Buch lesen: «Weihnachtsmärchen», Seite 2

Schriftart:

früheren Selbst. Er bestätigte alles, erinnerte sich an alles, freute

sich über alles und befand sich in der seltsamsten Aufregung.

Nicht eher als bis die fröhlichen Gesichter seines früheren Selbst

und das Antlitz Dicks verschwunden waren, dachte er daran,

daß der Geist neben ihm stand und ihn anschaute, während das

Licht auf seinem Haupt in voller Klarheit brannte.

»Eine Kleinigkeit war's doch«, meinte der Geist, »diesen

närrischen Leuten solche Dankbarkeit einzuflößen.«

närrischen Leuten solche Dankbarkeit einzuflößen.«

»Eine Kleinigkeit!« gab Scrooge zurück.

Der Geist bedeutete ihm, den beiden Lehrlingen zuzuhören, die s

ich gegenseitig mit Lobpreisungen Fezziwigs überboten; und als

Scrooge das getan hatte, sprach der Geist: »Nun, ist es nicht so?

Er hat nur ein paar Pfund irdischen Mammons hingegeben;

vielleicht drei oder vier. Ist das so der Rede wert, daß er solches

Lob verdient?«

29

»Das ist's nicht«, sagte Scrooge, von dieser Bemerkung gereizt

und wie sein früheres, nicht wie sein jetziges Selbst sprechend.

»Das ist's nicht, Geist. Er hat die Macht, uns glücklich oder

unglücklich, unsern Dienst zu einer Lust oder zu einer Bürde, zu

einer Freude oder zu einer Qual zu machen. Du magst sagen,

seine Macht liege in Worten und Blicken, in so unbedeutenden

und kleinen Dingen, daß es unmöglich ist, sie herzuzählen: was

schadet das? Das Glück, das er bereitet, ist so groß, als wenn es

sein ganzes Vermögen kostete.«

Er fühlte des Geistes Blick und schwieg.

»Was gibt's?« fragte der Geist.

»Nichts, nichts«, sagte Scrooge.

»Aber doch etwas, wie?« drängte der Geist.

»Nein«, sagte Scrooge, »nein. Ich möchte nur eben jetzt ein paar

Worte mit meinem Kommis sprechen. Das ist al es.«

Sein früheres Selbst löschte gerade die Lampen aus, als er

diesen Wunsch aussprach, und Scrooge und der Geist standen

wieder im Freien.

»Meine Zeit geht zu Ende«, sagte der Geist. »Schnel !«

Dieses letzte Wort war nicht zu Scrooge oder zu jemand, den er

sehen konnte, gesprochen, aber es wirkte sofort. Denn wieder

sah Scrooge sich selbst. Er war jetzt älter geworden -. ein Mann

in der Blüte seiner Jahre. Sein Ges icht hatte noch nicht die

schroffen, rauhen Züge seiner späteren Jahre, aber schon begann

es Anzeichen der Sorge und des Geizes anzunehmen. In seinem

Auge brannte ein ruheloses, habsüchtiges Feuer, das Zeugnis gab

von der Leidenschaft, die dort Wurzeln geschlagen hatte, und

zeigte, wohin der Schatten des wachsenden Baumes fal en

würde.

Er war nicht allein, sondern saß neben einem schönen jungen

Mädchen in Trauerkleidern. In ihren Augen standen Tränen, die

in dem Licht glänzten, das von dem Geist vergangener

Weihnachten ausströmte.

»Es ist ohne Bedeutung«, sagte sie sanft, »und für Sie von gar

»Es ist ohne Bedeutung«, sagte sie sanft, »und für Sie von gar

keiner. Ein anderes Götzenbild hat mich verdrängt; und wenn es

Sie in späterer Zeit trösten und aufrecht erhalten kann, wie ich es

versucht hätte, so habe ich keine Ursache zu klagen.«

»Welches Götzenbild hätte Sie verdrängt?« erwiderte er.

»Ein goldenes.«

»Dies ist die Gerechtigkeit der Welt!« sagte er. »Gegen nichts ist

sie so hart als gegen die Armut; und nichts tadelt s ie

unnachsichtiger als das Streben nach Reichtum.«

»Sie fürchten das Urteil der Welt zu sehr«, antwortete sie sanft.

»Al e Ihre andern Hoffnungen sind in der einen aufgegangen, vor

diesem engherzigen Vorwurf gesichert zu sein. Ich habe Ihre

edleren Bestrebungen eine nach der andern verschwinden sehen,

bis Sie ganz die eine Leidenschaft, die Gier nach Gold, erfül te.

Ist es nicht so?«

»Und wenn es so wäre?« antwortete er. »Wenn ich soviel klüger

geworden wäre, was dann? Gegen Sie bin ich nie anders

geworden.«

Sie schüttelte den Kopf.

30

»Bin ich anders?«

»Unser Bund ist alt. Er wurde geschlossen, als wir beide arm und

zufrieden waren, unser Los durch ausdauernden Fleiß verbessern

zu können. Sie haben sich aber verändert! Damals, als er

geschlossen wurde, waren Sie ein anderer Mensch.«

»Ich war ein Knabe«, sagte er ungeduldig.

»Ihr eigenes Gefühl sagt Ihnen, daß Sie nicht so waren, wie Sie

jetzt s ind«, antwortete sie. »Ich bin noch dieselbe. Das, was uns

Glück versprach, als wir noch ein Herz und eine Seele waren,

muß uns Unglück bringen, da wir im Geiste nicht mehr eins sind.

Wie oft ich und wie bitter dies gefühlt habe, will ich nicht sagen;

es ist genug, daß ich es gefühlt habe und daß ich Ihnen Ihr Wort

zurückgeben kann.«

»Habe ich dies jemals verlangt?«

»In Worten? Nein. Niemals.«

»Wie dann?«

»Durch ein verändertes Wesen, durch einen andern Sinn, durch

andere Bestrebungen im Leben und durch andere Hoffnungen -

in allem, was meiner Liebe in Ihren Augen Wert gab. Wenn alles

Frühere nicht zwischen uns geschehen wäre«, sagte das

Mädchen, ihn mit sanftem, aber festem Blicke ansehend,

»würden Sie mich jetzt aufsuchen und um mich werben? Gewiß

nicht!«

nicht!«

Er schien die Wahrheit ihrer Worte wider seinen Wil en

zuzugeben. Aber er tat seinen Gefühlen Gewalt an und sagte:

»Sie glauben nicht?«

»Gern glaubte ich es, wenn ich könnte«, sagte sie, »Gott weiß es.

Wenn ich eine Wahrheit wie diese erkannt habe, weiß ich, wie

unwiderstehlich sie sein muß. Aber sol ich glauben, daß Sie ein

armes Mädchen wählen würden, wenn Sie heute oder morgen

oder gestern frei wären, Sie, der selbst in den vertrautesten

Stunden al es nach dem Gewinn mißt? Oder sol ich mir

verhehlen, daß Sie gewiß einst sich getäuscht und bittere Reue

fühlen würden, weil Sie für einen Augenblick Ihrem einzigen

leitenden Grundsatz untreu werden? Nein, und deswegen gebe

ich Ihnen Ihr Wort zurück: wil ig und um der Liebe dessentwillen

der Sie einst waren.«

Er wol te sprechen, aber mit abgewendetem Gesicht fuhr sie fort:

»Vielleicht - der Gedanke an die Vergangenheit läßt es mich fast

hoffen - wird es Sie schmerzen. Eine kurze, sehr kurze Zeit, und

Sie werden dann die Erinnerung daran fallenlassen, wie die

Gedanken an einen nichtigen Traum, aus dem zu erwachen ein

Glück für Sie war. Möge Sie alles Glück auf dem gewählten

Lebensweg begleiten!«

Sie schieden.

Sie schieden.

»Geist«, sagte Scrooge, »zeig mir nichts mehr, führ mich nach

Hause. Warum erfreust du dich daran, mich zu quälen?«

»Noch einen Schatten«, rief der Geist aus.

»Nein«, rief Scrooge. »Nein. Ich mag nichts mehr sehen. Zeig

mir nichts mehr.«

31

Aber der erbarmungslose Geist hielt ihn mit beiden Händen fest

und zwang ihn, zu betrachten, was als nächstes geschah.

Sie befanden sich an einem andern Ort, in einem Zimmer, nicht

sehr groß oder schön, aber voller Behaglichkeit. Neben dem

Kamin saß ein schönes junges Mädchen, das der, die Scrooge

soeben gesehen hatte, so ähnlich war, daß er glaubte, es sei

dieselbe, bis er diese, jetzt eine stattliche Matrone, der Tochter

gegenüber sitzen sah. In dem Zimmer war ein wahrer Aufruhr,

denn es befanden sich mehr Kinder darin, als Scrooge in seiner

Aufregung zählen konnte; und hier betrugen sich nicht vierzig

Kinder wie eins, sondern jedes Kind wie vierzig. Die Folge

davon war ein Lärm sondergleichen; aber niemand schien sich

darüber aufzuregen. im Gegenteil, Mutter und Tochter lachten

herzlich und freuten sich darüber, und die letztere, die sich bald in

die Spiele mischte, wurde von den kleinen Schelmen gar

grausam mitgenommen. Was hätte ich darum gegeben, eines

grausam mitgenommen. Was hätte ich darum gegeben, eines

dieser Kinder zu sein, obgleich ich nie so ungezogen gewesen

wäre! Nein, nein! Für al e Schätze der Welt hätte ich nicht diese

Locken zerdrückt und zerwühlt; und diesen lieben, kleinen Schuh

hätte ich nicht entwendet, selbst um mein Leben zu retten. Im

Scherz ihre Taille zu messen, wie die dreiste junge Brut tat, hätte

ich nicht gewagt aus Furcht, mein Arm würde zur Strafe krumm

und nie wieder gerade wachsen. Und doch, wie gern, ich gestehe

es, hätte ich ihre Lippen berührt; wie gern sie ausgefragt, damit

sie s ich geöffnet hätten; wie gern hätte ich die Wimpern dieser

niedergeschlagenen Augen betrachtet, ohne ein Erröten

hervorzurufen; wie gern dieses wogende Haar gelöst, von dem

eine einzige Locke ein unschätzbares Andenken gewesen wäre:

kurz, wie gern hätte ich das kleinste Vorrecht eines dieser

Kinder gehabt, mit der Bedingung, Manns genug zu bleiben, um

seinen Wert zu fühlen.

Aber jetzt wurde ein Klopfen an der Tür laut, was einen so

allgemeinen Ansturm hervorrief, daß sie mit lachendem Gesicht

und zerknülltem Kleid in der Mitte eines lärmenden Haufens nach

der Tür gedrängt wurde, dem Vater entgegen, der nach Hause

kam in Begleitung eines mit Weihnachtsgeschenken beladenen

Mannes. Aber nun das Geschrei und das Gedränge und der

Sturm auf den verteidigungslosen Träger! Wie sie an ihm auf

Stühlen hinaufstiegen, in seine Taschen guckten, die

Papierpäckchen raubten, an seiner Halsbinde zupften, an seinem

Halse hingen, ihm auf den Rücken trommelten oder an die Beine

stießen - alles in unwiderstehlicher Freude! Dann die Ausrufe der

stießen - alles in unwiderstehlicher Freude! Dann die Ausrufe der

Verwunderung und des Frohlockens, mit denen der Inhalt jedes

Päckchens begrüßt wurde! Die schreckliche Kunde, daß das

Kleinste ertappt worden sei, wie es die Puppenbratpfanne in den

Mund gesteckt und wohl gar das hölzerne Huhn samt der

Schüssel hinuntergeschluckt habe! Die große Beruhigung, als

man entdeckte, daß es falscher Alarm gewesen war! Die Freude

und die Dankbarkeit und das Entzücken! Dies alles übertrifft alle

Beschreibung. Es muß genügen, zu wissen, daß die Kinder und

ihre Freunde endlich aus dem Zimmer kamen und über eine

Treppe in den obersten Stock hinaufgingen, wo sie zu Bett

gebracht wurden und blieben.

32

Und als Scrooge jetzt sah, wie sich der Herr des Hauses, die

Tochter zärtlich an seine Seite geschmiegt, mit ihr und ihrer

Mutter an seinem eigenen Herd niedersetzte; und wie er dachte,

daß ihn ein solches Wesen ebenso lieblich und hoffnungsfroh

hätte Vater nennen und wie der Frühling im öden Winter seines

Lebens hätte sein können, da wurden seine Augen wirklich

trübe.

»Belle«, sagte der Mann, sich lächelnd zu seiner Gattin wendend,

»ich sah heut nachmittag einen alten Freund von dir.«

»Wer war es?«

»Rate mal.«

»Wie kann ich das? Ach, jetzt weiß ich schon«, fügte sie sogleich

hinzu, lachend, und auch er lachte. »Mr. Scrooge.«

»Ja, Mr. Scrooge. Ich ging an seinem Kontorfenster vorüber;

und da kein Laden davor war und Licht brannte, mußte ich ihn

sehen. Sein Kompagnon liegt im Sterben, hörte ich, und er war

sehen. Sein Kompagnon liegt im Sterben, hörte ich, und er war

allein. Ganz allein in der weiten Welt, glaube ich.«

»Geist«, rief Scrooge mit bebender Stimme, »führe mich weg

von diesem Ort.«

»Ich sagte dir, daß dies Schatten gewesener Dinge sind«, sagte

der Geist. »Gib nicht mir die Schuld, daß sie sind, wie sie sind.«

»Führe mich weg«, rief Scrooge aus. »Ich kann es nicht

ertragen.«

Er wandte sich dem Geist zu, und wie er sah, daß er ihn mit

einem Gesicht anblickte, in dem sich auf eine seltsame Weise all

die Gesichter zeigten, die er bisher gesehen hatte, rang er mit

ihm.

»Verlaß mich, führ mich weg. Verfolge mich nicht länger.«

In dem Kampf, wenn es ein Kampf genannt werden kann, wie

der Geist, ohne sichtbaren Widerstand seinerseits, von den

Angriffen seines Gegners unberührt blieb, bemerkte Scrooge,

daß das Licht auf seinem Haupt hoch und hel brannte, und in

einem dunklen instinktiven Gefühl jenes Licht sei mit des Geistes

Einfluß auf ihn verbunden, ergriff er den Löschhut und stülpte ihn

auf des Geistes Haupt.

Der Geist sank zusammen, so daß der Löschhut seine ganze

Gestalt bedeckte; aber obgleich Scrooge ihn mit seiner ganzen

Kraft niederdrückte, konnte er das 33

Licht nicht ganz verbergen, das darunter hervor- und mit hellem

Schimmer über den Boden floß.

Er fühlte sich erschöpft und von einer unüberwindlichen

Schläfrigkeit befallen und wußte, daß er in seinem eigenen

Schlafzimmer war. Er gab dem Löschhut einen letzten Druck und

fand kaum Zeit, in das Bett zu wanken, bevor er in tiefen Schlaf

sank.

34

Dritte Strophe

Der zweite Geist

Scrooge erwachte mitten in einem tüchtigen Geschnarche und

setzte sich im Bett auf; um seine Gedanken zu sammeln. Diesmal

hatte niemand nötig, ihm zu sagen, daß es gerade eins sei. Er

fühlte, daß er just zu der rechten Zeit und zu dem ausdrücklichen

Zweck erwacht sei, um eine Zusammenkunft mit dem zweiten an

ihn durch Jacob Marleys Vermittlung abgesandten Boten zu

haben.

Aber bei dem Gedanken, welche seiner Bettgardinen das neue

Gespenst wohl zurückschlüge, wurde es ihm ganz unheimlich

kalt, und so schlug er sie mit seinen eigenen Händen zurück.

Dann legte er s ich wieder zurück und beschloß, genau

aufzupassen, denn er wol te den Geist in dem Augenblick seiner

Erscheinung anrufen und wünschte nicht überrascht und

erschreckt zu werden.

Leute von keckem Mut, die sich schmeicheln, es schon mit

etwas aufnehmen zu können und immer an ihrem Platz zu sein,

drücken den weiten Bereich ihrer Fähigkeiten mit den Worten

aus: Sie wären gut für al es, vom Brotessen bis zum

Menschenverschlingen, da zwischen beiden Extremen ohne

Zweifel ziemlich viel Gelegenheit zur Betätigung ihrer Kräfte liegt.

Zweifel ziemlich viel Gelegenheit zur Betätigung ihrer Kräfte liegt.

Ohne gerade zu behaupten, daß es Scrooge so weit gebracht

hätte, muß ich doch von dem Leser den Glauben fordern, daß er

auf eine recht schöne Auswahl von Erscheinungen gefaßt war

und daß ihn nichts zwischen einem Wickelkind und einem

Rhinozeros al zusehr in Verwunderung gesetzt hätte.

Eben weil er beinahe auf alles gefaßt war, war er nicht

vorbereitet, nichts zu sehen; und daher überfiel ihn ein heftiges

Zittern, als die Glocke eins schlug und keine Gestalt erschien.

Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde vergingen, aber

es kam nichts. Die ganze Zeit über lag er auf seinem Bett, dem

Kern und Mittelpunkt eines rötlichen Lichtes, das sich darüber

ergoß, als die 35

Glocke die Stunde verkündete, und das, weil es nur Licht war,

viel beunruhigender als ein Dutzend Geister war, da es ihn

unmöglich erraten ließ, was es bedeute oder was es wol e. Ja, er

fürchtete zuweilen, er könnte in diesem Augenblick ein

merkwürdiger Fall von Selbstentzündung sein, ohne den Trost zu

haben, es zu wissen. Endlich jedoch fing er an zu begreifen, daß

die Quelle dieses geisterhaften Lichtes wohl in dem anliegenden

Zimmer sei, aus dem es bei näherer Betrachtung zu strömen

schien. Wie dieser Gedanke die Herrschaft über seine Seele

bekommen hatte, stand er leise auf und schlich in den Pantoffeln

nach der Tür.

In demselben Augenblick, wo sich Scrooges Hand auf die

In demselben Augenblick, wo sich Scrooges Hand auf die

Klinke legte, rief ihn eine fremde Stimme bei Namen und hieß ihn

eintreten. Er gehorchte.

Es war sein eigenes Zimmer. Daran ließ sich nicht zweifeln. Aber

eine wunderbare Umwandlung war mit ihm vorgegangen. Wände

und Decke waren ganz mit grünen Zweigen bedeckt, daß es

aussah wie eine Laube, in der überall glänzende Beeren

schimmerten. Die glänzenden, starren Blätter der Stechpalme,

der Mistel und des Efeus warfen das Licht zurück und erschienen

wie ebenso viele kleine Spiegel. Eine so gewaltige Flamme

loderte die Esse hinauf, wie sie dieses Spottbild eines Kamines

zu Scrooges oder Marleys Zeit seit vielen, vielen Wintern nicht

gekannt hatte. Auf dem Fußboden waren zu einer Art von Thron

Truthähne, Gänse, Wildbret, große Braten, Spanferkel, lange

Reihen von Würsten, Pasteten, Plumpuddings, Austerfäßchen,

glühende Kastanien, rotbäckige Äpfel, saftige Orangen,

appetitliche Birnen, ungeheure Stollen und siedende

Punschbowlen aufgehäuft, die das Zimmer mit köstlichem

Geruch erfül ten. Auf diesem Thron saß behaglich und mit

fröhlichem Angesicht ein Riese, gar herrlich anzuschauen. In der

Hand trug er eine brennende Fackel, fast wie ein Füllhorn

gestaltet, und hielt s ie steil in die Höhe, um Scrooge damit zu

beleuchten, wie er in das Zimmer guckte.

»Nur herein«, rief der Geist. »Nur herein, und lerne mich besser

kennen.«

Scrooge trat schüchtern ein und senkte das Haupt vor dem

Geiste. - Er war nicht mehr der hartfühlende, nichtsscheuende

Scrooge von früher, und obgleich des Geistes Augen hell und

mild glänzten, wünschte er ihnen doch nicht zu begegnen.

»Ich bin der Geist der diesjährigen Weihnachtsnacht«, sagte die

Gestalt. »Sieh mich an.«

Scrooge tat es mit ehrfurchtsvollem Blick. Der Geist war

gekleidet in ein einfaches, dunkelgrünes Gewand, mit weißem

Pelz verbrämt. Die breite Brust war entblößt, als verschmähe sie,

sich zu verstecken. Auch die Füße waren bloß und schauten

unter den weiten Falten des Gewandes hervor; und das Haupt

hatte keine andere Bedeckung, als einen Stechpalmenkranz, in

dem hie und da Eiszapfen glänzten. Seine dunkelbraunen Locken

wallten fessel os auf die Schultern. Sein munteres Gesicht, sein

glänzendes Auge, seine fröhliche Stimme, sein ungezwungenes

Benehmen, alles sprach von Offenheit und 36

heiterem Sinn. Um den Leib trug er eine alte Degenscheide

gegürtet; aber sie war von Rost zerfressen und kein Schwert

steckte darin.

»Du hast meinesgleichen nie vorher gesehen«, rief der Geist.

»Niemals«, entgegnete Scrooge.

»Hast dich nie mit den jüngern Gliedern meiner Familie

»Hast dich nie mit den jüngern Gliedern meiner Familie

abgegeben; ich meine (denn ich bin sehr jung) meine älteren

Brüder, die in den vergangenen Jahren geboren worden sind?«

fuhr das Phantom fort.

»Ich glaube nicht«, sagte Scrooge. »Doch es tut mir leid, es nicht

getan zu haben. Hast du viele Brüder gehabt, Geist?«

»Mehr als achtzehnhundert«, sagte dieser.

»Eine schrecklich große Familie, wenn man für sie zu sorgen

hat«, murmelte Scrooge.

Der Geist der diesjährigen Weihnacht erhob sich.

»Geist«, sagte Scrooge demütig, »führe mich, wohin du willst.

Gestern Nacht wurde ich durch Zwang hinausgeführt und mir

wurde eine Lehre gegeben, die jetzt Wirkung zeigt. Heute bin ich

bereit zu folgen, und wenn du mich etwas zu lehren hast, will ich

gern hören.«

»Berühre denn mein Gewand.«

Scrooge tat wie ihm geheißen und hielt es fest.

Stechpalmen, Misteln, rote Beeren, Efeu, Truthähne, Gänse,

Spanferkel, Braten, Würste, Austern, Pasteten, Puddings,

Früchte und Punsch, al es verschwand blitzschnell. Auch das

Zimmer verschwand, das Feuer, der rötliche Schimmer, die

Zimmer verschwand, das Feuer, der rötliche Schimmer, die

nächtliche Stunde, und sie standen in den Straßen der Stadt, am

Morgen des Weihnachtstages, wo die Leute - denn es war sehr

kalt - eine rauhe, aber fröhliche und nicht unangenehme Musik

machten, indem sie den Schnee von dem Straßenpflaster und

den Dächern der Häuser zusammenfegten. Und daneben standen

die Kinder und freuten sich und kreischten, wenn die

Schneelawinen von den Dächern herunterstürzten und in

künstliche Schneestürme zerstoben.

Die Häuser erschienen schwarz und die Fenster noch schwärzer,

verglichen mit der faltenlosen, weißen Schneedecke auf den

Dächern und dem schmutzigeren Schnee auf den Straßen. Dort

war er von den schweren Rädern der Wagen und Karren in tiefe

Furchen gepflügt; Furchen, die sich hundert- und aberhundertmal

kreuzten, wo eine Straße abging, und die in dem dicken, gelben

Schmutz und halberstarrten Wasser labyrinthische Gerinnsel

bildeten. Der Himmel war trübe, und selbst die kürzesten

Straßen schienen sich in einem dicken Nebel zu verlieren, dessen

schwerere Teile in einem rußigen Regen niederfielen, als hätten

alle Essen von England s ich auf einmal entzündet und qualmten

jetzt nach Herzenslust. Es war in der ganzen Umgebung nichts 37

Heiteres, und doch lag etwas in der Luft, was die klarste

Sommerluft und die hellste Sommersonne nicht hätten verbreiten

können.

Denn die Leute, die den Schnee von den Dächern schaufelten,

waren lustig und mutwilliger Laune. Sie riefen von den Dächern

waren lustig und mutwilliger Laune. Sie riefen von den Dächern

einander zu und wechselten dann und wann einen Schneeball -

ein Pfeil, der harmloser war als manches Wort - und lachten

herzlich, wenn er traf, und nicht minder herzlich, wenn er fehlging.

Die Läden der Geflügelhändler waren noch halb offen und die

der Fruchthändler strahlten in heller Freude. Da sah man - als

wären es Westen lustiger alter Herren - große runde,

dickbäuchige Körbe mit Kastanien an den Türen lehnen oder in

ihrem apoplektischen Überfluß auf die Straße rol en. Da sah man

braune, umfangreiche, spanische Zwiebeln, in ihrer Fettigkeit

spanischen Mönchen gleichend und mutwil ig den Mädchen

winkend, die vorübergingen und verschämt nach dein

Mistelzweig schielten. Da sah man Birnen und Äpfel zu

Pyramiden aufeinandergepackt: Trauben, die der Kaufmann in

seiner Gutmütigkeit recht augenfällig im Gewölbe hängen ließ,

daß den Vorübergehenden der Mund gratis wässerte, Haufen

von Haselnüssen, bemoost und braun, mit ihrem frischen Duft an

vergangene Streifzüge im Wald durch das raschelnde, fußhohe,

welke Laub erinnernd, Norfolk-Biffins, fett und kraus, mit ihrer

Bräune von den gelben Orangen abstechend und gar dringlich

bittend, daß man sie nach Hause trage und nach Tische esse. Ja,

selbst die Gold-und Silberfische, die in einem Glase mitten unter

den erlesenen Früchten standen, schienen zu wissen, daß etwas

Besonderes los sei, obgleich sie von einem dick- und kaltblütigen

Geschlecht waren, und schwammen um ihre kleine Welt in

langsamer und leidenschaftsloser Bewegung.

Ach die Kolonialwarenläden! Fast geschlossen waren sie,

Ach die Kolonialwarenläden! Fast geschlossen waren sie,

vielleicht ein oder zwei Laden vorgesetzt: aber welche

Herrlichkeiten sah man durch diese Öffnungen! Nicht al ein, daß

die Waagschalen mit fröhlichem Klingklang auf dem Ladentisch

rumorten, oder daß der Bindfaden so munter von seiner Rolle

schnurrte, oder daß die Büchsen blitzschnell hin und her fuhren

wie durch Zauberei, oder daß der Mischgeruch von Kaffee und

Tee der Nase so wohl tat, nicht daß die Rosinen so

wunderschön, die Mandeln so außerordentlich weiß, die

Zimtstengel so lang und gerade, die andern Gewürze so köstlich,

die eingemachten Früchte so dick mit geschmolzenem Zucker

belegt waren, daß der kälteste Zuschauer entzückt wurde; nicht

al ein, daß die Feigen so saftig und fleischig waren, oder daß die

Brignolen in bescheidener Koketterie in ihren verzierten Büchsen

erröteten, oder daß alles so gut zu essen oder so schön in seinem

Weihnachtskleid war: das war es nicht al ein. Die Kaufenden

waren auch alle so eifrig und eilig in der Vorfreude auf das Fest,

daß sie in der Türe gegeneinanderrannten, wie von Sinnen mit

ihren Körben zusammenstießen und ihre Einkäufe vergaßen und

wieder zurückliefen, um sie zu holen, und tausend ähnliche

Irrtümer in der bestmöglichen Laune begingen, während der

Kaufmann und seine Leute so frisch und froh waren, daß die

blanken Herzen, die ihre Schürzen hinten zusammenhielten, ihre

eigenen hätten sein können.

38

Aber bald riefen die Glocken nach den Kirchen und den

Aber bald riefen die Glocken nach den Kirchen und den

Kapellen, und die Leute gingen in ihren besten Kleidern und

ihren feiertäglichsten Gesichtern durch die Straßen. Und zu

derselben Zeit strömten aus den Nebenstraßen und Gäßchen und

namenlosen Winkeln zahllose Leute, die ihr Mittagessen in die

Backstuben trugen. Der Anblick dieser Armen und doch so

Glücklichen schien des Geistes Teilnahme am meisten zu erregen,

denn er blieb mit Scrooge neben eines Bäckers Tür stehen, und

während er die Deckel von den Schüsseln nahm, als die Träger

vorübergingen, bestreute er ihr Mahl mit Weihrauch seiner

Fackel. Und es war eine gar wunderbare Fackel, denn ein

paarmal, als einige von den Leuten zusammengerannt waren und

darüber heftige Worte fielen, besprengte er sie mit etlichen

Tropfen Tau daraus, und ihre gute Laune war augenblicklich

wiederhergestel t. Denn sie sagten, es sei eine Schande, sich am

Weihnachtstag zu zanken.

Jetzt schwiegen die Glocken, und die Läden der Bäcker wurden

geschlossen: und doch schwebte noch ein Schatten von al en

diesen Mittagessen und dem Fortgang ihrer Zubereitung in dem

getauten, nassen Fleck über jedem Ofen; und vor ihnen rauchte

das Pflaster, als kochten selbst die Steine.

»Ist eine besondere Kraft in dem, was deine Fackel ausstreut?«

fragte Scrooge.

»Ja. Meine eigene.«

»Und wirkt sie auf jedes Mittagsmahl an diesem Tag?« fragte

Scrooge.

»Auf jedes, sofern es gern gegeben wird. Auf ein ärmliches am

meisten.«

»Warum auf ein ärmliches am meisten?«

»Weil das meiner Kraft am meisten bedarf«

»Geist«, sagte Scrooge nach kurzem Nachdenken, »mich

wundert's, daß du von allen Wesen auf den vielen Welten um uns

herum wünschen sol test, diesen Leuten die Gelegenheit eines

unschuldigen Genusses zu rauben.«

»Ich?« rief der Geist.

»Du willst ihnen die Mittel nehmen, jeden siebten Tag zu Mittag

zu essen, und doch ist das der einzige Tag, wo sie überhaupt zu

Mittag essen können«, sagte Scrooge.

»Ich?« rief der Geist.

»Du willst doch Backstuben und ähnliche Plätze am siebten Tag

geschlossen halten - das kommt doch auf dasselbe heraus.«

»Ich?« rief der Geist.

»Verzeih mir, wenn ich unrecht habe. Es ist in deinem Namen

»Verzeih mir, wenn ich unrecht habe. Es ist in deinem Namen

geschehen oder wenigstens in dem deiner Familie«, sprach

Scrooge.

»Es gibt Menschen auf Eurer Erde«, entgegnete der Geist, die

uns kennen wol en und die ihre Taten des Stolzes, der Mißgunst,

des Hasses, des Neides, 39

des Fanatismus und der Selbstsucht in unserm Namen tun; die

uns in allem, was zu uns gehört, so fremd sind, als hätten sie nie

gelebt. Bedenke dies und schreibe ihre Taten ihnen selbst zu und

nicht uns.«

Scrooge versprach es, und sie gingen weiter in die Vorstadt,

unsichtbar wie bisher. Es war eine wunderbare Eigenschaft des

Geistes (Scrooge hatte sie bei dem Bäcker bemerkt), daß er, bei

seiner riesenhaften Gestalt, doch überal leicht Platz fand, und daß

er unter einem niedrigen Dach ebenso schön und gleich einem

übernatürlichen Wesen dastand, wie in einem geräumigen, hohen

Saal.

Vielleicht war es die Freude, die der gute Geist darin fühlte,

diese Macht zu zeigen, viel eicht auch seine warmherzige,

freundliche Natur und seine Teilnahme mit allen Armen, was ihn

freundliche Natur und seine Teilnahme mit allen Armen, was ihn

gerade zu Scrooges Kommis führte: denn er ging wirklich hin und

nahm Scrooge mit, der sich an seinem Gewand festhielt. Auf der

Schwel e stand der Geist lächelnd still und segnete Bob Cratchits

Wohnung mit dem Tau seiner Fackel. Denkt doch! Bob hatte

nur fünfzehn ›Bobs‹ die Woche; er steckte sonnabends nur

fünfzehn seiner Namensvettern in die Tasche, und doch segnete

der Geist der dies jährigen Weihnacht sein Haus.

Im Zimmer stand Mr. Cratchits Frau in einem ärmlichen, zweimal

gewendeten Kleid, schön aufgeputzt mit Bändern, die billig sind,

aber für sechs Pence hübsch genug aussehen. Sie deckte den

Tisch, und Belinda, ihre zweite Tochter, half ihr dabei, während

Master Peter mit der Gabel in eine Schüssel voll Kartoffeln stach

und die Spitzen seines ungeheuren Hemdkragens (Bobs

Privateigentum, seinem Sohn und Erben zu Ehren des Festes

geliehen) in den Mund nahm, voller Stolz, so schön angezogen zu

sein, und voll Sehnsucht, sein weißes Hemd in den fashionablen

Parks zur Schau zu tragen. jetzt kamen die zwei kleinen

Cratchits, ein Mädchen und ein Knabe, hereingesprungen und

schrien, daß sie an des Bäckers Tür die gebratene Gans

gerochen und gewußt hätten, es sei ihre eigene, und in freudigen

Träumen von Salbei und Zwiebeln tanzten sie um den Tisch und

erhoben Master Peter Cratchit bis in den Himmel, während er

(aber gar nicht stolz, obgleich ihn der Hemdkragen fast erstickte)

in das Feuer blies, bis die Kartoffeln hochquollen und an den

Topfdeckel klopften, daß man sie herauslassen und schälen

möge.

möge.

»Wo nur der Vater bleibt?« fragte Mrs. Cratchit.

Und dein Bruder Tiny Tim; und Martha kam vorige Weihnachten

eine halbe Stunde früher.«

»Hier ist Martha, Mutter«, sagte ein Mädchen, zur Tür

hereintretend.

»Hier ist Martha, Mutter«, riefen die beiden kleinen Cratchits.

»Hurra, so eine Gans, Martha!«

»Gott grüß dich, liebes Kind! Wie spät du kommst!« sagte Mrs.

Cratchit, sie mehrmals küssend und ihr mit zutulichem Eifer Schal

€4,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
490 S. 1 Illustration
ISBN:
9783754179857
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:

Mit diesem Buch lesen Leute