines Vaters nicht zu Hause Trübsal blasen musste. Die beiden spielten eines ihrer Lieblingsspiele, mit dem sie schon zu Schulzeiten Stunden hatten zubringen können. Es gab eine Aufgabenstellung, für die es mehrere Lösungen gab. Abwechselnd musste jeder antworten, und wem als Erstes nichts mehr einfiel, der hatte verloren und musste die nächste Runde Asbach-Cola bezahlen, die in Kindertagen noch aus Capri-Sonne bestanden hatte. Die aktuelle Aufgabe lautete, Comic-Helden zu nennen, deren Vor- und Nachname mit demselben Buchstaben beginnt. Bereits seit einer Viertelstunde lieferten sie sich einen spannenden Schlagabtausch. „Ah, ich weiß noch einen“, sagte Borowka. „Benni Bärenstark.“

„Kenn ich nicht.“

„Ja klar kennst du Benni Bärenstark. Der ist von Fix & Foxi. So ein kleiner Junge mit übermenschliche Kräfte. Der hat immer so eine Basketballmütze auf, wie französische Maler die immer anhaben.“

„Baskenmütze“, sagte eine tiefe Stimme, die plötzlich neben Fredi am Tisch aufgetaucht war. Sie gehörte zu einer burschikosen Frau mit einem von Soßenresten und Ketchupflecken übersäten weißen Küchenkittel. In ihrem Mundwinkel balancierte sie eine halb aufgerauchte Zigarette. Der aufsteigende Rauch verfing sich in ihren fettigen Haarsträhnen. In jeder ihrer großen Hände hielt sie einen Teller Fritten, die in Unmengen Mayonnaise ertränkt waren. Scheppernd stellte sie die Teller auf dem Tisch ab. Einige Fritten fielen herunter. „Danke“, sagte Borowka. „Woher weißt du denn, wie man für französische Mützen sagt, Lotti?“

Die Bedienung fixierte Borowka feindselig, nahm einen tiefen Zug an der Zigarette und aschte auf dem Boden ab. „Ja, meinst du vielleicht, ich arbeite in der Gastronomie, weil mir das Spaß macht oder weil ich nix Vornehmes gelernt habe? Geschissen, du Blödmann. Ich habe vier Kinder von fünf Männer zu versorgen. So sieht es aus. Und wenn ich das nächste Mal von hinten, von der Theke, brülle ‚Zweimal Fritten mit Mayo fertig‘, dann kommt ihr euch der Scheiß gefälligst selbst abholen. Ist das klar? Und jetzt her mit die Verzehrkarte.“

Borowka reichte ihr eine Pappkarte, in die sie mit einem Gerät Löcher hineinknipste. Als sie wieder zurück zur Theke walzte, folgte Fredi ihr mit seinem Blick. „Also, das fehlt mir in Berlin total: so coole Läden wie Himmerich. Die gibt es nämlich in der ganzen Hauptstadt nicht. Weißt du, so Läden, wo super Mucke läuft und wo man zwischendurch auch mal abhängen und eine Kleinigkeit essen kann. In Berlin gibt es nur so geleckte Clubs mit schwule Kellner, wo man bloß Cocktails mit Gemüse drin trinken kann. Dabei wollen die immer Weltstadt sein.“

„Was ist denn jetzt mit Benni Bärenstark?“, fragte Borowka ungeduldig.

„Ja, okay. Punkt für dich. Darkwing Duck.“

„Scheiße“, Borowka schlug sich mit der Hand vor die Stirn, „dass ich da nicht viel eher drauf gekommen bin! Meine Fresse, Fredi. Du bist immer noch gut in Form. Spielst du das in Berlin auch immer?“

„Leider nicht. Ich habe bis jetzt noch keinen gefunden, der da Bock drauf hatte.“

Borowka steckte sich drei Pommes auf einmal in den Mund. „Sag mal, Fredi, hast du eigentlich nie drüber nachgedacht, wieder zurückzukommen nach Saffelen? Also, jetzt nicht nur wegen Himmerich oder das Spiel hier.“

Fredi betrachtete nachdenklich seinen Teller. „Ja klar, manchmal schon. Ich hab mich zwischendurch immer mal einsam gefühlt. Aber dann ist mir wieder eingefallen, warum ich hier wegwollte …“

Borowka nestelte unbehaglich an seiner weißen Lederkrawatte und unterbrach ihn: „Das wollte ich dir sowieso noch gesagt haben. Das mit Martina und ihr neuer Lover, das war mir so rausgerutscht. Der ist aber wirklich ein absoluter Vollhorst, der Typ.“

Fredi machte eine wegwerfende Handbewegung, bevor er eine Pommes in den Mund steckte. Kauend sagte er: „Ach Blödsinn. Im ersten Moment ärger ich mich zwar immer noch, aber das ist schnell vergessen. Martina ist überhaupt kein Thema mehr für mich.“

Du weißt ja auch noch nicht alles, dachte Borowka. Er sagte aber nichts, sondern ließ Fredi weitererzählen.

„Einer der Hauptgründe, für dass ich nach Berlin gegangen bin, war mein Vater. Ich wollte dem einfach mal beweisen, dass ich es auch ohne fremde Hilfe zu was bringe. Alles, was ich gemacht hatte, war dem nie gut genug. Der hat immer gesagt, ich soll mir mal ein Beispiel nehmen an mein Vetter Dietmar. Hier, der Sohn von dem sein Bruder.“

„Das Aschloch aus Brüggelchen?“

Fredi nickte. „Der Dietmar hat BWL studiert in Köln und arbeitet da jetzt in eine ganz angesehene Werbeagentur. Der bringt da, glaube ich, die Post rum. Dem hat mein Vater immer bewundert. Und jetzt? Jetzt mach ich in Berlin Karriere und mein Alter macht still und heimlich der Abgang.“

Borowka wusste nicht, was er sagen sollte. Solche Gesprächssituationen überforderten ihn. Sobald es um Gefühle ging, verspürte er eine Art Fluchtreflex. Rita wollte mit ihm auch dauernd über irgendwelche Gefühle reden. Immer, wenn sie so etwas morgens ankündigte, hatte Borowka anschließend den ganzen Tag schlechte Laune in der Werkstatt. Über Gefühle reden fand er fast noch schlimmer als zu Ikea fahren. Aber mit Fredi war das natürlich was anderes. Hier ging es darum, seinem Kumpel eine moralische Stütze zu sein oder ihn zumindest von seiner Trauer abzulenken. Zum Glück fiel ihm genau das Richtige ein. „Gundel Gaukeley“, sagte er.

„Mist“, Fredi schlug sich auf den Oberschenkel, „und ich dachte, wir hätten Entenhausen schon komplett durch. Von Micky Maus bis Kater Karlo.“

„Entenhausen ist groß“, triumphierte Borowka. „Ich denke, das war’s. Da sind mal wieder zwei Asbach-Cola fällig auf dein Deckel.“

„Von wegen. Ich sag nur: Woody Woodpecker.“

Borowka ärgerte sich. Während er angestrengt nachdachte, versuchte er, die Musik auszublenden, die aus der Disko herüberwehte. Eins konnte er nämlich noch schlechter als über Gefühle reden: verlieren. „Ich hab’s: Daffy Duck.“ Er klatschte vor Freude in die Hände. Jetzt war er sich sicher, dass Fredi nicht mehr reagieren konnte. Das Comic-Universum war komplett abgegrast.

Doch dann zeigte Fredi seine ganze Klasse. Während er genüsslich eine Pommes in den Mund schob, holte er zum vernichtenden Schlag aus: „Schweinchen Schlau!“

Borowka war sprachlos. Er wollte gerade aufgeben, als die Tür zum Bistro aufgerissen wurde. Tonne und Spargel, zwei der Kumpels vom Fußball, mit denen sie hierhergekommen waren, stürmten herein und bauten sich vor ihrem Tisch auf. Völlig außer Atem stieß Tonne hervor: „Hier seid ihr! Ihr müsst sofort kommen. Die Uetterather sind auf Ärger aus. Die haben eben der Udo mit volle Absicht angerempelt. Wir wollen denen jetzt mal der Scheitel gradeziehen. Fraggle, Matte, Kanister und der kleine Bruder von Manni Mertens sind auch mit dabei. Wir treffen uns in einer Minute vorm Hip-Hop-Zelt.“

„Sofort“, sagte Borowka, „aber zuerst müsst ihr mir noch gegen der Fredi helfen. Ich brauche noch ein Comic-Held, dem sein Vor- und Nachname mit derselbe Buchstabe anfängt. Aber nix mehr von Micky Maus, Fix und Foxi oder Bugs Bunny. Die haben wir alle durch.“ „Das ist doch einfach“, sagte Spargel, ohne zu zögern. „Hab ich letztens noch auf DVD gesehen.“ Fredi und Borowka sahen ihn gespannt an. Spargel genoss die Aufmerksamkeit und sagte siegessicher: „Bernhard und Bianca.“

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Freitag, 9. September 2011, 11.38 Uhr

Kommissar Kleinheinz hatte die Kirche vor allen anderen verlassen, um sich auf dem Friedhof in der Nähe der Grabstätte an einer Stelle zu postieren, von der er einen guten Überblick über alles hatte. Auch wenn die Mordtheorie aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein Hirngespinst war, so konnte es nicht schaden, die Augen offen zu halten. Gerade Beerdigungen eigneten sich oft für interessante Beobachtungen. Er wäre allerdings ohnehin gekommen, schließlich hatte Fredi Jaspers ihn sogar persönlich eingeladen, inklusive anschließendem Beerdigungskaffee in der Gaststätte von Harry Aretz. Zeit hatte Kleinheinz mehr, als ihm lieb war, aber das musste er ja keinem auf die Nase binden. Auch wenn es ihm ein wenig unangenehm war, dass er Will und Marlene gegenüber nicht ganz aufrichtig gewesen war. Der Kommissar befand sich nämlich keineswegs in einem freiwilligen Urlaub, sondern war von seinem Vorgesetzten kaltgestellt worden. Aufgrund der negativen Prognose des Polizeiarztes war Kleinheinz bis auf Weiteres krankgeschrieben. Dabei war er sich sicher, dass er längst wiederhergestellt war, von kleineren Panikattacken mal abgesehen. Immerhin hatte er mit dem Polizeiarzt, der früher sein Badminton-Partner gewesen war, vereinbart, dass der ihn nur aus medizinischen Gründen, nicht aber aus psychologischen Gründen krankschrieb. Andernfalls hätte er nämlich seine Dienstwaffe abgeben müssen.

Wie in alten Tagen hatte Kleinheinz seinen Beobachtungsposten bezogen. Er lehnte an einer mächtigen Trauerweide und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Während er auf das Ende der Messe wartete, ließ er den bisherigen Verlauf des Vormittags noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Die Messe selbst war relativ unspektakulär gewesen, auch wenn die Kirche zum Bersten voll war. Die Predigt war zwar feierlich, aber leider konnte man nicht jeden Satz verstehen, den Pastor Kuttrapalli zu formulieren versuchte. Der Organist hatte sich redlich Mühe gegeben und sich nur hin und wieder verspielt, wenn er den Diaprojektor bedienen musste, mit dem die Zahlen vom Liederzettel an die Kirchenwand geworfen wurden. Ein kleiner Höhepunkt war vielleicht der Saffelener Kirchenchor gewesen, der ein passables Ave Maria intoniert hatte und aufgrund fehlender Englischkenntnisse ein weniger gelungenes Time to Say Goodbye. In der Kirche hatte Kleinheinz die Angehörigen des Toten unter die Lupe genommen. Wer gab sich wie oder verhielt sich irgendwie auffällig? Aber alles wirkte so normal, wie es unter diesen Umständen eben möglich war.

Lautes Glockengeläut riss den Kommissar aus seinen Gedanken und kündigte zugleich den Leichenzug an, der in wenigen Minuten hier eintreffen würde. Denn von der Kirche bis zum Friedhof waren es nur wenige Meter. Kleinheinz machte sich bereit. Die strahlende Sonne verströmte eine unverschämte Heiterkeit, die so gar nicht recht zu der traurigen Prozession passen wollte, die sich jetzt langsam über den Friedhof schlängelte. Angeführt wurde sie vom indischen Pastor, der von zwei aknegeplagten Messdienern flankiert wurde. Dann folgte der robuste Eichensarg von Theo Jaspers, der von sechs Männern getragen wurde. Die Männer in den schwarzen Anzügen waren alle etwa im gleichen Alter wie der Verstorbene. Möglicherweise handelte es sich um Vereinskameraden, mutmaßte Kommissar Kleinheinz, der sogar meinte, den penetranten Geruch von Old-Spice-Rasierwasser bis zu seinem Platz neben der Trauerweide riechen zu können. Die Gesichter der Sargträger wirken allerdings eher ernst als traurig. Womöglich dachten sie gerade darüber nach, dass genauso gut sie jetzt in dieser schweren Holztruhe liegen könnten. Theo Jaspers hatte nämlich kein bisschen ungesünder gelebt als sie alle. Hinter dem Sarg schleppte sich Fredi Jaspers mit schwerem Schritt und versteinerter Miene voran, sehr damit beschäftigt, seine schluchzende Mutter zu stützen. Die stattliche Menschenschlange dahinter wurde angeführt von Ortsvorsteher Hastenraths Will nebst eingehakter Gattin, die Kleinheinz heimlich zuwinkte, als sie ihn erblickte. Der Kommissar hatte Will zunächst gar nicht erkannt, weil der über seiner üblichen grauen Arbeitshose und dem grün-weißen Hemd einen langen schwarzen Mantel trug, der fast bis zum Boden reichte. Dennoch meinte Kleinheinz, darunter Gummistiefel auszumachen. Seine grüne Schirmmütze, die schon wie festgewachsen schien, hatte der Landwirt ausnahmsweise durch einen schwarzen Sonntagshut ersetzt.

Der Pastor erreichte die Grabstätte, neben der ein riesiger Berg Erde aufgeschüttet war. Darauf sah man die Reifenspuren des Minibaggers, der wohl am Vortag zum Einsatz gekommen war. Neben dem Loch, über das zwei Bretter gelegt waren, wartete der hoch aufgeschossene, hagere Mann vom Bestattungsunternehmen, der mit seinem langen, dunklen Mantel und dem altmodischen Zylinder auf dem Kopf so gruselig wirkte wie ein Totengräber aus dem Wilden Westen. Mit stoischer Miene wies er den Sargträgern ihre Plätze links und rechts der Grube zu. Pastor Kuttrapalli nahm mit seinen Messdienern Aufstellung neben einem Eimer voller Blumen, die aber vermutlich bei Weitem nicht ausreichen würden für die Menschenmenge, die sich teilweise noch hinter dem Eingangsportal auf der Straße drängelte. Kleinheinz hatte den Eindruck, dass ganz Saffelen auf den Beinen war, um Theo Jaspers die letzte Ehre zu erweisen. Vielleicht waren aber auch einige einfach nur neugierig und wollten erfahren, was es mit dem ominösen Liebesschwur auf dem Sterbebett auf sich hatte, der sich in Windeseile im Dorf verbreitet hatte. Und wer weiß, wer sonst noch vorbeischauen würde. Kleinheinz jedenfalls nahm die Anwesenden sehr genau in Augenschein. Einige kannte er. Etwa Heribert Oellers, den cholerischen Besitzer des Autohauses Oellers, bei dem Richard Borowka und früher auch Fredi beschäftigt waren. Borowka war natürlich ebenfalls unter den Trauernden, zusammen mit seiner Frau Rita und seinen Eltern und Schwiegereltern sowie einer seltsamen Schar, die offensichtlich Fredis ehemaligem Fußballverein angehörte. Bei dieser Gruppe war die Auswahl der Trauergarderobe am wenigsten geglückt. Es wimmelte von Hochwasserhosen, ungeputzten Schuhen und zu kurz gebundenen Krawatten. Es schien, als hätten sich Wickie und die wilden Männer auf diese Veranstaltung verirrt. Doch niemand störte sich daran. Auf Höhe des Eingangsportals erkannte Kleinheinz noch Peter Haselheim, den Rektor der Grundschule, der mit seiner Frau und einigen Lehrerkollegen gekommen war – unter anderem mit einer relativ attraktiven, brünetten Dame, die etwas fremd und nicht so recht dazugehörig wirkte. Kleinheinz machte sich eine Notiz, obwohl es eigentlich nicht nötig war, da er über ein hervorragendes fotografisches Gedächtnis verfügte. Gesichter oder besondere Merkmale, die er sich einmal eingeprägt hatte, konnte er noch Wochen später zweifelsfrei zuordnen.

Vor dem Eingangstor stoppte ein Wagen. Auf der Beifahrerseite stieg eine junge Frau aus, die Kleinheinz sehr bekannt vorkam. Sie ging um das Auto herum, beugte sich zum Fahrer hinunter und küsste ihn. Nachdem der Wagen wieder losgefahren war, reihte die Frau sich in die Schlange ein. Jetzt hatte Kleinheinz sie erkannt. Es handelte sich um Martina Wimmers, die Exfreundin von Fredi.

Das leise Gemurmel der Prozession verstummte, als vom Grab her seltsame Geräusche erklangen. Kleinheinz sah hinüber und stellte fest, dass der indische Pastor angefangen hatte, zu sprechen. Und zwar wegen des Besucherandrangs durch eine Art Sprechfunkgerät, das durch eine große Box verstärkt wurde, die ein Messdiener an einer Stange hochhielt. Der schlechte Klang der Box machte aus der ohnehin schwer verständlichen Sprache von Kuttrapalli ein groteskes Klangexperiment. Während dieser außergewöhnlichen Performance wies der Bestatter die Träger an, den Sarg mit den bereitliegenden Gurten anzuheben. Dann zog er die beiden Bretter heraus und die Männer ließen den Sarg langsam in die Gruft gleiten. In dem indisch-deutschen Kauderwelsch fiel plötzlich der Name „Wilhelm Hastenrath“ und der Ortsvorsteher trat nach vorne, um sich neben den Pastor zu stellen. Er wird doch wohl nicht, dachte Kleinheinz. Doch noch bevor er seinen Gedanken zu Ende gedacht hatte, hatte Will schon das Sprechfunkgerät ergriffen und mit seiner unverkennbar rauen Stimme hineingehustet. Nach dem Abklingen der obligatorischen Rückkopplung begann er zu sprechen: „Liebe Trauergäste und Trauer… öhm … Trauerfrauen. Wir haben uns heute hier versammelt, für ein Mann die letzte Ehre zu erweisen, der viel für unser Dorf getan hat. Theo Jaspers hat sein Leben lang hart gearbeitet und so weiter. Das hat Pastor zwar eben in seine Predigt auch schon alles erzählt, aber ich denke, nicht jeder hat das verstanden. Gerade die Auswärtigen haben sich ja noch nicht an dem sein komischer Akzent dran gewöhnt. Aber ich möchte diese Gelegenheit auch benutzen, für hier mal öffentlich in meine Funktion als Pfarrgemeinderatsvorsitzender eine Lanze zu zerbrechen für der Pastor Kuttratrapalli, oder wie der heißt, hier neben mir.“ Jovial legte Will dem Gottesmann die Hand auf die Schulter, der dazu breit grinste. „Dieser Mann“, fuhr Will fort, „ist gebürtig aus Mumbai bei Bombei. Und der hatte es bestimmt nicht leicht, nachdem der vor einem Jahr hier dem sein komischer Vorgänger abgelöst hat – Rodrigo Gonzales. Der war ja mit vier Kirchengemeinden total überfordert und wollte so schnell wie möglich zurück nach Afrika. Aber ich glaube, mittlerweile hat unser indischer Freund sich sehr gut eingelebt in unsere Gemeinde. Ich hatte zwar am Anfang auch starke Vorbehalte, aber ich denke, der Protestbrief ans Bistum war nur eine kleine Überreaktion von mir. Denn man darf nicht vergessen: Gerade als Indier hat man es nicht leicht, wenn man aus ein Entwicklungsland in ein modernes südeuropäisches Land kommt. Aber zurück zu Theo Jaspers, wegen dem Sie ja alle hier sind. Abgesehen von die, die nur hier sind, für zu gucken, wer sonst noch hier ist, beziehungsweise die ganzen Ommas, die sowieso zu jede Beerdigung gehen. Das alles soll aber heute egal sein. Wir verneigen uns in diesem Moment vor Theo Jaspers, der bekannt war für sein nicht ganz jugendfreier Humor und seine lockeren Sprüche, vor allem, wenn der was getrunken hatte. Und in diesem Sinne, lieber Theo, möchte ich dir zum Abschied dein Lieblingssatz zurufen: Halt die Ohren steif!“

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Freitag, 9. September 2011, 12.06 Uhr

Der Inhaber und Namensgeber der Gaststätte Harry Aretz hatte den großen Saal feierlich für den Beerdigungskaffee hergerichtet. Die schweren Holzstühle hatte er mit einem feuchten Lappen abgewischt, die Biertische mit Krepppapier umwickelt und die Aschenbecher ausgeleert. Kleine gedrehte Pappröschen verliehen dem Anlass einen würdevollen Rahmen. Harrys extra engagierte Aushilfskellnerinnen waren unter der Anleitung der alten Haudegen Dirk und Dose dabei, die Tische mit dem guten Geschirr einzudecken und die Alufolie von den Tabletts mit den aufgetürmten belegten Brötchen zu entfernen. Zwischen den mit Käse belegten und mit Mett geschmierten Brötchenhälften standen Kuchenplatten mit einer ansprechenden Auswahl feinster Sahnetorten. Es war für alles gesorgt und Anneliese Jaspers hatte ganz offensichtlich an nichts gespart. Lediglich der Zigarettenqualm, der schwer in der Luft lag, irritierte Peter Kleinheinz, als er zusammen mit Hastenraths Will und einem ganzen Schwung Besucher als Erster den Saal betrat. Er deutete auf das Kellnerpersonal, wovon fast jeder rauchte, und fragte: „Gilt in der Gastronomie nicht schon längst ein Rauchverbot?“

Hastenraths Will zog seinen schwarzen Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenhaken neben der Tür. Darunter kam tatsächlich sein übliches Outfit zum Vorschein: das karierte Hemd, die graue Arbeitshose mit den zerfransten Hosenträgern sowie die Gummistiefel. Aus der Innentasche seines Mantels fummelte er eine Zigarre heraus, die er sich mit großer Geste anzündete, bevor er antwortete: „In der Gastronomie vielleicht. Aber doch nicht hier in Saffelen, bei Harry Aretz. Das wär ja noch schöner. Wir lassen uns doch nicht von die da oben vorschreiben, wie wir unsere Freizeit verbringen sollen. Jedenfalls nicht so lange, wie ich Ortsvorsteher bin. Komm, wir setzen uns was an die Theke, bis die anderen kommen.“ Kleinheinz folgte ihm zum Tresen, wo sie auf Barhockern Platz nahmen. Direkt neben ihnen machte ein Merkur-Spielautomat ziemlichen Lärm. Davor saß ein pausbäckiger Mann mit rötlichem Haarkranz, der mit seiner Hand immer dann das mittlere Sichtfeld zuhielt, wenn die Rollen mit den Glückssymbolen rotierten. Dazu musste er seinen kurzen Arm ganz durchstrecken, weil sein Bauch einen natürlichen Abstand zum Spielgerät herstellte. Auf einer Ablage neben dem Automaten standen ein überquellender Aschenbecher und ein Glasstiefel voller Bier, an dem der Mann zwischendurch hoch konzentriert nippte.

„Was wollt ihr trinken?“, fragte ein mürrischer Harry Aretz, ohne aufzusehen, während er fachmännisch mehrere Biergläser unter dem Strahl der Zapfanlage vorbeiwandern ließ.

Will überlegte kurz. „Für mich ein Herrengedeck und für der Peter hier …“ „Für mich bitte ein Wasser“, sagte Kleinheinz schnell. Erst jetzt hob Harry den Kopf und runzelte die Stirn. „Diiirk“, brüllte er quer durch den Saal, „guck mal nach, ob wir noch eine Kiste Wasser im Keller haben!“

Fredi Jaspers hatte seine Mutter in die Obhut ihrer Freundinnen, der katholischen Strickfrauen, gegeben und sich Borowka und Rita angeschlossen, mit denen er nun den Saal betrat. „Wie geht es dir, Fredi?“, fragte Rita ernsthaft besorgt und legte ihm mütterlich die Hand auf die Schulter. Die Ehefrau von Richard Borowka war für ihre Verhältnisse dezent geschminkt. Lediglich der pinke Nagellack auf ihren falschen Fingernägeln wirkte etwas deplaziert. Ansonsten trug sie ein schwarzes Kostüm und hatte ihre blonde Dauerwellenmähne züchtig zusammengesteckt. Borowka und Fredi trugen schwarze Anzüge und waren sich auf dem Weg in die Kneipe vorgekommen wie die Men in Black. Da sie von ihren Fußballkollegen begleitet wurden, war auch die Illusion von menschgewordenen Aliens perfekt. Fredi hatte seinen Anzug vor vielen Jahren anlässlich eines Tanzkursus gekauft, zu dem er von Martina überredet worden war. Er hatte ihn bisher nur ein einziges Mal getragen, da er sich gleich in der ersten Stunde einen Bänderriss zugezogen hatte. Fredi fühlte sich einigermaßen unwohl in dem Anzug, weil er seit damals knapp fünf Kilo zugenommen hatte. Er erweiterte unauffällig seinen Gürtel um ein Loch, während er Rita antwortete: „So lala. Ich mein, so auf dem Friedhof war das natürlich noch mal so richtig schlimm. Aber jetzt geht es schon wieder. Und in die letzten Tage war ich ja fast nur damit beschäftigt, die Beerdigung zu organisieren. Aber Mutter geht es nicht besonders gut.“

„Fredi, auch ein Bier? Ich hol mal eine Runde für die Jungs. Helf mir mal tragen, Rita“, kommandierte Borowka.

„Ja klar“, antwortete Fredi, „ein Bier ist jetzt genau das Richtige. Ich geh mal nach hinten zu mein Onkel.“

Borowka hob den Daumen und zog Rita an der Hand hinter sich her zur Theke. Er postierte sich neben Hastenraths Will, weil er dort die besten Aussichten vermutete, vom eifrig zapfenden Harry Aretz bemerkt zu werden. Der Ortsvorsteher schien in ein sehr wichtiges Gespräch mit Kommissar Kleinheinz vertieft zu sein, denn die beiden hatten die Köpfe eng zusammengesteckt und tuschelten angeregt miteinander. Borowka schlug dem Landwirt auf die Schulter und sagte anerkennend: „Sehr gute Rede!“ Will und Kleinheinz zuckten hoch und sahen den Vorstopper der Saffelener Fußballmannschaft überrascht an. Kleinheinz konnte trotz des Lobs für die Grabrede keinerlei Ironie in Borowkas Stimme erkennen. Dafür fielen ihm ein Pflaster auf dessen Stirn und eine aufgeplatzte Lippe auf. „Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?“, fragte er interessiert.

Borowka tippte mit seinem Finger leicht aufs Pflaster. „Ach das. Nix Besonderes. Wir hatten gestern in Himmerich eine kleinere Meinungsverschiedenheit mit die Uetterather. Die waren der Udo doof gekommen. Das haben die aber nachher eingesehen. Wenn Sie wissen, was ich damit andeuten will.“ Borowka lachte dreckig. Rita verdrehte die Augen. „Komm, bestell und lass der Herr Kleinheinz in Ruhe. Du siehst doch, dass der sich mit der Will am unterhalten ist“, drängte sie ihren Mann.

„Ja, ja“, Borowka drehte sich zur Theke. „Harry, mach uns mal zwölf Mal Herrengedeck und eine Asbach-Cola für mich als Wegzehrung bis hinten.“ Borowka lachte wieder dreckig und Rita verdrehte erneut die Augen.

Kleinheinz wandte sich zurück an Will und dämpfte wieder seine Stimme: „Okay, ich geb zu, dass die Sache mit Theo Jaspers und dieser Julia ein wenig seltsam klingt, aber zum einen ist das schon so lange her und zum anderen war Theo wahrscheinlich nur unglücklich verliebt. So was kommt vor.“

„Ja sicher“, flüsterte Will, „aber du hast selbst gesagt, dass der Selbstmord genauso gut ein …“

„Psst“, unterbrach Kleinheinz ihn. „Ich hab dir doch jetzt schon mehrmals gesagt, dass das einfach nur so dahergeredet war. Es gibt überhaupt keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen. Außerdem habe ich Urlaub und mein Chef erzählt mir was anderes, wenn ich mit einer dreißig Jahre alten Geschichte ankomme.“

„Ach, wer redet denn von dein Chef? Wir können uns die Sache doch erst mal selber angucken. Ich habe mir schon was überlegt. Morgen gehen wir mal unverbindlich zum Altenheim hier in Saffelen. Da lebt die Mutter von Julia. Die ist zwar alt, aber noch gut dabei. Die kann uns bestimmt …“

„Will, jetzt mal langsam.“ Kleinheinz legte ihm die Hand auf den Arm. „Du kannst doch eine alte Frau nach all den Jahren nicht mit solchen Sachen konfrontieren. Die hat auf tragische Weise ihre Tochter verloren. Die möchte ihre Ruhe haben, glaub mir das.“

„Wie gesagt, Peter. Ich habe mir da gestern viele Gedanken drüber gemacht. Und dabei sind mir ein paar Sachen von früher eingefallen, die dich bestimmt interessieren. Hör dir das erst mal an und dann kannst du entscheiden, ob wir zum Altenheim fahren oder nicht. Was meinst du?“

Kleinheinz rieb sich das Kinn. Die Sache gefiel ihm überhaupt nicht. Es war nie gut, alte Geschichten aufzuwärmen. Auf der anderen Seite musste er zugeben, dass ihn der Fall, wenn es denn einer sein sollte, schon reizte. Sein Chef und der Polizeiarzt hatten ihn aus dem Verkehr gezogen, weil sie ihm zurzeit keine Ermittlungsarbeit zutrauten. Aber denen würde er es zeigen. Kommissar Kleinheinz gehörte noch lange nicht zum alten Eisen. Und deshalb antwortete er nach kurzem Zögern: „Okay, Will. Erzähl mir, was du weißt. Aber nicht hier. Hier sind mir entschieden zu viele Leute. Außerdem wird mir schlecht von dem ganzen Qualm. Lass uns ein paar Meter an der frischen Luft gehen.“

„Sehr gut“, Will sprang erfreut auf, „dann kann ich dir bei der Gelegenheit auch was zeigen.“

Borowka war froh, dass die beiden Geheimniskrämer endlich gingen, denn Harry Aretz hatte das Tablett mittlerweile komplett mit Gläsern zugestellt. Es würde nicht leicht werden, es durch den immer voller werdenden Saal zu tragen. Als Borowka das Tablett gerade mit ausgestrecktem Arm über den Kopf gehoben hatte und Rita sich darum kümmerte, ihm eine Schneise durch die Menschenmenge zu schlagen, traf ihn fast der Schlag. Er sah, wie am gegenüberliegenden Ende des Saals Martina Wimmers auf Fredi zusteuerte, der am Tisch saß und sich angeregt mit seinem Onkel Heinz aus Brüggelchen unterhielt. Als Borowka dann noch mitansehen musste, wie Martina Fredi von hinten auf die Schulter tippte, geriet er in Panik. Er nahm das Tablett runter und drückte es der verdutzten Rita in die Hände, die große Mühe hatte, die überschwappenden Gläser auszubalancieren. Aufgebracht schrie sie: „Sag mal, geht’s noch, Richard?“

Doch Borowka war schon verschwunden. Schubsend bahnte er sich einen Weg durch die Trauergäste. Er musste um jeden Preis verhindern, dass Martina zum ersten Mal seit fast zwei Jahren wieder mit Fredi sprach. Denn das, was sie ihm zu sagen hatte, würde seinen besten Kumpel in eine tiefe Krise stürzen. „Aus dem Weg, ihr Aschlöcher“, rief er und rempelte dabei versehentlich Pastor Kuttrapalli an, der mit einem lauten unverständlichen Fluch auf den Lippen spektakulär zu Boden ging.

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