Buch lesen: «Die Geliebte des Mörders», Seite 2

Schriftart:

Der Fremde
2

Freitag, 5. Juni, 9.30 Uhr

Der Regenschauer hatte Marlene Hastenrath voll erwischt, als sie sich auf halber Strecke zwischen Parkplatz und dem Eingang der Kreisverwaltung befand. Der Regen war so plötzlich und heftig auf sie niedergeprasselt, dass sie nicht mal mehr die Chance gehabt hatte, ihre Regenhaube aus der Handtasche zu ziehen. Nun stand sie triefend im Foyer des Kreishauses und sah sich um. Auf einer halbrunden Theke erblickte sie ein Schild mit der Aufschrift „Information“ und gleich daneben ein weiteres, auf dem stand: „Bin auf dem Klo“. Marlene seufzte und ging zum Ständer mit den Prospekten, der sich gegenüber der Theke befand. Sie zog ein dünnes Heftchen aus dem Ständer, auf dem in riesigen Lettern zu lesen war: „Herzlich willkommen in der Freizeitregion Heinsberg“. Doch noch bevor sie es aufschlagen konnte, rief eine rauchige Stimme hinter ihr: „Kann ich Ihnen helfen?“

Marlene fuhr herum. Die Stimme gehörte nicht, wie erwartet, einem Mann, sondern einer stark geschminkten Mittfünfzigerin, die zwar lächelte, aber das ohne jede Mimik. Ihre Stirn war glatt wie ein Babypopo und der Mund mit den sehr roten Lippen erinnerte Marlene unwillkürlich an den Joker aus Batman. Während die Frau das „Bin auf dem Klo“-Schild mit einer schnellen Bewegung unter der Theke verschwinden ließ, trat Marlene an die Theke und nestelte an ihrer Handtasche, in der sich die Unterlagen befanden. Noch bevor sie den Hefter aus dem Gewirr von Taschentüchern, Labellos mit und ohne Deckel, Bürstchen, Nagelfeile, Kopfschmerztabletten und klebrigem Bonbonpapier herausgefischt hatte, betrat ein ebenfalls vom überraschenden Regenschauer heimgesuchter Mann das Foyer und zog ob seines außergewöhnlichen Kleidungsstils sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Er trug eine graue, gewagt enge Anzughose, einen der Jahreszeit nicht angepassten Rollkragenpullover, glänzende Lederschuhe und um den Hals einen Kaschmirschal. Mit seiner geraden Körperhaltung machte er einen fast schon aristokratischen Eindruck. Marlene, die wie die Frau hinter der Theke zu ihm hinübersah, hätte sich nicht gewundert, wenn er auch noch einen Zylinder auf dem Kopf gehabt hätte.

Offenbar hatte sie ihn etwas zu lange gemustert, denn plötzlich sah der Mann auf und kam auf sie zu. Marlene grinste verlegen und der Mann grüßte mit einem kurzen, aber freundlichen Nicken zurück, bevor er ebenfalls an den Informationsschalter trat. Der Mann verströmte einen markanten Duft. Es musste sich um ein sehr exklusives Parfüm handeln, mutmaßte Marlene, denn es war ein exotischer Geruchsmix aus Moschus, Weihrauch und Vanille. Marlene fand das recht ungewöhnlich für einen normalen Mann und es erinnerte sie daran, später noch bei dm oder Aldi vorbeizufahren, um für Will einen neuen Deoroller zu kaufen. Die Frau hinter der Theke hustete laut ab.

Sie nahm ein Glas Wasser, in das sie aber auch hineinhusten musste, nachdem sie es angesetzt hatte. Das Wasser spritzte in alle Richtungen. Marlene war das egal, sie war sowieso nass. Der Mann hingegen schaute pikiert. Mit einer freundlichen Geste ließ er Marlene den Vortritt und zog sich an den Ständer mit den Broschüren zurück. Mittlerweile hatte die Frau hinter der Theke abgehustet. Mit einem Lächeln, das man als verlegen interpretieren konnte, entschuldigte die Frau sich: „Tut mir leid, ich bin ein bisschen erkältet. Aber jetzt bin ich für Sie da. Mein Name ist Gaby Frings, was kann ich für Sie tun?“

„Guten Tag, mein Name ist Marlene Hastenrath. Ich bin aus Saffelen. Ich bin die Frau von Hastenraths Will, dem Ortsvorsteher von Saffelen und ich wollte frägen …“

„Der Bauer, der immer die Kriminalfälle löst?“, fiel Frau Frings ihr ins Wort. „Das gibt’s doch gar nicht! Meine Schwägerin ist eine geborene Hermsmeier. Und der ihre Cousine hat einen Bekannten, der mal Fußball gespielt hat zusammen mit einem gewissen Herbert Frentzen. Und dieser Herbert Frentzen ist ein Schwippschwager von Schlömer Karl-Heinz aus Saffelen. Und der hat mal Geschichten erzählt von Hastenraths Will.“

Marlene nickte stolz. „Das ist richtig. Schlömer Karl-Heinz ist ein guter Freund von mein Mann.“

Frau Frings schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie klein doch manchmal die Welt ist.“ „Das stimmt wohl. Na ja, auf jeden Fall wollen wir demnächst eine kleine Frühstückspension auf unser Bauernhof eröffnen und da wollte ich Sie fragen, ob Sie die vielleicht in Ihr Programm mit aufnehmen könnten?! Sie haben doch bestimmt so eine Liste mit Hotelzimmer im Kreis Heinsberg.“

„Aber natürlich“, sagte Frau Frings, „das machen wir gerne.“ Sie nahm ein Formular aus der Schublade und erfragte ein paar Daten zu „Wills Wald- und Wiesenparadies“, die sie fein säuberlich notierte.

Marlene betonte mehrmals, dass dies jedoch noch nicht der endgültige Name sei, und zog ein engbeschriebenes DIN-A4-Blatt aus dem Schnellhefter, das sie Frau Frings über die Theke reichte. „Dann hätte ich noch eine Bitte“, sagte Marlene. „Ich hab hier mal zusammen mit mein Mann ein Textentwurf gemacht für ein Prospekt, das wir drucken lassen wollen. Wir sind aber nicht sicher, ob das alles gut ist. Vielleicht können Sie mir da noch ein paar Tipps geben.“

Frau Frings nahm das Blatt und überflog es mit zusammengekniffenen Augen. Dann begann sie halblaut vorzulesen: „Genießen Sie Urlaub auf der Bauernhof, mit alles, was dazugehört: muhende Kühe, dampfende Misthaufen und Trecker-Rundfahrten durchs Neubaugebiet. Erholung pur – fernab von jede Zivelesation und trotzdem weit genug weg von Holland. Erleben Sie Saffelen, der pulsierende Hotspot im Selfkant, günstig gelegen, für alle, die die Einsamkeit lieben. Bekannt geworden ist der kleine Ort am Saffelbach durch seine spektakulären Kriminalfälle, wovon Sie der berühmte Hobbydetektiv Hastenraths Will gerne höchstpersönlich abends am Lagerfeuer erzählen wird, Bluthochdrucktabletten inklusive. Falls Sie nach diese spannenden Geschichten überhaupt noch schlafen können, erwarten Sie komfortabel eingerichtete Gästezimmer mit schalldichte Klos.“

Frau Frings stockte. „Tschuldigung, was heißt das hier? Das kann ich nicht lesen.“

Marlenes Augen irrlichterten über das Blatt, bis sie die Stelle gefunden hatte, auf die Frau Frings zeigte. „Ach so, das. Ja, mein Mann neigt ein bisschen zu Übertreibungen. Der wollte, dass das was internationaler klingt. Das Wort heißt ‚Specials‘.“

„Ach so. ‚Specials‘ schreibt man nicht mit zweimal ‚S‘ ‚C‘ ‚H‘. Aber das ist egal. Über die Rechtschreibung lass ich am besten sowieso noch mal meine Kollegin drübergucken, die hat ein abgebrochenes Germanistikstudium. Kann ja nicht schaden. Sooo, was haben wir denn hier für ‚Specials‘? Kinder und Hunde sind herzlich willkommen, solang die sich benehmen. Genug Aschenbecher in jedes Zimmer. Langschläferfrühstück bis acht Uhr morgens. Einmal am Tag besteht die Möglichkeit, aus sichere Entfernung bei die Fütterung von Hofhund Attila zuzugucken. Und als besonderes Special – doppelt unterstrichen: billiger als ‚Pension Gansweidt‘ in Süsterseel und erst recht als ‚Bauer Hajos Erlebniswelt‘ in Brüggelchen.“

Frau Frings legte das Blatt zur Seite und runzelte die Stirn. „Ja, das hört sich doch schon mal sehr … interessant an. Ein paar Dinge sollte man vielleicht anders formulieren, aber ich hab ja jetzt Ihre Kontaktdaten. Ich würde vorschlagen, dass wir Sie anrufen, sobald wir den neuen Prospekt drucken. Da würde ich Sie dann auf jeden Fall mit reinnehmen. Toll wäre noch, wenn wir ein paar Fotos bekämen vom Hof und von den Zimmern.“

„Ach so ja, natürlich“, sagte Marlene. „Um die Fotos wollte Schwiegersohn sich kümmern, sobald der WLAN verlegt hat in die Gästezimmer. Der hat eine sehr gute Kamera … in sein Handy. Die lass ich Sie dann sofort zukommen. Also, die Fotos, nicht die Kamera. Dann bedanke ich mich und wünsch Sie noch ein schöner Tag.“

Marlene drehte sich um und ging erleichtert in Richtung Ausgang. Sie hätte niemals gedacht, dass es so aufregend sein würde, eine kleine Pension zu eröffnen. Schon die Gewerbeanmeldung in der Gemeindeverwaltung war reichlich kompliziert gewesen. Statt von einer „Pension“ hatte der Beamte die ganze Zeit von einem „Beherbergungsbetrieb mit Verpflegungsangebot“ gesprochen. Gut, dass Will nicht mit dabei gewesen war, dachte Marlene, der regt sich nämlich immer furchtbar auf über Behördendeutsch. Spätestens, seit er mal ein Schreiben erhalten hatte, in dem stand: „Bitte teilen Sie uns die Anzahl Ihrer Raufutter verzehrenden Großvieheinheiten mit.“ Es dauerte Tage, bis Will herausgefunden hatte, dass damit Kühe gemeint waren. Marlene stoppte. Vor der Drehtür, die ins Freie führte, standen jede Menge Leute und warteten. Draußen regnete es immer noch in Strömen. Marlene sah auf die Uhr und seufzte. Mit einem Mal stieg ihr wieder dieses betörende Parfüm in die Nase. Wie aus dem Nichts stand plötzlich der elegante Herr von vorhin neben ihr und sprach sie an: „Entschuldigen Sie bitte. Ich habe eben zufällig mitbekommen, dass Sie Fremdenzimmer vermieten. Kann das sein, dass ich Ihre Pension im Internet gesehen habe? ‚Wills Wald- und Wiesenparadies‘ in Saffelen?“

„Ja, das kann sein“, holte Marlene aus, „Schwiegersohn hat vor drei Wochen einfach eine Homepage angelegt, obwohl ich dem gesagt hatte, der soll damit noch warten. Vor allem, bis wir uns endgültig einig sind mit der Name für unsere kleine Pension. Ich fände ja viel passender so was wie ‚Westzipfelperle‘ oder ‚Haus Marlene‘ oder ‚Zum reißenden Saffelbach‘ oder so.“

Der Mann nickte interessiert. „Wie ist es denn in Saffelen so? Wissen Sie, ich suche einen einsamen Ort, wo ich in Ruhe arbeiten kann. Ich bin Schriftsteller.“

Marlene war entzückt. Konnte es sein, dass sie soeben von ihrem ersten Urlaubsgast angesprochen worden war? Und dann auch noch von einem echten Schriftsteller! Wie spannend! Dann konnte der Prospekttext ja so schlecht nicht sein. Sie sagte: „Ein einsamerer Ort wie Saffelen werden Sie nirgendswo finden.“

Freunde fürs Leben
3

Freitag, 5. Juni, 21.10 Uhr

Die dampfende Schüssel Spaghetti stand mitten auf dem Tisch und Sabrina schöpfte Borowka den Teller voll. „Lang zu, Richard. Jetzt, wo Rita weg ist, gibt es bestimmt nicht viel zu essen bei dir, oder?“, sagte sie.

Borowka schaufelte sich reichlich Hackfleischsoße aus dem danebenstehenden Topf über die Nudeln. „Doch, doch. Ich krieg genug. Ich helf der Will ja beim Renovieren und die Marlene kocht immer ordentlich. Ich mein, ich hätt sogar schon was zugenommen.“

„Apropos Renovieren“, warf Fredi Jaspers kauend ein. „Der alte Oellers ist stinksauer, weil du dich schon wieder wegen Husten zwei Wochen hast krankschreiben lassen. Der ist doch auch nicht doof. Der kriegt doch mit, dass du nebenbei bei der Will arbeitest.“

Fredi war wie sein bester Kumpel beim Autohaus Oellers beschäftigt. Während Borowka in der Werkstatt malochte, wenn er dann mal da war, hatte Fredi sich bereits zum Büroleiter hochgearbeitet. Darauf war er stolz, auch wenn neben ihm nur noch Fräulein Wallraven im Büro saß. Und deren Aufgabe bestand in Ermangelung anderer Qualitäten darin, an der Rezeption zu sitzen und die Kunden anzulächeln, die den Verkaufsraum betraten. Aber das war Fredi egal, er war zufrieden mit seiner beruflichen Situation. Und mit seiner privaten sowieso. Die Beziehung mit Sabrina, die er vor einigen Jahren in Berlin kennengelernt hatte bei einer Art Sabbatical und die sofort sein Leben auf den Kopf gestellt hatte, hatte ihn zu einem glücklichen und ausgeglichenen Menschen gemacht. Der einzige Wermutstropfen ihrer Liebe war, dass trotz schweißtreibender Bemühungen noch immer nicht Sabrinas sehnlicher Babywunsch in Erfüllung gegangen war. Das tat Fredi einerseits leid und kratzte auch ein wenig an seiner Mannesehre, andererseits war er sich aber auch alles andere als sicher, ob er überhaupt zum Vater taugen würde. Am Beispiel seines besten Kumpels erlebte er ja gerade hautnah, dass ein Kind auch eine große Belastung für eine Beziehung darstellen konnte.

„Der Oellers kann mich mal“, polterte Borowka, „der alte Sklaventreiber. Der wollte doch allen Ernstes, dass ich der Freitag nach Vatertag arbeiten komm! Wie soll das denn gehen mit drei Promille? Da darf der sich nicht wundern, wenn ich mir der gelbe Urlaubsschein hol.“ Borowka verschluckte sich vor Aufregung, fuhr dann aber etwas ruhiger fort: „Sag mal Fredi, warum bist du eigentlich Vatertag schon wieder nicht mitgekommen? Tonne und Spargel waren dabei, der bekloppte Richterich und selbst der Klosterbach auf seine alten Tage. Der hat sogar fast die ganze Strecke der Bollerwagen allein gezogen.“

Bevor Fredi antworten konnte, warf Sabrina spitz ein: „Weil der noch kein Vater ist!“

„Moment mal, Sabrina“, Borowka legte das Besteck beiseite, „da hast du aber was falsch verstanden. Es gibt Muttertag und es gibt Vatertag und an Vatertag …“

„Bei uns im Osten nicht.“

„Was? Wie, ihr hattet im Osten kein Vatertag? Das ist doch mit der wichtigste deutsche Feiertag.“

Sabrina verdrehte die Augen, weil sie eigentlich keine Lust auf eine solche Diskussion hatte. Da sie aber wusste, wie hartnäckig Borowka sein konnte, antwortete sie. „Bei uns wurde der Muttertag nicht gefeiert, weil der von den Amis erfunden worden war. Stattdessen hatten wir den Internationalen Frauentag. Und deshalb gab es auch keinen Vatertag, sondern einen sogenannten Herrentag. Da wurde zwar auch nur gesoffen, aber man musste dafür kein Vater sein – so wie hier.“

„Muss man ja hier bei uns auch nicht“, verteidigte Borowka seinen Standpunkt voller Inbrunst. „Das ist anders als wie bei Muttertag. Da dürfen wirklich nur Mütter dran teilnehmen, aber an Vatertag darf jeder Mann mitmachen, unabhängig von irgendseine Vaterschaft. Bei uns hier im Westen gilt nämlich das gleiche Prinzip wie bei der GEZ: Es ist nicht entscheidend, ob man Fernsehen guckt, sondern ob man ein Gerät besitzt, mit dem es theoretisch möglich wär, Fernseh zu gucken. Verstehst du?“ Borowka lachte dreckig.

Sabrina verzog das Gesicht. Um die Diskussion zu beenden, antwortete sie knapp: „Ich geh mal eben in den Keller, gucken, ob der Trockner schon fertig ist.“

Nachdem sie den Raum verlassen hatte, raunte Borowka seinem Kumpel zu: „Wie hältst du diese Besserwisserei bloß immer aus?“

Fredi wischte sich den Mund mit der Serviette ab und erwiderte: „Dass ihr euch immer streiten müsst. Du weißt doch genau, dass die Sabrina deine Witze nicht versteht. Aber was anderes. Du gefällst mir im Moment überhaupt nicht, Borowka. Du bist in letzter Zeit immer so nachdenklich. So kenn ich dich gar nicht. Der Tonne erzählte, dass du letztens nach dem Fußballtraining an der Theke sogar plötzlich angefangen hättest, über der Sinn vom Leben zu erzählen.“

Borowka putzte sich den Mund mit dem Ärmel ab. „Ja gut, da ging es sich aber um die Frage, ob das Leben mit ein Passat-Kombi überhaupt noch ein Sinn hat.“

Fredi sah ihm direkt in die Augen. „Richard, wenn ich dir irgendswie helfen kann, dann sag mir das bitte.“

„Echt jetzt?“

„Ja logisch, du bist mein bester Freund – und mein einzigster.“

Borowka atmete tief durch und sagte mit ernster Stimme: „Es gibt da wirklich was, wobei du mich unterstützen könntest. Das wär sehr wichtig für mich. Aber es könnte sein, dass du Ärger kriegst mit Sabrina, wenn die das rausbekommt.“

Fredi blickte sich verstohlen um, aber seine Freundin war noch im Keller. Er flüsterte: „Lass das mal meine Sorge sein. Raus damit. Wobei kann ich dich unterstützen?“

„Ich weiß nicht, ob ich das von dir verlangen kann.“

„Doch, natürlich!“

„Hoch und heilig versprochen?“

„Versprochen. Hoch und heilig!“

Fredi saß schlecht gelaunt auf dem Beifahrersitz, während Borowka mit Schwung rückwärts aus dessen Einfahrt zurücksetzte. „Das find ich super, dass du heute Abend spontan mit mir nach Himmerich, in die Disko fährst, und das, obwohl Sabrina extra eine DVD für ein romantischer Videoabend besorgt hat. Ich glaub, die war stinksauer, oder? Wieso schmeißt man sonst ein Teller gegen die Wand?“

Fredi hielt die Arme verschränkt vor der Brust und antwortete: „Halt die Fresse und fahr.“

„Fredi, jetzt stell dich nicht so an. Das wird super“, rief Borowka euphorisiert. „In Himmerich ist heute 90er-Party. Das war unser Jahrzehnt. Da lassen wir es nochmal richtig krachen! Die Jungs vom Fußball sind auch alle da.“

Borowka setzte mit dem Auspuff auf, als er über den Bürgersteig auf die Straße fuhr. Dann drückte er das Gaspedal voll durch, ließ die Reifen quietschen und jagte durch das abendliche Saffelen. Nachdem sie das Ortsschild passiert hatten, musste er wegen der dahinterliegenden Schikanen noch mal kurz abbremsen. Er umkurvte sie mit schlafwandlerischer Sicherheit und beschleunigte sofort wieder. Nach der nächsten Kurve musste er allerdings schon wieder vom Gas gehen, weil ihm in einiger Entfernung auf der Gegenfahrbahn ein dunkler Mercedes C-Klasse entgegenkam. „Oh, Mann“, entfuhr es Borowka, „was für eine piefige Karre. Kackbraun und dann allen Ernstes Stahlräder. Von Kronprinz. Ich kack ab. Das ist garantiert kein Saffelener. Wer so ein Hausfrauenpanzer käuft, müsste erschlagen werden.“

„Ich find der Auto gar nicht so schlecht“, widersprach Fredi, der sich wieder beruhigt hatte und sich insgeheim auch schon auf Himmerich freute. „Der hat ein Kompressor-Vierzylinder. Der macht richtig Druck im sechsten Gang. Und trotzdem ist der sparsam. Tolle Schaltung, super Sitze, 1A Federkomfort. Das ist, wie wenns du zu Hause auf dem Sofa sitzt. Ich würde sagen, der ist bequem und sportlich.“

Borowka blickte zweifelnd zu seinem Kumpel hinüber. „Sag mal, hast du Schmieröl gesoffen oder was? Ich glaub, du hast zu oft danebengestanden, wenn der alte Oellers wieder ahnungslose Kunden Schrottkarren angedreht hat. Kein normaler Mensch setzt sich in so eine Oppa-Karre … außer Oppas.“

„Ist ja gut“, lenkte Fredi ein. „In eins geb ich dir recht: Das kann kein Saffelener sein.“

Neugierig geworden, drosselte Borowka sein Tempo, um den Mercedes langsam zu passieren. Als die beiden Autos auf gleicher Höhe waren, reckte er den Kopf, um einen Blick in den Innenraum zu werfen. Er erspähte zwei Personen. Der Beifahrer war zwar von einem Schatten verdeckt, aber dafür erkannte er den Fahrer umso deutlicher. Es handelte sich um ein vertrautes Gesicht aus alten, aber nicht unbedingt besseren Zeiten.

Fredi, der von seinem Platz aus nichts hatte sehen können, fragte neugierig: „Und? Konntest du der Typ erkennen?“

„Allerdings“, antwortete Borowka mit tonloser Stimme, „und dass der nach Saffelen kommt, bedeutet nix Gutes.“

Ein alter Bekannter
4

Freitag, 5. Juni, 21.40 Uhr

Der wohltemperierte Weinbrand rann Wills Kehle hinunter. „Es geht doch nix über ein Glas Dujardeng nach ein getanes Tagwerk“, sprach der Landwirt zu sich selbst, während er seine Beine auf dem Hocker vor seinem Ohrensessel lang ausstreckte. Heute hatte er die Arbeiten an den Gästezimmern offiziell beendet. Die Betten waren aufgebaut, die Fernseher installiert und der Wasserschaden behoben. Zur Belohnung hatte sich Will diesmal sogar einen „Dujardin Fine Cognac“ aufgemacht, die edle Cognac-Ausführung seines Lieblingsweinbrands Dujardin Imperial. Er strich mit dem Daumen über das „V.S.O.P.“-Siegel am Flaschenhals. Wofür die Abkürzung genau stand, wusste Will nicht. Schlömer Karl-Heinz behauptete immer, das hieße „very super old Plörre“, aber das glaubte der Landwirt nicht. Denn Plörre war sein Lieblingsgetränk nun wahrlich nicht. Im Gegenteil, Dujardin Fine wurde aus französischen Weinen aus der Charente gebrannt. Und nur ein Weinbrand, der aus dieser Region stammt, durfte sich auch Cognac nennen. Will nahm einen weiteren Schluck aus seinem Schwenker, der erst durch das korrekte, leichte Anwärmen in der Handfläche seinen ganz speziellen rund-milden Geschmack entfaltete. Nicht so wie Anfänger-Weinbrände, die vor allem durch ihr süßlich-seifiges Nachbrennen unangenehm auffielen. Eine leichte Schärfe fand man beim Dujardin allenfalls vorn an der Zungenspitze, aber nicht wie bei anderen Vergleichs-Spirituosen lange nachbrennend im Abgang. Will verstand gar nicht, dass dieser edle Feierabendtropfen ein bisschen aus der Mode gekommen war und teilweise sogar als Altherrengetränk verspottet wurde – oft sogar von selbst ernannten Hipstern, die sich für die Coolsten hielten, um sich dann am Wochenende mit Jägermeister zuzuschütten. Ausgerechnet Jägermeister! Das Gesöff, mit dem die Omma früher nach dem üppigen Weihnachtsessen immer ihre Verdauung angeregt hatte und mit dem alte Männer am Kiosk ihr verpfuschtes Leben zu ertränken versuchten. Nein, Will ließ sich sein Lieblingsgetränk nicht schlechtreden. Das flüssige Gold schlängelte sich wie ein kleiner, ruhiger Fluss durch seinen Hals, als er noch einen Schluck nahm. Es war so bekömmlich, dass man es auch in großen Schlucken wie ein Bier oder einen Kaffee nebenher trinken konnte, wenn man denn ein unkultivierter Bauer wäre. Will stellte das Glas auf seinem Wohnzimmer-Kacheltisch ab und grunzte vor Vergnügen. Die Fernbedienung zappelte erwartungsfroh in seiner Hand, seine Frau machte im Keller die Wäsche und die Flasche Dujardin war noch drei viertel voll. Nichts würde jetzt noch seine Entspannung stören können. Dachte er! Doch plötzlich bimmelte es an der Haustür, wobei diese Formulierung nicht annähernd das ohrenbetäubende Lärmgewitter beschreiben konnte, das regelmäßig durch die Betätigung der Türklingel ausgelöst wurde. Die Lautstärke war so eingestellt, dass man sie bis auf den Hof und in die entlegenen Stallungen hören konnte. Der Nachteil daran war, dass man in unmittelbarer Nähe der Türglocke, und das Wohnzimmer lag direkt neben der Haustür, Gefahr lief, einem Herzinfarkt zu erliegen. Erschrocken fuhr Will aus seinem Sessel hoch. Nachdem er sich gesammelt und die Weinbrandspritzer aus seinem Hemd gerieben hatte, lief er auf seinen löchrigen Socken zur Tür.

„Wer zum Teufel …?“ Der Satz, den Will immer brüllte, wenn er die Haustür aufriss, sollte ungebetenen Gästen signalisieren, dass sie nicht auf allzu große Gastfreundschaft hoffen durften. Denjenigen allerdings, die dem knorrigen Landwirt nahestanden, war dieser Empfang längst zu einer Art lieb gewonnenem Begrüßungsritual geworden. So wie dem Mann, der vor der Tür stand: Peter Kleinheinz. Die Gesichtszüge des Hauptkommissars waren härter geworden, das Haar an den Schläfen grauer. Doch der entschlossene Gesichtsausdruck und der stechende Blick machten deutlich, dass er sich trotz der schlimmen Schicksalsschläge, die ihn ereilt hatten, nicht vom Leben hatte unterkriegen lassen.

In Wills Magengegend rumorte es. Zwei Seelen kämpften in seiner Brust. Einerseits freute er sich, einen Menschen wiederzusehen, mit dem er so viel durchgemacht hatte, der ihm das Leben gerettet hatte und dem er am Ende sogar das Du angeboten hatte. Auf der anderen Seite war er maßlos wütend auf Kleinheinz, weil der nach den furchtbaren Ereignissen vor drei Jahren spurlos verschwunden war, ohne ein Wort, ohne einen letzten Gruß. Einfach so. Auch wenn Will nicht viel von Freundschaften hielt, eine Art Erklärung zum „Warum“ hatte er doch erwartet nach dieser intensiven und schweren Zeit. Zumindest auf ein Lebenszeichen hatte er gehofft. Aber das bekam er ja gerade, und zwar in voller Größe. „Peter?!“ fragte er ungläubig.

„Will!“ Kleinheinz öffnete die Arme und obwohl Will sich innerlich zunächst dagegen sträubte, erwiderte er die Umarmung. Sie fiel unerwartet lang und herzlich aus. Will spürte, dass er seinen Freund vermisst hatte. Das merkte er vor allem daran, dass er sogar bereit war, ihm zu verzeihen, was normalerweise nicht zu seinen herausragenden Charaktereigenschaften gehörte. Nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten und nach den richtigen Einstiegsworten suchten, war Will noch so überwältigt, dass er erst jetzt bemerkte, dass Kleinheinz nicht allein gekommen war. Neben ihm stand eine verängstigt wirkende junge Frau, die eine Sonnenbrille trug, und das, obwohl die Sonne gerade untergegangen war. Sie war in einen langen Mantel gehüllt, auch das ungewöhnlich für diese Jahreszeit, und ihr Haar war unter einem Seidentuch versteckt, sodass Will beim besten Willen nicht erkennen konnte, um wen es sich handelte.

„Ach so ja“, sagte Kleinheinz, als er Wills fragenden Blick bemerkte, „das ist Lilly Dinglmaier. Dürfen wir reinkommen?“

„Ja, ja natürlich“, antwortete Will hastig und öffnete die Tür ganz. „Ihr habt Glück. Ich habe mir gerade eine Flasche Dujardeng aufgemacht. Und zwar den Guten.“

Kleinheinz und die Frau folgten dem Landwirt ins Wohnzimmer. Nachdem Kleinheinz sich für sein plötzliches Abtauchen wortreich entschuldigt hatte und Will ihm großmütig vergeben hatte, berichtete der Kommissar, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Kurz nach den Vorfällen vor drei Jahren hatte er aus nahe liegenden Gründen den Dienst bei der Kreispolizeibehörde Heinsberg quittiert. Er hatte nur noch weggewollt und hatte die erstbeste Stelle angenommen, die sich ihm bot. So war er beim Landeskriminalamt Hessen gelandet, wo er nun seit einem Jahr in der Dienststelle für Zeugenschutzprogramme arbeitete. Und damit war er schon mitten im Thema. Die Dame, die neben ihm auf dem Sofa saß, befinde sich aktuell in eben diesem Programm und stehe zurzeit unter seinem persönlichen Schutz. Die Frau hatte den Mantel, das Haartuch und die Sonnenbrille mittlerweile abgelegt und Will stellte fest, dass sie ausgesprochen attraktiv war.

„Was ist denn ein Zeugenschutzprogramm?“, fragte Will mit ernster Miene.

„In erster Linie streng geheim“, antwortete Kleinheinz trocken. „Frau Dinglmaier hat eine neue Identität erhalten, weil sie vor Gericht als Kronzeugin ausgesagt hat. Da wir durch diese Aussage eine große kriminelle Vereinigung sprengen konnten, befindet sie sich infolgedessen in akuter Lebensgefahr. Meine Aufgabe und die meiner Kollegen ist es nun, für Frau Dinglmaiers Sicherheit zu sorgen und sie zunächst einmal an einem ruhigen Ort unterzubringen.“

„Und da bist du natürlich als Erstes auf Saffelen gekommen“, lachte Will.

„Nicht nur auf Saffelen, sondern speziell auf euch. Ihr habt doch jetzt gerade wunderschöne Gästezimmer eingerichtet, die aber noch nicht vermietet sind.“

„Woher weißt du das denn? Ich bin doch heute erst fertig geworden.“

Kleinheinz grinste. „Ich bin Polizist. Schon vergessen? Nein, im Ernst. Die Seite mit eurer Pension ist schon seit einer Weile online. Ich vermute mal, dein Schwiegersohn war so frei. Auf jeden Fall habe ich mir gedacht, das könnte die richtige Übergangslösung sein. Ich brauch nur zwei, drei Tage, um etwas zu regeln, dann sind wir hier wieder weg. Es gab da ein paar kleinere Probleme.“

Will hob die Augenbrauen. „Kleinere Probleme?“

Kleinheinz beugte sich vor und verfiel in einen leichten Flüsterton. „Das Programm für Lilly, also Frau Dinglmaier, war nach dem üblichen Prozedere angelaufen. Wir hatten ihr neue Urkunden und Pässe besorgt, eine Wohnung, einen Job, aber die ganze Sache ist aufgeflogen und die Mafia hätte sie fast erwischt. Der Typ, den sie hinter Gitter gebracht hat, ist eine Riesennummer in Frankfurt. Der hat mächtige Freunde.“

„Sehr mächtige Freunde“, ergänzte Lilly, die bisher schweigend danebengesessen hatte. Will lief ein kalter Schauer den Rücken herunter.

Kleinheinz nickte wie zur Bestätigung und fuhr fort: „Für so ein Kaliber ist es kein Problem, seine Jungs aus dem Knast heraus zu dirigieren. Normalerweise ist so ein Zeugenschutzprogramm aber wasserdicht. Deshalb muss es in diesem Fall einen Maulwurf in unseren Reihen gegeben haben. Ich habe daraufhin als Leiter der Operation entschieden, dass wir den Schutz von Frau Dinglmaier nur noch auf einen ganz engen Kreis von Mitwissern beschränken. Außer mir gibt es nur noch drei Beamte, die in den Fall involviert sind. Und für alle drei lege ich meine Hand ins Feuer. Bis wir wissen, wo wir sie letztlich unterbringen, würde ich gerne mit ihr hierbleiben.

Ich habe alle Spuren verwischt, die uns betreffen. Hier wird uns also niemand vermuten. Das Wichtigste ist jetzt: Allerhöchste Geheimhaltung! Aus diesem Haus darf nichts nach draußen dringen. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Wo ist Marlene?“

Will verstand, worauf der Kommissar hinauswollte. „Die ist im Keller und macht die Wäsche“, sagte er. „Du hast recht. Wir sollten ihr eine andere Geschichte auftischen. Zum einen macht die sich nur wieder unnötig Sorgen und zum anderen könnten wir das sonst auch gleich in die Tageszeitung setzen. Was hältst du davon, wenn wir sagen, dass die Frau Dinglmaier deine Verlobte ist und du die der schöne Selfkant zeigen willst? Und dass du uns als alter Freund hier besuchst, dürfte ja keinen wundern im Dorf.“

Kleinheinz sah über seine Schulter und Lilly nickte ihm mit einem angedeuteten Lächeln zu. Der Kommissar rieb sich kurz übers Kinn und meinte: „Warum nicht? Außerdem fällt mir auch nichts Besseres ein.“

Will erhob sich und rief mit seinem tiefen Bass nach seiner Frau. Es dauerte nicht lang und Marlene schnaufte mit einem vollen Wäschekorb die Kellertreppe hinauf. Als sie den Kommissar erblickte, ließ sie den Korb fallen und schlug sich die Hände vor die Wangen. „Das gibbet doch gar nicht. Bist du das wirklich, Peter!“, presste sie hervor, während ihre Augen feucht wurden.

Kleinheinz ging auf sie zu und umarmte sie herzlich. „Hallo Marlene, wir wollten euch besuchen kommen.“

„Wer ist denn wir?“ fragte Marlene irritiert, bevor ihr Blick auf Lilly fiel, die auf dem Sofa sitzengeblieben war.

Kleinheinz stellte die beiden Damen einander vor. „Lilly, das ist Marlene. Marlene, das ist Lilly Dinglmaier, meine Verlobte. Wir wollten ein paar Tage bei euch bleiben, quasi als Hoteltester.“

Marlene drückte die junge Frau an ihre mächtige Brust und sagte: „Das freut mich aber. Der Peter ist ein ganz besonderer Mann. Der hat es verdient, wieder glücklich zu sein!“ Sie ließ los und Lilly holte Luft. „Dann kommen Sie doch gleich mal mit nach oben, Frau Dimpflmoser. Ich zeig Sie die Zimmer. Noch können Sie sich das Schönste aussuchen.“

8,99 €