Weihnachtserzählungen - 308 Seiten

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Sie hatten es mit Absicht so unter sich ausgemacht, um mir eine

Freude zu bereiten!

Denn als ich ihr das alte Zeichen machte, stürzte sie zu meinen

Füßen hin und 21

streckte, auf den Knien liegend, die Hände zu mir empor,

während Tränen der Liebe und des Glücks über ihr Gesicht

strömten. Und als ich sie bei den Händen faßte und aufhob,

schlang sie die Arme um meinen Hals und blieb so still. Ich war

so närrisch vor Freude, daß ich wirklich nicht weiß, was ich alles

anstellte, bis wir uns alle drei hinsetzten und eine lautlose

Unterhaltung begannen, als ob eine sanfte Stille über die ganze

Welt für uns ausgebreitet wäre.

22

Zweites Kapitel

Muß fürs ganze Leben genommen werden

So war denn mein Plan in jeder Beziehung erfolgreich. Das

Leben, das wir nach unserer Wiedervereinigung führten, war

schöner als alles, was wir erwartet hatten.

Freude und Zufriedenheit gingen mit uns, wenn die Räder der

beiden Wagen sich drehten, und sie machten mit uns halt, wenn

die beiden Wagen haltmachten. Ich war so stolz wie ein Mops,

dem man für eine Abendgesellschaft den Maulkorb geschwärzt

und den Schwanz mit einer Maschine gekräuselt hat.

Aber ich hatte etwas bei meiner Rechnung übersehen. Nun, was

hatte ich übersehen? Um euch beim Raten zu helfen, will ich

sagen, eine Größe. Also los.

Ratet und ratet richtig. Null? Nein. Neun? Nein. Acht? Nein.

Sieben? Nein. Sechs?

Nein. Fünf? Nein. Vier? Nein. Drei? Nein. Zwei? Nein. Eins?

Nein. Nun will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen

werde. Ich will so viel mitteilen, daß es eine ganz andere Art von

Größe ist. Also? Dann muß es eine sterbliche Größe sein, sagt

ihr. Nein, es ist keine sterbliche Größe. Auf diese Weise werdet

ihr. Nein, es ist keine sterbliche Größe. Auf diese Weise werdet

ihr in die Enge getrieben, und ihr könnt nicht anders, als auf eine

unsterbliche Größe zu tippen. Da seid ihr auf der richtigen Spur.

Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?

Ja. Es war eine unsterbliche Größe, die ich bei meiner Rechnung

gänzlich übersehen hatte. Es war kein Mann und keine Frau,

sondern ein Kind. Ein Knabe oder ein Mädchen? Ein Knabe.

Der Knabe mit Pfeil und Bogen. Jetzt habt ihr es erraten.

Wir waren unten in Lancaster und das Geschäft war zwei

Abende lang viel besser als durchschnittlich gegangen, obwohl

ich die Leute dort, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht

gerade als eine leicht zu gewinnende Zuhörerschaft empfehlen

kann.

Mims reisender Riese mit Namen Pickleson war zufällig

gleichzeitig in der Stadt und versuchte, das Publikum zu blenden.

Er hatte sich die vornehme Art zugelegt. Keine Spur von

Reisewagen. Durch einen mit grünem Tuch ausgeschlagenen

Eingang ging es in ein Auktionslokal hinein zu Pickleson.

Gedrucktes Plakat: »Freikarten aufgehoben, mit Ausnahme des

stolzen Ruhmes eines freien Landes, der freien Presse. Für

Schulen ermäßigter Eintritt nach Vereinbarung. Nichts, um die

Jugend erröten zu machen oder selbst die Feinfühligsten zu

verletzen.« Mim hinter einer mit rosa Tuch überzogenen Kasse,

in der fürchterlichsten Weise über die Schwerfälligkeit des

Publikums fluchend. In den Läden Zettel aufgehängt, mit der

ernsthaften Versicherung, es wäre so gut wie unmöglich, die

ernsthaften Versicherung, es wäre so gut wie unmöglich, die

Geschichte Davids richtig zu verstehen, wenn man Pickleson

nicht gesehen habe.

Ich ging in das fragliche Auktionslokal und fand nichts darin als

Echos und modrige Luft, mit einziger Ausnahme Picklesons, der

auf einem roten Teppich stand.

Das kam mir gerade recht, da ich ein paar vertrauliche Worte mit

ihm zu sprechen hatte, und so begann ich:

»Pickleson, da ich Euch ein großes Glück verdanke, habe ich

Euch in meinem Testament mit einer Fünfpfundnote bedacht;

aber, um die Sache kurz zu machen, hier 23

habt Ihr vier Pfund auf der Stelle, was Euch wohl ebenso lieb ist,

und damit wollen wir das Geschäft abmachen.«

Pickleson, der vor dieser Bemerkung das trübselige Aussehen

einer langen römischen Kerze gehabt hatte, erhellte sich an

seinem oberen Ende und drückte seinen Dank aus in einer

Weise, die (für ihn) parlamentarische Beredsamkeit war. Er fügte

noch hinzu, er hätte als Römer nicht mehr gezogen, und Mim

hätte ihm deshalb den Vorschlag gemacht, als Indianerriese

aufzutreten, der durch »Des Milchmanns Tochter« bekehrt

worden wäre. Pickleson aber hatte erklärt, ihm sei das nach

dieser jungen Dame benannte Traktätchen vollkommen

unbekannt, auch verbiete ihm die ernste Auffassung seines

unbekannt, auch verbiete ihm die ernste Auffassung seines

Berufes derartige Scherze, worauf es zu einem Wortwechsel

kam, der für den unglücklichen jungen Mann die gänzliche

Entziehung des Biers zur Folge hatte. All das wurde während des

ganzen Gesprächs durch das wilde Brummen Mims unten an der

Kasse bestätigt, und dieser Ton ließ den Riesen wie dürres Laub

erbeben.

Derjenige Teil meiner Unterhaltung mit dem reisenden Riesen

namens Pickleson, der sich auf mein gegenwärtiges Thema

bezog, war folgender:

»Doktor Marigold« – ich wiederhole seine Worte, ohne einen

Versuch zu machen, dem Leser einen Begriff von der Schwäche

zu geben, mit der sie vorgebracht wurden

– »wer ist der Fremde, der sich bei Euren Karren herumtreibt?«

»Der Fremde?« wiederhole ich seine Frage, in der Meinung, daß

er sie meint, sich aber in seinem schwachen Zustand im Artikel

vergriffen hat.

»Doktor«, sagt er darauf, mit einem rührenden Nachdruck, der

selbst einem Mannesauge eine Träne entlockt hätte, »ich bin

zwar schwach, aber doch noch nicht so schwach, daß ich nicht

wüßte, was ich sage. Ich wiederhole deshalb, Doktor, der

Fremde.«

Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur

Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur

dann strecken durfte, wenn man ihn nicht umsonst sehen konnte

(nämlich zu später Nachtzeit und gegen Tagesanbruch), in dieser

selben Stadt Lancaster, in der ich mich erst zwei Abende lang

aufhielt, diesen selben Fremden zweimal in der Nähe meiner

Wagen beobachtet hatte.

Das versetzte mich in Unruhe. Was es im einzelnen zu bedeuten

hatte, das ahnte ich ebensowenig, wie ihr es jetzt ahnen könnt,

aber es machte mir Sorgen. Trotzdem tat ich Pickleson

gegenüber so, als wäre die Sache nicht ernst zu nehmen, und ich

verabschiedete mich von ihm mit dem Rat, sein Vermächtnis zur

Kräftigung seiner Gesundheit zu verwenden und sich seine

Religion nach wie vor nicht nehmen zu lassen. Gegen Morgen

hielt ich nach dem Fremden Ausschau, und – was mehr war –

ich sah ihn. Er war ein gutgekleideter, hübscher junger Mensch.

Er ging ganz nahe bei meinen Wagen hin und her, so als ob er sie

bewachte, und kurz nachdem es Tag geworden war, drehte er

sich um und ging davon. Ich rief hinter ihm her, aber er fuhr

weder zusammen noch drehte er sich um und nahm auch nicht

die geringste Notiz davon.

Etwa ein oder zwei Stunden später verließen wir Lancaster, um

nach Carlisle zu fahren. Am nächsten Morgen gegen

Tagesanbruch hielt ich wieder nach dem fremden jungen Mann

Ausschau. Ich bekam ihn nicht zu sehen. Aber am folgenden

Morgen 24

paßte ich abermals auf, und diesmal war er wieder da. Ich rief

wiederum hinter ihm her, aber, wie das erstemal, gab er nicht das

geringste Zeichen, daß er irgendwie betroffen war. Das brachte

mich auf einen Gedanken. Ich folgte meinem Einfall und

beobachtete ihn in verschiedener Weise und zu verschiedenen

Zeiten – die Einzelheiten tun nichts zur Sache –, bis ich

herausfand, daß dieser fremde junge Mann taubstumm war.

Diese Entdeckung brachte mich ganz aus dem Häuschen. Ich

wußte, daß in einem Teil der Anstalt, wo sie gewesen war, junge

Männer untergebracht waren (einige darunter in guten

Verhältnissen), und ich dachte mir: »Wenn sie ihn vorzieht, wo

bleibe dann ich? Und wo bleibt alles, wofür ich Pläne gemacht

und gearbeitet habe?«

In der Hoffnung – ich muß gestehen, daß ich so selbstsüchtig war

–, daß sie ihn nicht vorzöge, machte ich mich daran, die

Wahrheit herauszufinden. Schließlich wurde ich zufällig Zeuge

einer Zusammenkunft zwischen ihnen. Es war im Freien, und ich

stand hinter einer Fichte verborgen, ohne daß sie von meiner

Anwesenheit etwas ahnten. Es war ein rührendes

Zusammentreffen für uns alle drei. Ich verstand jede Silbe, die

zwischen ihnen gewechselt wurde, ebensogut wie sie selbst. Ich

belauschte sie mit meinen Augen, die es gelernt hatten, eine

Taubstummenunterhaltung ebenso rasch und sicher aufzufassen,

wie meine Ohren gesprochene Worte verstanden. Er war im

Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu

Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu

einer Firma, wo früher sein Vater beschäftigt gewesen war. Sein

Einkommen erlaubte es ihm, eine Frau zu ernähren, und er

wollte, daß sie ihn heiraten und mit ihm gehen sollte. Sie sagte

hartnäckig nein. Er fragte sie, ob sie ihn nicht liebe. Doch, sie

liebe ihn von ganzem Herzen, aber sie könnte niemals ihrem

geliebten, guten, edlen, großmütigen und ich weiß nicht was noch

 

alles Vater (damit meinte sie mich, den fahrenden Hausierer in

der Ärmelweste) die Enttäuschung bereiten, ihn zu verlassen, und

sie wolle bei ihm bleiben, der Himmel segne ihn!, und wenn ihr

das Herz darüber bräche.

Hier fing sie bitterlich zu weinen an, und damit war mein

Entschluß gefaßt.

Solange ich mir über ihre Gefühle zu diesem jungen Mann im

unklaren gewesen war, hatte ich eine so unvernünftige Wut auf

Pickleson gehabt, daß es gut für ihn war, sein Vermächtnis gleich

ausgezahlt gekriegt zu haben. Denn ich hatte oft gedacht:

»Wenn dieser schwachköpfige Riese nicht gewesen wäre, so

wäre es vielleicht nie dazu gekommen, daß ich mir wegen dieses

jungen Mannes den Kopf zerbreche und die Seele aus dem Leib

ärgere.« Aber, sobald ich einmal wußte, daß sie ihn liebte –

sobald ich gesehen hatte, wie sie Tränen um ihn vergoß – da war

es eine ganz andere Sache. Ich bat Pickleson auf der Stelle im

Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber

Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber

das Rechte zu tun.

Inzwischen hatte sie den jungen Mann verlassen (denn es dauerte

einige Minuten, bevor ich mich gänzlich zusammengenommen

hatte), und er stand gegen eine andere Fichte gelehnt und hatte

das Gesicht auf den Arm gepreßt. Ich berührte ihn am Rücken.

Er blickte auf, und als er mich wahrnahm, sagte er in der

Taubstummensprache: »Seid nicht böse.«

»Ich bin nicht böse, guter Junge. Ich bin Euer Freund. Kommt

mit mir.«

Ich ließ ihn an den Stufen des Bibliothekswagens stehen und ging

allein hinauf. Sie wischte sich die Augen.

25

»Du hast geweint, mein Kind.«

»Ja, Vater.«

»Weshalb?«

»Mir tut der Kopf weh.«

»Nicht das Herz?«

»Ich sagte der Kopf, Vater.«

»Doktor Marigold muß für diesen Kopfschmerz ein Rezept

ausstellen.«

Sie nahm das Buch mit meinen »Rezepten« auf und hielt es mit

einem gezwungenen Lächeln in die Höhe. Da sie mich aber so

ernst und ruhig sah, legte sie es sacht wieder hin, und ihre Augen

blickten mich mit größter Aufmerksamkeit an.

»Das Rezept ist nicht da drin, Sophy.«

»Wo ist es denn?«

»Hier, mein Kind.«

Ich führte ihren jungen Gatten herein, und ich legte ihre Hand in

die seine, und die einzigen Worte, die ich noch an die beiden

richten konnte, lauteten:

»Doktor Marigolds letztes Rezept. Muß fürs ganze Leben

genommen werden.«

Darauf lief ich davon.

Zur Hochzeit trug ich zum ersten und letzten Mal in meinem

ganzen Leben einen Rock (blau mit Metallknöpfen) und ich gab

Sophy mit eigener Hand hinweg. Die Gesellschaft bestand bloß

aus uns dreien und dem Gentleman, unter dessen Obhut sie

während der vergangenen zwei Jahre gestanden hatte. Das

Hochzeitsmahl für vier Personen fand im Bibliothekswagen statt.

Hochzeitsmahl für vier Personen fand im Bibliothekswagen statt.

Taubenpastete, gepökelter Schweinebraten, ein Geflügel, dazu

passendes Gemüse und das Schönste und Beste zu trinken. Ich

hielt eine Rede, der Gentleman hielt eine Rede, alle unsere Späße

hatten Erfolg, und das Ganze nahm seinen Gang wie eine Rakete.

Während des Mahles erklärte ich Sophy, daß ich den

Bibliothekswagen als meinen Wohnwagen benutzen würde,

wenn ich nicht auf der Fahrt wäre, und daß ich alle Bücher für

sie, so wie sie standen, aufbewahren würde, bis sie zurückkäme,

um sie zu verlangen. So ging sie also mit ihrem jungen Gatten

nach China, nachdem wir unter heißen Tränen bitter schweren

Abschied genommen hatten; ich verschaffte dem Jungen, den ich

hatte, eine andere Stelle, und nun schritt ich wie früher, als mein

Kind und mein Weib gestorben waren, mit der Peitsche über der

Schulter allein neben dem alten Gaul her.

Sophy schrieb mir viele Briefe, und ich schrieb ihr viele Briefe.

Gegen Ende des ersten Jahres erhielt ich einen von ihr, der mit

unsicherer Hand geschrieben war:

»Liebster Vater, vor nicht ganz einer Woche wurde mir ein süßes

kleines Töchterchen geschenkt, aber ich bin so wohlauf, daß

man mir gestattet hat, diese Worte an Euch zu schreiben.

Liebster und bester Vater, ich hoffe, mein Kind wird nicht

taubstumm sein, aber ich weiß es noch nicht.«

In meiner Antwort bat ich in vorsichtigen Worten um baldige

Nachricht darüber; da aber Sophy niemals darauf zurückkam, so

Nachricht darüber; da aber Sophy niemals darauf zurückkam, so

merkte ich, daß dies ein schmerzlicher Punkt war, und äußerte

die Bitte nicht wieder. Lange Zeit wechselten wir regelmäßig

Briefe, aber dann begannen sie unregelmäßig zu werden, denn

Sophys Gatte war in eine andere Stelle versetzt worden, und ich

war immer unterwegs. Aber wir dachten immer aneinander,

dessen war ich sicher, mochten nun Briefe kommen oder nicht.

26

Fünf Jahre und einige Monate waren es her, seit Sophy die

Heimat verlassen hatte.

Ich war immer noch der König der fahrenden Händler und meine

Beliebtheit beim Publikum war größer denn je. Das Geschäft

war im Herbst prachtvoll gegangen, und am dreiundzwanzigsten

Dezember des Jahres eintausendachthundertvierundsechzig

befand ich mich in Uxbridge in Middlessex mit gänzlich

ausverkauftem Karren. So trabte ich froh und leichten Herzens

mit dem alten Gaul nach London, um den Weihnachtsabend und

Weihnachtstag allein neben dem Kamin in dem Bibliothekswagen

zu verbringen. Darauf wollte ich mich vollkommen neu mit allen

nötigen Artikeln eindecken, um sie wieder zu verkaufen und das

Geld einzustecken.

Ich habe eine geschickte Hand im Kochen, und ich will euch

sagen, was ich für mein Mahl am Weihnachtsabend in dem

Bibliothekswagen zustande brachte. Es war ein BeefsteakBibliothekswagen

zustande brachte. Es war ein Beefsteak-

Pudding mit zwei Nieren, einem Dutzend Austern und ein paar

Pfifferlingen als Zugabe. Das ist ein Pudding, um einen Menschen

mit allem auf der Welt auszusöhnen, nur mit den beiden untersten

Knöpfen an seiner Weste wird er Schwierigkeiten haben.

Nachdem ich mich an dem Pudding gütlich getan und den Tisch

abgedeckt hatte, schraubte ich die Lampe niedrig und setzte

mich an den Kamin, die Augen auf Sophys Bücher gerichtet, die

das Feuer mit seinem Schein erhellte.

Sophys Bücher stellten mir so lebhaft Sophy selbst vor die Seele,

daß ich ihr rührendes Gesicht ganz deutlich vor mir sah, bevor

ich neben dem Feuer einschlummerte. Das mag der Grund dafür

sein, daß Sophy mit ihrem taubstummen Kind im Arm während

meines ganzen Schläfchens schweigend neben mir zu stehen

schien. Ich war auf der Landstraße, neben der Landstraße, an

allen möglichen Orten, in Nord und Süd und Ost und West,

soweit der Wind im Lande bläst, hier und dort und am anderen

Ort, über die Berge und weiter fort, und noch immer stand sie

schweigend neben mir mit ihrem schweigenden Kind in den

Armen. Erst als ich aus dem Schlaf auffuhr, schien sie zu

verschwinden, als hätte sie noch einen einzigen Augenblick zuvor

an dieser selben Stelle neben mir gestanden.

Ich war durch ein wirkliches Geräusch geweckt worden, und

dieses Geräusch kam von den Karrenstufen. Es war der leichte,

rasche Schritt eines Kindes, das hinaufkletterte. Dieser

Kinderschritt war mir einst so vertraut gewesen, daß ich einen

halben Augenblick lang glaubte, ich würde einen kleinen Geist zu

Gesicht bekommen.

Aber wirkliche Kinderhände berührten die äußere Klinke der

Tür, die Klinke wurde niedergedrückt, die Tür öffnete sich ein

wenig, und ein wirkliches Kind guckte herein. Ein hübsches

kleines Mädchen mit großen dunklen Augen.

Die Kleine blickte mich voll an und nahm ihren winzigen Strohhut

ab, wobei dichte schwarze Locken um ihr Gesichtchen fielen.

Dann öffnete sie ihre Lippen und sagte:

»Großvater!«

»O mein Gott!« rief ich aus. »Sie kann sprechen!«

»Ja, lieber Großvater. Und ich soll dich fragen, ob ich dich an

jemand erinnere.«

Im nächsten Augenblick hing Sophy, ebenso wie die Kleine, an

meinem Hals, und ihr Gatte preßte mir die Hand, während er

sein Gesicht zu verbergen suchte, und wir mußten uns alle

zusammennehmen, bevor wir uns fassen konnten. Aber als wir

27

allmählich ruhiger wurden und ich sah, wie die hübsche Kleine

freudig und rasch und eifrig mit ihrer Mutter sprach in denselben

Zeichen, die ich diese zuerst gelehrt hatte, da rollten mir die

glücklichen und doch mitleidvollen Tränen über das Gesicht.

glücklichen und doch mitleidvollen Tränen über das Gesicht.

28

Mrs. Lirripers Fremdenpension

29

Erstes Kapitel

Wie Mrs. Lirriper das Geschäft führte

Daß sich jemand mit Zimmervermieten abplagen wollte, wenn es

nicht eine alleinstehende Frau ist, die für ihren Lebensunterhalt

sorgen muß, das ist mir gänzlich unverständlich, meine Liebe;

entschuldigen Sie die Freiheit, aber die Anrede kommt mir ganz

natürlich über die Lippen, wenn ich in meinem kleinen

Wohnzimmer mein Herz allen denen öffnen möchte, denen ich

trauen kann. Ich wäre dem Himmel ewig dankbar, wenn das die

ganze Menschheit wäre, aber leider ist das nicht der Fall, denn

Sie brauchen bloß einen Zettel »Zimmer zu vermieten« im

Fenster haben und Ihre Uhr auf dem Kaminsims liegen zu lassen,

und schon ist sie auf Nimmerwiedersehen verschwunden, wenn

Sie sich bloß eine Sekunde lang umwenden. Aber auch die

Zugehörigkeit zu Ihrem eigenen Geschlecht ist noch lange keine

Garantie, wie ich am Beispiel der Zuckerzange gesehen habe,

denn jene Dame (und hübsch sah sie aus) ließ mich nach einem

Glas Wasser laufen, unter dem Vorwand, sie käme demnächst

nieder, was sich auch als richtig erwies, aber sie kam zur

Polizeiwache nieder.

Nummer einundachtzig Norfolk Street, Strand, auf halbem Weg

zwischen der City und dem St.-James-Park und nur fünf Minuten

von den besuchtesten öffentlichen Vergnügungsstätten entfernt –

von den besuchtesten öffentlichen Vergnügungsstätten entfernt –

das ist meine Adresse. Ich wohne in diesem Haus schon seit

langen Jahren zur Miete, wie das Grundsteuerbuch bezeugen

kann; und ich wünschte, mein Hauswirt wüßte diese Tatsache

ebenso zu würdigen wie ich selbst, aber nein, nicht für ein halbes

Pfund Neuanstrich, und wenn es ihm ans Leben ginge; nicht

einen neuen Ziegel aufs Dach, meine Liebe, und wenn Sie auf

den Knien vor ihm lägen.

Sie werden noch niemals Nummer einundachtzig Norfolk Street,

Strand, in Bradshaws Kursbuch gefunden haben, meine Liebe,

und so Gott will, werden Sie es auch niemals darin finden. Es

gibt zwar Leute, die keine Selbsterniedrigung darin sehen, ihren

Namen so zu verunehren, und sie gehen sogar bis zu einem Bild

von ihrem Haus, das dem Original jedoch ganz unähnlich ist, mit

einem Klecks in jedem Fenster und einer vierspännigen Kutsche

vor der Tür. Aber was Miß Wozenham weiter unten auf der

anderen Seite der Straße recht ist, ist mir noch lange nicht billig,

da Miß Wozenham ihre Anschauungen hat und ich die

meinigen. Obwohl es ja darauf ankommt, wie Sie es vor Ihrem

Gewissen zu verantworten gedenken, wenn es bis zum

systematischen Unterbieten kommt – wie es unter Eid vor

Gericht bewiesen werden kann – und das die Form annimmt:

»Wenn Mrs. Lirriper achtzehn Schilling die Woche verlangt,

dann verlange ich fünfzehneinhalb.« Und was luftige

Schlafzimmer betrifft und einen Portier, der die ganze Nacht über

auf ist, so ist es um so besser, je weniger darüber geredet wird,

da die Schlafzimmer muffig und der Portier blauer Dunst ist.

da die Schlafzimmer muffig und der Portier blauer Dunst ist.

Es sind jetzt vierzig Jahre her, seit ich und mein armer Lirriper in

der St.-Clement's Danes-Kirche getraut wurden, wo ich jetzt in

einem sehr hübschen Stuhl unter lauter vornehmer Nachbarschaft

meinen Sitz und mein eigenes Kniekissen habe und wo ich 30

nicht zu volle Abendgottesdienste bevorzuge. Mein armer

 

Lirriper war eine stattliche Erscheinung, mit leuchtenden Augen

und einer Stimme, so weich wie ein Musikinstrument aus Honig

und Stahl. Aber er hatte stets ein freies Leben geführt, da er von

Beruf Geschäftsreisender war und eine besonders staubige Tour

hatte, wie er sagte – »eine trockene Straße, meine liebe Emma«,

sagte mein armer Lirriper stets zu mir, »wo ich den ganzen Tag

über und die halbe Nacht dazu immer mal einen Schluck tun

muß, um den Staub hinunterzuspülen, und das nimmt mich mit,

Emma«

– und das führte dazu, daß er durch eine Menge Dinge

hindurchrannte. Er wäre wohl auch durch den Schlagbaum

hindurchgerannt, als dieses schreckliche Pferd, das keinen

einzigen Augenblick stillstehen wollte, durchbrannte. Aber es war

Nacht und der Schlagbaum geschlossen. So wurde das Rad

erfaßt und der Wagen und mein armer Lirriper zu Atomen

zerschmettert. Er hat kein Wort mehr gesprochen. Er war eine

stattliche Erscheinung und ein Mann von fröhlicher Gemütsart

und sanftem Wesen; aber wenn Photographien damals schon

üblich gewesen wären, so hätten sie Ihnen doch niemals eine

üblich gewesen wären, so hätten sie Ihnen doch niemals eine

Vorstellung von der Weichheit seiner Stimme geben können.

Überhaupt fehlt es meiner Ansicht nach Photographien im

allgemeinen an Weichheit. Man sieht darauf aus wie ein frisch

gepflügtes Feld.

Mein armer Lirriper hinterließ ein zerrüttetes Vermögen, und als

er auf dem Friedhof zu Hatfield in Hertfordshire begraben

worden war, nicht etwa, weil das sein Geburtsort war, sondern

weil er eine Vorliebe für das »Salisbury-Wappen« hatte, wohin

wir uns am Hochzeitstag begeben und glücklich vierzehn Tage

zugebracht hatten, machte ich bei den Gläubigern die Runde und

sagte zu ihnen: »Gentlemen, ich weiß wohl, daß ich für die

Schulden meines verstorbenen Gatten nicht aufzukommen

brauche, aber ich will sie bezahlen, denn ich bin sein angetrautes

Weib, und sein guter Name ist mir teuer. Ich will eine Pension

aufmachen, und wenn es mir glückt, soll jeder Penny, den mein

verstorbener Gatte schuldig geblieben ist, um der Liebe willen,

die ich zu ihm trug, zurückerstattet werden. Das schwöre ich bei

dieser meiner Rechten.« Es dauerte lange, bis ich es vollbracht

hatte, aber schließlich war es vollbracht, und als mir die

Gentlemen die silberne Rahmkanne verehrten, die, unter uns

gesagt, in meinem Schlafzimmer oben zwischen dem Bett und

der Matratze steckt und die eingravierte Widmung trägt: »Für

Mrs. Lirriper als ein Zeichen dankbarer Hochachtung für ihr

ehrenwertes Verhalten«, da gab es mir einen Ruck, der zuviel für

meine Gefühle war, bis Mr. Betley, der gern seinen Spaß

machte, zu mir sagte:

machte, zu mir sagte:

»Fassen Sie sich, Mrs. Lirriper! Sie sollten die Sache so

ansehen, als wäre es bloß Ihre Taufe und dies wären Ihre Paten,

die für Sie gelobten.«

Das brachte mich wieder zu mir selbst, und ich gestehe offen,

meine Liebe, daß ich darauf ein Butterbrot und ein wenig Sherry

in ein Körbchen tat und auf dem Außensitz der Postkutsche zum

Friedhof in Hatfield fuhr. Dort küßte ich meine Hand und legte

sie, während mein Herz von einer Art stolzen Liebe geschwellt

war, auf meines Gatten Grab. Dabei hatte es, bis ich seinen guten

Namen wiederherstellen konnte, wahrhaftig so lange gedauert,

daß mein Ehering ganz dünn und glatt war, als ich die Hand auf

das grüne, wogende Gras legte.

31

Ich bin jetzt eine alte Frau und mein gutes Aussehen ist dahin,

aber das dort über dem Tellerwärmer, meine Liebe, bin trotzdem

ich, auch wenn die Leute oft rot und verlegen werden, weil sie

meistens auf jemand ganz anderes tippen. Aber einmal kam ein

gewisser Jemand, der sein Geld in ein Hopfengeschäft gesteckt

hatte, um seine Miete zu bezahlen und einen Besuch abzustatten,

und er wollte es durchaus vom Haken runternehmen und in seine

Brusttasche stecken – Sie verstehen, meine Liebe –

aus L..., sagte er, zu dem Original –, bloß besaß er keine

Weichheit in seiner Stimme, und ich wollte es nicht zulassen.

Weichheit in seiner Stimme, und ich wollte es nicht zulassen.

Aber, was er davon hielt, können Sie daraus entnehmen, daß er

zu dem Bild sagte: »Sprich zu mir, Emma!« Das war zweifellos

alles andere als eine vernünftige Bemerkung, aber doch ein

Beweis dafür, daß das Bild mir ähnlich war, und ich glaube

selbst, ich habe wirklich so ausgesehen, als ich jung war und

diese Art Mieder trug.

Aber meine Absicht war, von der Pension zu sprechen, und ich

muß wirklich was von dem Geschäft verstehen, da ich schon so

lange darin bin. Es war zu Beginn des zweiten Jahres meiner Ehe,

daß ich meinen armen Lirriper verlor, und gleich darauf ließ ich

mich in Islington nieder und kam danach hierher, was im ganzen

zwei Häuser und achtunddreißig Jahre, einige Verluste und eine

gute Menge Erfahrung ausmacht.

Nach den Zahlungsterminen sind Dienstmädchen Ihre größte

Plage, und sie plagen Sie sogar schlimmer als die Leute, die ich

die wandernden Christen nenne, obgleich es für mich ein

Geheimnis ist (für dessen Aufklärung, wenn es durch irgendein

Wunder geschehen könnte, ich dankbar wäre), weshalb sie auf

der Erde umherwandern, nach Vermieterzetteln Ausschau halten

und dann hereinkommen, sich die Zimmer ansehen und über den

Preis handeln, obwohl sie sie gar nicht brauchen und im Leben

nicht daran denken, sie zu nehmen. Es ist verwunderlich, daß sie

so lange leben und dabei wohlauf sind, aber vermutlich erhält sie

die viele Bewegung gesund, da sie so viel klopfen und von Haus

zu Haus gehen und den ganzen Tag die Treppen hinauf und

zu Haus gehen und den ganzen Tag die Treppen hinauf und

hinunter laufen. Und dann ist es im höchsten Grade erstaunlich,

wenn sie so tun, als ob sie so überaus genau und pünktlich

wären.

Sie blicken auf ihre Uhr und sagen: »Könnten Sie mir die Zimmer

bis übermorgen vormittag zwanzig Minuten nach elf reservieren,

und angenommen meine Freundin vom Lande legt Wert darauf,

könnten Sie dann eine kleine eiserne Bettstelle in das kleine

Zimmer oben stellen?«

Als ich noch ein Neuling im Geschäft war, meine Liebe, pflegte

ich mir's zu überlegen, bevor ich zusagte; ich verwirrte mich ganz

mit Berechnungen und ermüdete mich mit nutzlosem Warten,

aber jetzt pflege ich zu sagen: »Gewiß; ganz bestimmt«, da ich

genau weiß, es ist eine wandernde Christin und sie kommt nie

wieder. Ja, jetzt kenne ich die meisten wandernden Christen

persönlich, ebenso wie sie mich, da jedes derartige Individuum,

das in London unherwandert, die Gewohnheit hat, etwa zweimal

jährlich zu erscheinen, und es ist ein sehr bemerkenswerter

Umstand, daß das Übel erblich ist und die heranwachsenden

Kinder es auch annehmen. Aber selbst wenn es anders wäre, so

brauche ich nur von der Freundin vom Lande zu hören – was ein

sicheres Zeichen ist –, um zu nicken und zu mir selbst zu sagen:

Sie sind eine wandernde Christin, obwohl ich nicht wagen kann

zu behaupten, daß es, wie ich gehört habe, Personen mit einem

kleinen Vermögen 32

sind, die eine Vorliebe für eine regelmäßige Beschäftigung und

häufigen Wechsel des Schauplatzes haben.

Dienstmädchen, wie ich meine Bemerkung begann, sind eine

Ihrer größten und dauernden Plagen, und es geht einem mit ihnen

wie mit den Zähnen, die mit Krämpfen anfangen und niemals

aufhören, Sie zu quälen, von der Zeit, wo sie durchbrechen, bis

aufhören, Sie zu quälen, von der Zeit, wo sie durchbrechen, bis

zur Zeit, wo sie abbrechen, und dabei erscheint es einem hart,

sich von ihnen zu trennen, aber wir müssen alle unterliegen oder

künstliche kaufen. –

Selbst wenn man ein williges Mädchen bekommt, dann bekommt

man in neun von zehn Fällen ein schmutziges Gesicht mit dazu,

und natürlicherweise lieben es die Mieter nicht, wenn vornehme

Besucher mit einem schwarzen Fleck über der Nase oder

schmierigen Augenbrauen eingelassen werden. Wo sie das

Schwarz herkriegen, ist für mich ein unergründliches Geheimnis,

wie in dem Fall des willigsten Mädchens, das je in ein Haus kam,

sie war halb verhungert, das arme Ding, und ein so williges

Mädel, daß ich sie die willige Sophy nannte, früh und spät auf

den Knien scheuernd und immer fröhlich, aber stets mit einem

schwarzen Gesicht lächelnd. Ich sagte zu Sophy:

»Nun, Sophy, mein gutes Mädchen, setze dir einen bestimmten

Tag für die Kamine fest, gehe stets der Schuhwichse aus dem

Weg, kämme dein Haar nicht mit Pfannenböden und rühre die

abgebrannten Kerzendochte nicht an, dann muß es doch

notwendigerweise ein Ende nehmen.«

Doch das Schwarz blieb, und stets auf ihrer Nase; und da diese

aufgeworfen und an der Spitze breit war, so hatte es den

Anschein, als ob sie damit prahlte, und es hatte auch eine

Warnung zur Folge von einem ruhigen, aber ein wenig reizbaren

Gentleman und ausgezeichneten wöchentlichen Mieter mit

Frühstück und Benutzung eines Wohnzimmers auf Verlangen,

Frühstück und Benutzung eines Wohnzimmers auf Verlangen,

der zu mir sagte:

»Mrs. Lirriper, ich bin so weit gekommen zuzugestehen, daß die

Schwarzen Menschen und Brüder sind, aber nur wenn die Farbe

natürlich ist und nicht abgerieben werden kann.«

Infolgedessen gab ich der armen guten Sophy andere Arbeit und

verbot ihr strikt, die Tür zu öffnen, wenn es klopfte, oder auf ein

Klingelzeichen herbeizulaufen, aber 33

unglücklicherweise war sie so willig, daß sie nichts davon

zurückhalten konnte, die Küchentreppe hinaufzufliegen, so oft

eine Klingel ertönte. Schließlich fragte ich sie.

»O Sophy, Sophy, um des lieben Himmels willen, woher kommt

es bloß?«

Darauf brach dieses arme, unglückliche, willige Geschöpf in

Tränen aus und erwiderte:

»Ich nahm eine Menge Schwarz in mich auf, Ma'am, als ich ein

kleines Kind war, da sich damals niemand um mich kümmerte,

und ich denke, das muß es sein, was da herauskommt.«

Da es nun bei dem armen Ding immer weiter herauskam und ich