Buch lesen: «Drachenwispern», Seite 7

Schriftart:

15

»In Position!«, bellte der grobschlächtige Trainer den Befehl.

Gehorsam ging Elynia leicht in die Knie und nahm ihre Kampfhaltung ein, während sie das Holzschwert leicht schräg vor sich hielt. Seit über einer Woche war sie nun schon in Celion, doch keiner der anderen Rekruten wechselte häufiger ein Wort mit ihr als nötig. Man tat vielmehr so, als wäre sie gar nicht existent. Denn es war genauso, wie sie erwartet hatte. Sie alle waren Krieger. Und ein Krieger respektierte nur andere, die entsprechende Taten vollbrachten. Zunächst hatte sie geglaubt, mit ihren Kampffertigkeiten das Wohlwollen der anderen erringen zu können, doch dann war ihr als einzige kein Novize der magischen Sektion zugeteilt worden. Nach dieser öffentlichen Herabwürdigung ihrer Soldatenehre war für die anderen klar gewesen, dass sie keine Kämpferin war, die Respekt verdiente und nichts, was sie tat, konnte diese Meinung ändern. Das Training in Celion war härter, als sie erwartet hatte. Es bestand aus stundenlangen Übungen, bei denen sie den Umgang mit Schwert, Dolch, dem Bogen und Äxten perfektionierten, unzähligen Unterweisungen im unbewaffneten Kampf und zahlreichen Geländeübungen. Doch Elynia durfte nur vor der Mittagsstunde an der Ausbildung teilnehmen, weil die Zeit danach dem gemeinsamen Reifeprozess der anderen Krieger mit ihren Partnern diente. Die anderen ließen sie ihre Häme bei jeder Gelegenheit spüren und der hünenhafte Mensch, Sain, sprach offen davon, dass sie wahrscheinlich nur als Kanonenfutter gedacht war. Die Rekruten verbrachten so viel Zeit wie möglich mit ihren Novizen und so blieb Elynia nichts anderes übrig, als alleine in ihrem Zimmer zu lesen oder weiter zu üben. Aber jetzt stand eine helle Morgensonne am Himmel und alle Rekruten hatten sich um den kleinen Kampfplatz im dritten Innenhof ihrer Kaserne, wie sie ihren Ausbildungsort nach militärischer Gewohnheit nannten, obwohl er sich nicht vom Rest Celions unterschied, versammelt, da sie heute paarweise Übungskämpfe absolvieren sollten, um ihren aktuellen Kenntnisstand zu testen.

»Beginnt!«

Elynia und ihr Widersacher begannen sich langsam zu umkreisen. Ihr Gegner war einer der Zwerge, dessen Namen sie sich nicht hatte merken können. Aber er stach unter seinen Artgenossen heraus, weil sein Bart nicht schwarz war, wie bei den anderen, sondern eine feuerrote Färbung hatte. Sie beobachtete seine Bewegungen genau. Weil man ihnen eine freie Waffenwahl überlassen hatte, war der Zwerg nicht mit einem schlanken Holzschwert ausgestattet, so wie sie, sondern mit der massiven Nachbildung einer Streitaxt. Auch ansonsten unterschied sich sein Kampfstil völlig von dem ihren. Elynia hatte sich über Jahre eine unglaubliche Geschmeidigkeit angeeignet und bewegte sich schnell und lautlos wie eine Katze. Der Zwerg hingegen ließ bei jedem Schritt Staub aufwirbeln und seine Bewegungen wirkten grob und eckig. Elynia hatte ihn bereits bei Übungen gesehen und wusste, dass seine Stärke allein in der Kraft lag. Und offensichtlich nicht in der Geduld, denn kaum dass sie eine Vierteldrehung vollführt hatten, schien ihm das Umkreisen zu langweilig zu werden und mit einem wilden Schrei ließ er die Axt einmal um den Kopf kreisen, bevor er sie auf Elynia hinabsausen ließ. Sie war darauf vorbereitet und wehrte den Schlag mit Leichtigkeit ab, obwohl die Wucht sie leicht in die Knie gehen ließ. Sie hätte der Attacke auch problemlos ausweichen können, doch die Wucht des Schlages hätte den Zwerg wohl mit sich zu Boden gerissen und diese Schmach wollte sie ihm ersparen, da er zwar auch nicht mit ihr redete, jedoch als Einziger ab und zu ein herzliches Lächeln für sie übrig hatte. Daher ließ sie ihn ein paar Mal zuschlagen, ohne selbst einen Gegenangriff zu starten, und parierte nur seine Schläge. Allerdings durfte sie dieses Spiel nicht zu weit treiben, denn der Zwerg war stärker als sie, und es kostete Elynia eine nicht unerhebliche Menge Kraft, zu parieren, und es würde den Augen des Trainers nicht entgehen, wenn sie sich zurückhielt. Außerdem war dies ihre einzige Möglichkeit, sich bei den anderen etwas Respekt zu verschaffen, weshalb sie schon kurz darauf in die Offensive überging, auch wenn sie es bereute, dass ausgerechnet dieser Rekrut ihr Opfer war. Sie wartete seine nächste Attacke ab, ließ die Axt an ihrem Holzschwert abgleiten, sodass sie sich in den Boden bohrte und sprang direkt vor den Zwerg. Mit einer raschen Drehung um die eigene Achse gelangte sie hinter ihn und legt ihm ihr Schwert an die Kehle.

»Tot!«

Unter den Umstehenden brach leises Gemurmel nach dieser Machtdemonstration aus und der Trainer erklärte den Kampf für beendet. Die Kontrahenten verließen den Ring und machten somit Platz für das nächste Paar. Elynia stellte sich etwas abseits zu den anderen. Aber anders als sonst blieb sie nicht allein, denn der Zwerg gesellte sich mit einem warmen Lächeln auf den Lippen zu ihr.

»Das war ein guter Kampf«, donnerte er anerkennend, ehe er sich tief verbeugte und fortfuhr, »Stiglitz Steinarm, stets zu Diensten. Mir ist es egal, was die anderen sagen oder dass man euch keinen Novizen zugeteilt hat. Denn es ist ein ungeschriebenes Gesetz im Kjarzgebirge, aus dem ich stamme: Wer im Kampf besiegt wurde, schuldet seinem Gegner Respekt und wenn dieser es verlangt, so muss er sich den Bart stutzen und fortan in Schande leben. Außerdem sagte ich doch bereits im Speisesaal, dass ich gerne einmal auf einen Humpen Met bei dir vorbeikomme.« Elynia lachte herzlich, teils aus Überraschung darüber, dass er so freimütig mit ihr sprach, aber hauptsächlich aus unendlicher Dankbarkeit darüber, von ihm nicht wie eine Aussätzige behandelt zu werden.

»Behaltet euren Bart, Meister Stiglitz, denn ohne ihn würdet ihr lächerlich aussehen! Außerdem wäre es nicht klug, sich einen zum Feind zu machen, der eine Axt mit solcher Wucht führen kann«, beruhigte sie ihn munter. Die gute Stimmung des Zwerges hatte sie angesteckt und sie genoss es, die Feinheiten der Fehler der anderen während des laufenden Kampfes mit ihm detailliert zu erörtern und die einzelnen Manöver zu bewerten. Das erste Mal, seit sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie wirklich das Gefühl, erwünscht zu sein. Es dauerte bis zum frühen Nachmittag, ehe alle Kämpfe beendet waren und so hatte sie lange Zeit, sich mit Stiglitz zu unterhalten, doch dann kehrte die Zeit der Einsamkeit zurück, als die anderen sich wieder zu ihren Novizen begaben und Elynia alleine zurückblieb. Sie beschloss, zunächst zum großen Saal zu gehen, um sich etwas zu essen zu besorgen. Auf ihrem Weg wurde sie von einer Elfe abgefangen. Elynia sah in die grünen Augen, die sie abschätzig musterten und wartete darauf, dass die Elfe ihr sagte, was sie wollte.

»Rekrutin Elynia?«, fragte die Elfe in gelangweiltem Ton, der verriet, dass es sich nicht wirklich um eine Frage handelte.

Sie nickte.

»Der Kommandant möchte dich sprechen, komm mit!« Neugierig folgte sie der Elfe, die rasch vorauslief, ein wehendes Bündel schwarzer Haare hinter sich herziehend. Sie hatte die Elfe noch nie zuvor gesehen, aber das Abzeichen auf ihrer Kleidung besagte, dass sie wohl schon länger in Celion weilte als Elynia. Sie wurde durch einige wenige Gänge geführt, bis zu einer massiven kleinen Holztür. Die Elfe klopfte dreimal kräftig gegen das Holz.

»Bring sie herein«, ertönte von drinnen eine mürrische Stimme.

Die Elfe öffnete die Tür und bedeutete Elynia einzutreten. Als diese durch den Türspalt getreten war, fiel die Tür wieder hinter ihr ins Schloss und sie war alleine mit Kommandant Olk, der auf einem Stuhl hinter einem Schreibtisch saß, der völlig überladen war mit Briefen, Karten und anderen Dokumenten. Ansonsten bestand der Raum nur aus Regalen, die bis zur Decke mit Skripten gefüllt waren. Der Kommandant schrieb in krakeliger Schrift irgendetwas auf ein Papierstück, was Elynia überkopf nicht erkennen konnte. Sie stand stramm und wartete. Erst nach einer beträchtlichen Zeit sah der Kommandant auf und bedachte sie mit nachdenklichem Blick.

»Ich will ehrlich mit dir sein, Rekrut. Deine Kampffertigkeiten stehen außer Frage und du bist eine gefährliche Kämpferin, aber ich glaube trotzdem nicht, dass du hier richtig bist«, erklärte er ernst, »Allerdings hat sich eine neue Möglichkeit ergeben, wie du dich beweisen kannst. Tatsächlich scheint es, als wäre noch ein letzter Rekrut unterwegs nach Celion. Allerdings ist er wohl in einige Schwierigkeiten geraten und die Meisterin, welche ihn eskortieren soll, hat um Hilfe vom Militär gebeten. Um unsere Hilfe. Deshalb habe ich einen Vorschlag. Du reitest noch heute los und spürst den Novizen und Meisterin Lian auf, dann geleitest du sie sicher hierher. Das wird nicht einfach werden, denn der Weg, den er nehmen muss, ist äußerst schwierig und gefahrenreich und allein mit Kampfesmut wirst du scheitern. Wenn du dich als würdig erweisen und Erfolg haben willst, musst du Schläue beweisen. Du musst spontan auf neue Situationen reagieren und darfst nicht so rücksichtslos kämpfen, wie du es alleine tun würdest. Denn sonst wird der Novize sterben. Wenn du aber all die Hindernisse überwindest und ihn sicher hierhergeleitest, werde ich meine Einwände gegen dich vergessen und du wirst seine Partnerin.«

Elynia konnte nicht anders, als zu lächeln, so sehr freute sie sich darüber, endlich eine Aufgabe zu haben. Endlich war ihr ein Weg eröffnet, der sie wirklich zu einer der anderen machen würde. Daher verbeugte sie sich tief und sagte mit fester Stimme: »Vielen Dank, Sir! Ich werde Euch bestimmt nicht enttäuschen.«

Der Kommandant nickte zufrieden und entließ sie mit den Worten: »Pack alles ein, was du für richtig hältst, aber mach rasch. Ich erwarte, dass du dich in weniger als einer Stunde in den Ställen meldest. Ich werde eine Nachricht an Stallmeister Bitz schicken, damit er dir ein geeignetes Tier für die Reise heraussucht. Und denke immer daran, wenn du versagst, wirst du keine zweite Chance bekommen und darfst nicht nach Celion zurückkehren.«

Elynia nickte zackig. Dann wandte sie sich zur Tür, um zu gehen. Als sie diese gerade öffnen wollte, ertönte noch einmal die Stimme des Kommandanten hinter ihr: »Eins noch, Rekrut. Stirb nicht.«

Als sie vor die Tür trat, stand immer noch die andere Elfe da, die sie mit neuem Interesse musterte. Rasch wandte sich Elynia ab und ging den Gang hinunter.

16

Laut kratzte die Feder über das Pergament, während sie die Zeilen Zeichen um Zeichen erweiterte. Schließlich setzte sie einen Schlusspunkt und legte die Feder zur Seite. Dann las sie den Brief noch einmal durch.

»Verehrter Meister,

leider konnte ich seit meinem letzten Bericht keine weiteren Informationen über die Kampfkraft oder Führungspositionen der Aquiron erlangen. Daher wäre es zum jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich, bereits eine Aussage über ihre Stärke zu treffen. Dennoch ereignete sich jüngst etwas, was eines Berichtes wert ist. So habe ich erst kürzlich erfahren, dass entgegen unserer Annahme noch nicht alle Novizen und Rekruten Celion erreicht haben, sondern ein Novize noch auf seinem Weg hierher ist. Schon häufig hörte ich die Lehrmeister über diesen Novizen munkeln, doch sie geben sich äußerst verschlossen und sprechen nie aus, was sie wirklich denken. So viel jedoch ist sicher, etwas an ihm ist besonders. Es scheint daher durchaus ratsam, ihn für unsere Sache zu gewinnen oder ihn, falls er nicht die Wahrheit und Gerechtigkeit unserer Sache erkennt, zu beseitigen, um ein Risiko auszuschließen. Ich werde weiterhin alle Informationen und Gerüchte über ihn sammeln und Euch auf dem Laufenden halten, doch zunächst das wenige, was ich bereit in Erfahrung brachte: Es handelt sich um einen Menschenknaben, der wie die meisten Novizen im jungen Mannesalter ist. Und er reist alleine mit einer Schmiedemeisterin aus Celion. Allerdings baten die beiden um Unterstützung durch die Streitkräfte von Celion und es wurde erst heute ein Soldat ausgesandt, wenn auch nur eine junge Elfe. Glücklicherweise gelang es mir, einen Blick auf die geschickte Botschaft zu werfen, weshalb mir der Aufenthaltsort des Novizen bekannt ist. Er befindet sich im Moment an der Grenze des Murùn in der Nähe des Dorfes Aciqu. Leider kenne ich mich in diesem Gebiet nur wenig aus und kann nichts darüber sagen, wo ein Angriff am erfolgversprechendsten sein dürfte.

In der Hoffnung, dass Ihr wohlauf seid Eure treuergebene Schülerin.«

Sie rollte den Brief zufrieden zusammen und verstaute ihn sorgfältig in einer abschließbaren Schublade, um ihn noch am späten Abend losschicken zu können, ihn aber bis dahin vor neugierigen Augen zu schützen. Dabei fiel ihr Blick auf die Schriftrollen, die ihr Meister ihr mitgegeben hatte und die ebenfalls in dieser Schublade lagerten. Sie hatte schon lange nicht mehr darin gelesen. Nun streckte sie zögerlich die Hand danach auch. In diesem Moment ertönte ein Klopfen an der Tür. Beinahe erleichtert schob sie hastig die Schublade zu und verschloss sie sorgfältig. Dann begab sie sich zur Tür.

17

9. Zyklus des Sumonjahres

2. Die erste Schlacht

Sie alle waren frohen Mutes und brannten nur so vor Tatendrang, daher dachte kaum einer daran, einen ausgefeilten Plan zu entwerfen. Stattdessen schulterten sie ihre Waffen, um sich in den Kampf zu stürzen. Der Gedanke dahinter war denkbar einfach. Denn solange jeder auf die Weise kämpfte, die er seit jeher gewohnt war, war er auch am besten eingesetzt. Man zog also den Geschöpfen der Dunkelheit entgegen, ohne einander wirklich zu kennen. Nur kurze Zeit später erblickten sie am Horizont vor sich dichte Rauchschwaden, die von einem Dorf aufstiegen. Keiner von ihnen kannte die Ortschaft oder wusste, welche Art von Lebewesen dort hausten, doch ihnen allen war klar, dass solche Rauchschwaden nur entstanden, wenn ein Dorf niedergebrannt wurde. Und obwohl sie alle schon bei Kriegszügen selbst geplündert und gebrandschatzt hatten, verurteilten sie die Tat, hinter der sie die Truppen der Finsternis vermuteten, verwünschten ihre Gegner und verfielen regelrecht in Rage. Die Menschen preschten zuerst auf ihren Pferden vorweg in die Hüttenansammlung, dicht gefolgt von den Elfen, die beinahe so schnell zu rennen vermochten wie die Pferde der Menschen. Die Zwerge hingegen waren keine geübten Sprinter und trafen als letzte ein, während der Kampf schon in vollem Gange war. Man kämpfte erbittert gegen die Kreaturen der Finsternis, die hier nicht genauer beschrieben werden sollen, da selbst das Wissen um ihre Existenz ein schwaches Herz in den Wahnsinn treiben kann. Viele der Kreaturen fielen, doch ebenso viele Menschen verloren ihr Leben und so konnte keine Seite die Oberhand gewinnen. Die Wendung brachten erst die Äxte der Zwerge, deren Kampfeslust ebenso heiß wie die Essen ihrer Schmieden brannte und die ihre Kriegswerkzeuge mit todbringender Gewalt zu führen vermochten. Alsbald waren die Finsterlinge, wie sie ihre Gegner tauften, um ihre Namen nicht nennen zu müssen, aufgerieben und wurden bis auf das letzte Geschöpf erschlagen. Unter großem Jubel wurden sie wie Helden von den Dorfbewohnern gefeiert, die sich als Unholde herausstellten. Nur die Menschen zogen sich schon früh zurück, um ihre Toten zu betrauern.

Als der Abend hereinbrach, kippte die gute Stimmung. Der Hass der Zwerge gegen die Unholde obsiegte selbst gegen den Siegestaumel und sie beschworen die anderen, dass die Unholde zur Gefahr würden, wenn man sie am Leben lasse und sie erinnerten an geschändete Frauen und ermordete Kinder aus der Vergangenheit. Ein erneuter Streit erschütterte das junge Bündnis, in dem sich schnell zwei verhärtete Fronten bildeten, bestehend aus jenen, die die Vergangenheit hinter sich lassen wollten und die Finsterlinge als einzigen Feind sahen, und jenen, die auch an den Fehden der Vergangenheit festhalten wollten. Die Gegner einer Blutfehde mit den Unholden verließen alsbald das Dorf, da sie sich unter keinen Umständen mit Waffengewalt gegen die anderen stellen konnten. Die meisten der Zwerge jedoch blieben und auch einige Menschen und Elfen, die die Wichtigkeit ihres Bündnisses über das Leben einiger Unholde stellten oder die selbst noch eine Rechnung mit diesen zu begleichen hatten. Niemand schlief in dieser Nacht, denn sie war erfüllt von den Schreien der Unschuldigen, die kaltblütig niedergemetzelt wurden. Weder vor Frauen noch vor Kindern machte man Halt, Alt und Jung wurden gleichermaßen erschlagen. Es war ein Massaker. Und mit dem Blut der Unschuldigen, das die Erde tränkte, tat sich eine Kluft in der Gemeinschaft auf, die nicht mehr verheilen sollte.

36. Zyklus des Sumonjahres

3. Die Niederlage

Etliche Geplänkel hatte man inzwischen gewonnen und zahlreiche Dörfer vor den Finsterlingen gerettet. Und da sich auch ein Vorfall wie der im Dorf der Unholde nicht wiederholte, beruhigten sich die angespannten Gemüter wieder, auch wenn man sich gegenseitig nicht völlig traute. Doch die vielen kleinen Siege gaben den Truppen Selbstvertrauen und sie fühlten sich stark genug, sich ihrer eigentlichen Aufgabe zuzuwenden. Denn natürlich war ihnen klar, dass die Übergriffe auf die Dörfer den Finsterlingen lediglich zum Zeitvertreib dienten und sie die Gefahr nicht bannen konnten, selbst wenn sie jeden einzelnen dieser Angriffe zurückschlugen. Daher entschieden sie sich, die Finsternis selbst herauszufordern. So zogen sie mit all ihren Verbündeten direkt zum Herzen der Ödlande, wo sie die Armee des Feindes erwartete. Diesmal kämpften sie gemeinsam in einer geordneten Schlachtreihe, vorneweg eine Phalanx der Zwerge mit ihren großen Schilden und ihrer unbändigen Kraft, direkt dahinter die Bataillone der Menschen, bewaffnet mit Speeren und Schwertern und zum Schluss noch eine nicht endende Reihe elfischer Bogenschützen, deren Pfeile wie ein wilder Hornissenschwarm durch die Luft segelten. Es war eine beeindruckende Truppe, die es wohl mit jeder Armee hätte aufnehmen können. Doch auf das, was sie erwartete, waren sie nicht vorbereitet. Denn ein Feind kann noch so schrecklich sein, wenn er blutet, kann man ihn besiegen. Aber die Angst blutet nicht. Und sie ist der schlimmste Feind eines Soldaten. Die tapferen Krieger waren auf jeden Anblick vorbereitet gewesen und hätten wohl auch der abstoßenden Fratze eines Ungeheuers furchtlos getrotzt, doch ihr Feind war für sie unsichtbar. Sie waren in ein Meer aus absoluter Finsternis eingetaucht und konnten weder ihre Gegner noch ihre Freunde sehen. Selbst der undurchdringliche Schildwall der Zwerge war hier nutzlos. Denn der Feind griff von allen Himmelsrichtungen an und sogar von oben. Lautlos kam er heran und lautlos verschwand er auch wieder, niemals aber ohne vorher einen blutigen Tribut zu fordern. Und er tötete seine Gegner nicht einfach. Die Krieger standen hilflos in der Dunkelheit, doch ihnen wurde nicht einfach die Kehle durchtrennt. Völlig unvorbereitet traf sie plötzlich ein schneidender Schmerz und sie spürten ihren eigenen Arm zu Boden fallen, nicht länger Teil ihres Körpers. Die Kameraden verfielen in Panik und lösten ihre Schlachtordnung auf. In wilder Flucht stießen und schoben sie sich gegenseitig in den Tod bei dem Versuch, der Dunkelheit zu entrinnen. Doch über ihnen lag der Schatten des Todes und nur wenige sahen jemals wieder Tageslicht. Diejenigen, die dieser Hölle entkamen, versteckten sich klamm in Höhlen und Wäldern und hofften, dass der namenlose Schrecken sie nicht einholen mochte. Sie waren zu selbstsicher gewesen und so wurden sie besiegt. Der Aufstand scheiterte. Die Dunkelheit obsiegte und knechtete die Welt. Für zehn lange Jahre sollte sie unangefochten weiterherrschen und die Welt mit Grauen und Schrecken überziehen. Das Licht der Hoffnung, welches so unvermittelt mit der Gründung der Aquain aufgeflammt war, fiel in sich zusammen und drohte vollends zu erlöschen. Aber auch verängstigt und besiegt trennten sich die Gefährten nicht, denn das Erlebte konnten sie nur geeint verkraften und so versteckten sie sich gemeinsam.

13,99 €