Skizzen aus dem Londoner Alltag

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Skizzen aus dem Londoner Alltag
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Charles Dickens

Skizzen aus dem Londoner Alltag

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Scenen - Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Eilftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebenzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Charaktere - Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Eilftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Erzählungen - Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Eilftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Impressum neobooks

Erstes Kapitel
Der Kirchspieldiener. – Die Kirchspielfeuerspritze. – Der Schulmeister.

Wie viel ist nicht in dem einzigen kleinen Wörtchen »Kirchspiel« enthalten? Wie viele Geschichten von Kummer und Elend, von vernichtetem Glück und zu Grabe getragenen Hoffnungen, nicht selten aber auch von eisenstirniger Schuftigkeit und triumphirender Büberei knüpfen sich an dasselbe. Da ist ein armer Mann mit großer Familie, der nur geringen Verdienst hat, welcher gerade hinreicht, um von der Hand in den Mund, das heißt, von einem Tage zum andern zu leben; er kann nur so viel erwerben, um die Bedürfnisse des Augenblicks zu befriedigen, ohne im Stande zu sein, etwas für die Zukunft zurückzulegen; seine Steuern kommen in Rückstand; das erste Quartal geht vorüber; ein anderes kommt heran, er hat selbst nichts mehr zu leben – nun wird er vor das Kirchspiel berufen.

Seine Habseligkelten werden verkauft, seine Kinder jammern vor Kälte und Hunger, und das einzige Bett, auf dem sein krankes Weib darnieder liegt, wird unter ihr weggenommen. – Was kann er thun? An wen kann er sich um Hilfe wenden? Darf er die Unterstützung der Privaten angehen? sich an einzelne wohlthätige Personen wenden? Gewiß nicht, dafür ist sein Kirchspiel da.

Da ist die Kirchspiels-Verwaltung, das Kirchspiels-Spital, der Arzt, die Beamten und der Diener des Kirchspiels. Vortreffliche Einrichtungen und edle, liebreiche Menschen. Das Weib stirbt – sie wird auf Kosten des Kirchspiels beerdigt. Die Kinder haben keinen Beschützer – das Kirchspiel übernimmt die Sorge für sie. Der Mann vernachlässigt im Anfange seine Arbeit, am Ende kann er keine mehr bekommen – er erhält Unterstützung vom Kirchspiel; und wenn Elend und Trunkenheit ihr Werk an ihm völlig gethan haben, so ist endlich das Kirchspiels-Irrenhaus sein Ziel, das ihn als einen harmlos plappernden Blödsinnigen erhält.

Der Kirchspielsdiener oder Büttel ist eines der wichtigsten, vielleicht das wichtigste Mitglied der Gemeindeverwaltung. Er ist freilich weder so hoch gestellt, als die Kirchenvorsteher, noch so gelehrt, als der Kirchspielschreiber, auch steht es ihm nicht so vollständig zu, den Gang der Gemeinde-Angelegenheiten anzuordnen, wie einer von diesen; aber seine Macht ist nichts destoweniger sehr ansehnlich, und nie vergibt er seiner Seits der Würde seines Dienstes etwas, was dazu beitragen könnte, diese zu behaupten. Der Diener unseres Kirchspiels ist ein vortrefflicher Kerl. Es ist höchst ergötzlich ihm zuzuhören, wenn er an Sitzungsabenden den alten, tauben Weibern im Vorzimmer des Sitzungssaales die Armengesetze erklärt; wie er ihnen mittheilt, was er zu dem Kirchenältesten sagte, und was der Kirchenälteste zu ihm gesagt hat, und wie »wir« (nämlich der Büttel und die anderen Herren) endlich einen Beschluß gefaßt haben.

Ein elend aussehendes Weib, deren Aeußeres von der fürchterlichsten Noth zeugt, wird in das Sitzungszimmer berufen. Sie gibt an, daß sie eine Wittwe mit sechs kleinen Kindern sei. »Wo ist Eure Wohnung?« fragt einer der Kirchspielsaufseher. »Schon seit sechzehn Jahren wohne ich bei Herrn Brown, Nummer 3, König Wilhelmsgäßchen, zwei Treppen hoch nach hinten, meine Herrn: dieser kennt mich als sehr fleißig und unverdrossen, und wie mein Mann noch am Leben war, meine Herrn, der im Hospitale starb . . .« »Schon gut, schon gut,« unterbricht sie der Aufseher, indem er sich die Angabe notirt; »ich werde morgen früh Simmons, den Kirchspielsdiener, hinschicken, um sich zu erkundigen, ob Eure Angaben wahr sind; ist dem so, so werden wir Euch in das Armenhaus aufnehmen. – Simmons, gehen Sie morgen früh vor allem Andern in die Wohnung dieser Frau. Vergessen Sie's nicht.« Simmons nickt bejahend und führt das Weib ab. Die Ehrfurcht, welche ihr die Mitglieder der Kirchspielsversammlung eingeflößt, die alle hinter großen Büchern mit den Hüten auf dem Kopfe dasitzen, löst sich dem Respekte vor ihrem mit Borten geschmückten Begleiter gegenüber in Nichts auf; und ihre Erzählung von dem, was im Sitzungssaale vorgekommen, erhöht – wenn es je noch möglich ist – die hohe Achtung, welche diesem ausgezeichneten Bediensteten von den anwesenden Armen erwiesen wird.

 

Es wäre aber auch rein unmöglich, einen Auftrag im Namen des Kirchspiels gleich Simmons zu besorgen. Er weiß alle Titel des Lordmajors auswendig, richtet seine Aufträge aus, ohne nur einmal zu stottern, ja man will sogar wissen, daß er sich einst einen Scherz mit ihm erlaubt habe, der, wie des Lordmajors erster Kammerdiener (welcher zufällig zugegen gewesen) nachher einem genauen Freund im Vertrauen mittheilte, fast einem Scherze des Herrn Hobler gleichkam.

Man muß ihn aber vollends Sonntags in seinem Staatskleide, mit seinem dreieckigen Hute auf dem Kopfe, den Staatsstock mit einem großen Knopfe in seiner Linken und ein kleines spanisches Rohr zum Gebrauche in seiner Rechten sehen.

Wie feierlich er die Kinder an ihre Plätze weist; mit welch' scheuer Ehrfurcht die kleinen Knirpse nach ihm blicken, wenn er sie, nachdem Alle sitzen, mit einer Amtsmiene überschaut, die nur Kirchspielsdienern eigen ist. Haben die Kirchenvorsteher und Aufseher nach der Ordnung in ihren verhängten Kirchenstühlen Platz genommen, so nimmt auch er seinen eigenen für ihn bestimmten Mahagonisitz, ganz oben im Kirchgange, ein, und theilt seine Aufmerksamkeit zwischen seinem Gebetbuche und den Knaben.

Plötzlich, gerade beim Anfange des Gottesdienstes, während die ganze Versammlung in tiefes Schweigen versunken ist, das blos durch die Stimme des Geistlichen unterbrochen wird, hört man an dem Platze der Kinder mit weit sich verbreitendem Klange einen Penny auf das steinerne Pflaster des Kirchganges fallen. Alles sieht auf den Büttel. Unfreiwillig drückt er einigen Schrecken aus, zeigt aber im Augenblick eine so vollkommene Gleichgültigkeit, als wenn er die einzige Person wäre, die den Klang nicht gehört hätte. Die List gelingt. Der Schuldige, der die Münze hat fallen lassen, fühlt bald mit dem rechten bald mit dem linken Fuß darnach, und wagt es dann sogar, sich ein paar Mal nach ihr zu bücken; der Kirchspielsdiener aber hat sich inzwischen leise näher geschlichen, und so wie der kleine runde Kopf wieder über den Sitzen emporkommt, begrüßt er ihn etwas unsanft mit dem vorbesagten spanischen Rohre, zum ausnehmenden Vergnügen dreier jungen Leute, die in einem Kirchenstuhle in der Nähe sitzen und bis zum Ende der Predigt hie und da von einem heftigen Husten befallen werden.

Dieß sind einige wenige Züge von der Wichtigkeit und dem Ernste eines Kirchspielsdieners – ein Ernst, von dem er sich, so viel wir haben beobachten können, nie und unter keinen Umständen trennt, den einzigen Fall ausgenommen, wenn die Dienste jener besonders nützlichen Maschine, der Kirchspielsfeuerspritze, in Anspruch genommen werden. Dann hört man freilich nichts, als einen rührigen tollen Lärm. Ein paar kleine Knaben laufen, so schnell als sie ihre Füße tragen können, zum Kirchspielsdiener und hinterbringen ihm, daß sie selbst einen benachbarten Schornstein hätten brennen sehen. Die Feuerspritze wird nun schleunig hervorgezogen, eine hinreichende Menge von Knaben herbeigeholt, mit Stricken vor die Spritze gespannt, und fort rasselt diese über das Pflaster. Der Kirchspielsdiener rennt – wir übertreiben nicht – rennt athemlos neben her, bis man vor einem stark nach Ruß riechenden Hause anlangt, an dessen Thüre der Würdenträger mit unabweichlichem Ernste eine halbe Stunde lang klopft. Wenn die Hausbewohner diesen Manipulationen keine Aufmerksamkeit schenken, so wird Wasser herbeigeschafft, die Spritze gegen das Haus gerichtet, und nachdem sie eine hinreichende Menge Wasser ausgeworfen, unter dem Lärmen der Knaben wieder nach dem Armenarbeitshause gezogen. Der Büttel aber »zieht« des andern Tags nach der Wohnung des unglücklichen Mannes, und fordert den Betrag seiner gesetzlichen Belohnung. Wir haben nur ein einzigesmal eine Kirchspielsfeuerspritze bei einem wirklichen Brande gesehen. Sie rasselte mit einer Schnelligkeit von drei und einer halben Meile in der Stunde heran. An Wasser fehlte es nicht, und sie war die erste auf dem Platze. Die Pumpen arbeiteten Schlag auf Schlag – das Volk schrie erschrecklich – der Kirchspielsdiener troff von Schweiße; allein, als man eben das Feuer zu bewältigen dachte, machte man unglückseliger Weise die Entdeckung, daß sich Niemand auf das Füllen der Feuerspritze verstand – ein Umstand, welchem es zuzuschreiben war, daß sich achtzehn Knaben und ein Mann zwanzig Minuten lang im Pumpen erschöpft hatten, ohne nur die geringste Wirkung hervorzubringen.

Die Nächsten im Ansehen nach dem Kirchspielsdiener sind der Hausmeister des Armenhauses und der Schulmeister des Kirchspiels. Der Kirchspielschreiber ist, wie Jedermann weiß, ein kurzes, dickes Männchen, schwarz gekleidet, mit einer dicken goldenen Uhrkette von ansehnlicher Länge, an der zwei große Petschafte und ein Uhrschlüssel hängen. Er ist ein Rechtsgelehrter und gewöhnlich sehr geschäftig, doch nie mehr, als wenn er seine Handschuhe in der einen Hand zusammenwickelt und ein großes rothes Buch unter dem andern Arm zu einem Parochialgeschäft eilt. Was die Kirchenvorsteher und Aufseher anbelangt, so übergehen wir sie mit einander, weil wir Alle von ihnen wissen, daß sie in der Regel achtungswerthe Gewerbsleute sind, Hüte mit flachem Rande tragen, und gelegentlich merkwürdige Vorfälle der Kirche, wie z. B. das wichtige Ereigniß, daß eine Emporkirche vergrößert oder verschönert, oder eine Orgel neu gebaut wurde, mit goldenen Buchstaben auf blauem Grunde, an leicht in die Augen fallenden Stellen verewigen.

Der Hausmeister in unserem Kirchspiele – wie wohl auch in den meisten andern – gehört nicht zu jener Klasse von Menschen, die bessere Tage gesehen und sich mit dem, was davon übrig geblieben, in untergeordneter Lage hinschleppen, während ihnen gerade genug Erinnerung an die Vergangenheit bleibt, um sich gedemüthigt zu fühlen und mit der Gegenwart unzufrieden zu sein. Wir sind selbst nicht genau überzeugt, welchen Stand der Mensch früher eingenommen hat; doch glauben wir, daß er eine untergeordnete Art von Schreiber bei einem Advokaten war, oder etwa auch Lehrer bei einer Nationalschule: was er übrigens auch gewesen sein mag, so viel ist klar, daß seine gegenwärtige Stellung eine Verbesserung zu seinen Gunsten war. Sein Einkommen ist allerdings klein, wie der abgeschabte schwarze Rock und der abgetragene Sammetkragen darthun; allein er darf doch keine Hausmiethe bezahlen, erhält ein beschränktes Quantum von Kohlen und Licht, und eine unbeschränkte Autorität in seinem kleinen Königreiche. Er ist ein großer, hagerer Mann, trägt stets Schuhe und schwarze wollene Strümpfe zu seinem Oberrocke, und blickt Jeden, der an dem Fenster seines Wohnzimmers vorübergeht, an, gerade als ob er wünschte, daß er ein Kirchspielsarmer wäre, um ihn seine Macht fühlen zu lassen. Er ist das klare Muster eines kleinen Tyrannen – wunderlich, grob und übellaunig gegen seine Untergebenen, kriechend gegen seine Vorgesetzten, und eifersüchtig auf des Kirchspielsdieners Ansehen und Einfluß.

Unser Schulmeister ist gerade das Gegenstück dieses liebenswürdigen Würdenträgers. Es ist einer von jenen Menschen gewesen, von denen man zuweilen hört, daß auf sie das Mißgeschick sein besonderes Augenmerk gerichtet zu haben scheint, weil nichts, was er auch immer thun mochte, oder wobei er betheiligt war, gelingen wollte. Ein reicher alter Verwandter, der ihn erzogen und öffentlich seine Absicht ausgesprochen hatte, für ihn zu sorgen, vermachte ihm in seinem letzten Willen 10,000 Pfund, und widerrief diese Verfügung durch ein Codicill. Auf solche Weise unerwartet in die Nothwendigkeit versetzt, für sich selbst sorgen zu müssen, verschaffte er sich eine Anstellung im öffentlichen Dienste. Die jüngeren Angestellten, die er hinter sich hatte, starben, als wenn die Pest unter ihnen gewüthet hätte; aber die ältern vor ihm, auf deren Tod er sehnsüchtig wartete, blieben fort und fort am Leben, als ob sie unsterblich wären. Er spekulirte und verlor. Er spekulirte abermals und gewann, aber er gelangte nie zu seinem Gelde. Seine Talente waren ansehnlich, seine Gemüthsart liebreich, edel und freigebig. Seine Freunde benützten das Eine und mißbrauchten das Andere. Verlust folgte auf Verlust; Unglück häufte sich auf Unglück; jeder neue Tag brachte ihn in größere Noth, und die ehemaligen Freunde, welche gerade die wärmsten waren, so lange er etwas zu geben hatte, zeigten sich befremdend kalt und teilnahmslos, als nichts mehr von ihm zu erlangen war. Er hatte Kinder, die er liebte, und eine Gattin, die er anbetete; die ersten wandten ihm den Rücken zu, die Letztere starb gebrochenen Herzens. Er ließ sich von dem Strome fortreißen – es war von jeher sein Fehler gewesen, und er besaß nicht Muth genug, gegen so viele Stürme anzukämpfen – er hatte nie für sich selbst gesorgt, das einzige Wesen, das ihn in Armuth und Elend gepflegt, war ihm entrissen. Er war nun genöthigt, um die Unterstützung des Kirchspiels nachzusuchen. Einige edelherzige Männer, die ihn in besseren Zeiten gekannt hatten, waren gerade dieses Jahr zu Kirchenvorstehern gewählt worden, und auf ihre Verwendung erhielt er seine gegenwärtige Stelle.

Er ist nunmehr ein alter Mann geworden. Von den Vielen, die sich einst mit all' der hohlen Freundschaft einer so betitelten guten Kameradschaft um ihn drängten, sind einige gestorben, andere gleich ihm gefallen, wieder andere glücklich geworden – vergessen haben ihn Alle. Zeit und Unglück haben glücklicher Weise dazu beigetragen, sein Gedächtniß zu schwächen, und durch Gewohnheit ist ihm seine gegenwärtige Lage erträglich geworden. – Sanftmüthig, unverdrossen und eifrig in der Erfüllung seiner Pflichten, wie er ist, hat man ihm gestattet, lange über die gewöhnliche Altersperiode in seinem Amte zu bleiben, und es ist nicht zu zweifeln, daß er darin ausdauern wird, bis Gebrechlichkeit ihn dazu unfähig macht, oder der Tod ihn davon erlöst. Wenn der alte Mann mit seinem grauen Haupte auf der Sonnenseite seines kleinen Hofraumes zwischen den Schulstunden schwankenden Schrittes auf- und abgeht, dann würde es selbst den Vertrautesten seiner ehemaligen Freunde schwer werden, in der Person des Armenschulmeisters den einst so muntern und glücklichen Gefährten ihrer Lustbarkeiten wieder zu erkennen.

Zweites Kapitel
Der Pfarrer. – Die alte Dame. – Der Halbsold-Kapitän.

Wir begannen das vorige Kapitel mit dem Diener unseres Kirchspiels, weil wir keine geringe Meinung von der Würde und Wichtigkeit dieses Dienstes haben. Wir wollen nun das gegenwärtige mit dem Geistlichen anfangen. Unser Pfarrer ist ein junger Herr, von einnehmendem Aeußern und solch bezaubernden Wesen, daß kaum ein Monat nach seinem ersten Auftreten in dem Kirchspiele abgelaufen war, als auch schon die eine Hälfte unserer jungen Damenwelt in eine religiöse Schwermuth, und die andere Hälfte in hoffnungslose Liebe versank. Nie hatte man früher Sonntags eine solche Zahl junger Frauenzimmer in unserer Pfarrkirche gesehen, und nie war den niedlichen, runden Engelsgesichtchen auf Mr. Tomkins' Grabmale im Seitengange eine so inbrünstige Andacht zu Theil geworden, als wie sie die jungen Kirchengängerinnen jetzt an den Tag legten. Der Pfarrer war zu der Zeit, als er das erste Mal auftrat, um unsere Pfarrgenossen in Bewunderung und Erstaunen zu setzen, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt; er trug sein Haar auf der Mitte der Stirn, nach der Form eines sächsischen Bogens gescheitelt, einen Brillant vom ersten Wasser an dem vierten Finger der linken Hand (die er stets an seine linke Wange hielt, wenn er Gebete las) und hatte eine ungewöhnlich feierliche, tiefe Grabesstimme. Unzählig waren die Besuche, welche kluge Mütter unserm neuen Pfarrer machten; unzählig die Einladungen, mit denen er bestürmt wurde und die er, wir müssen ihm Gerechtigkeit wiederfahren lassen, willfährig annahm. Hatten schon seine Manieren auf der Kanzel einen für ihn günstigen Eindruck hervorgebracht, so wurde derselbe durch sein Erscheinen in der Gesellschaft noch zehnfältig vergrößert. Die Kirchenstühle in unmittelbarer Nähe der Kanzel oder des Altars stiegen im Preise; Sitze im Mittelgange waren noch mehr werth; nur ein zollbreit Raum auf den vordersten Sitzen der Emporkirche konnte man sich aber weder durch Geld noch gute Worte verschaffen, und gewisse Leute gingen sogar so weit, zu versichern, daß sie die drei Miß-Browes, die einen dunkeln Kirchenstuhl dicht hinter dem der Kirchenvorsteher inne hatten, eines Sonntags auf den freien Plätzen am Altar bemerkt hätten, augenscheinlich, um den Pfarrer, wenn er in die Sakristei ging, an sich vorüber zu lassen. Dieser fing an Stunden zu halten, und nun ergriff die Ansteckung sogar die bedächtigen Väter. Einst verließ er in einer Winternacht nach halb ein Uhr das Bett, um an dem Kinde einer Wäscherin in einer Waschkufe die Nothtaufe vorzunehmen, und die Dankbarkeit der Pfarrgenossen kannte nun keine Gränzen mehr – sogar die Kirchenvorsteher wurden freigebig und brachten es dahin, daß die Kosten für einen Wagen, den der Pfarrer sich hatte machen lassen, um bei schlechtem Wetter den Leichengottesdienst besorgen zu können, von dem Kirchspiele übernommen wurden. Er schickte einer armen Frau, die auf einmal mit vier Kindern niedergekommen war, drei Pinten Fleischbrühe und ein Viertelpfund Thee – das Kirchspiel war entzückt. – Er veranstaltete eine Subscription für die Wöchnerin – ihr Glück war gemacht. Er sprach eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten in einer Anti-Sklaverei-Versammlung im Wirthshause zum Gestiefelten Bock. Der Enthusiasmus hatte seinen höchsten Gipfel erreicht. Man machte den Vorschlag, dem Pfarrer für seine ausgezeichneten Dienste, die er dem Kirchspiele geleistet, mit einem Stück Silbergeschirr ein Geschenk zu machen. Die Subscriptionsliste blieb zwar lange leer, aber die Ursache rührte nicht daher, daß irgend Jemand der Subscription entrinnen wollte, sondern vielmehr davon, weil man nicht wußte, wer den Anfang mit dem Unterzeichnen machen sollte; kaum war aber dieß geschehen, so war der Subscriptionsbogen im Nu gefüllt. Man ließ ein prachtvolles silbernes Schreibzeug mit einer passenden Umschrift verfertigen und lud den Pfarrer zu einem öffentlichen Frühstück in dem, vorerwähnten Gestiefelten Bock ein, wo ihm das Schreibzeug durch Herrn Gubbins, den Exkirchenvorsteher, mit einer zierlichen Rede überreicht wurde, die sodann der Pfarrer in Ausdrücken beantwortete, welche allen Anwesenden Thränen entlockten, so daß selbst die Kellner vor Rührung zerschmelzen wollten.

 

Man sollte nun wohl annehmen dürfen, daß der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung unter solchen Umständen bereits den höchsten Gipfel der Beliebtheit erreicht hätte. – Keineswegs! Der Pfarrer fing an zu husten, – eines Morgens hustete er vier Mal zwischen der Litanei und Epistel, und fünf Mal beim Nachmittagsgottesdienste. – Da war es klar – der Pfarrer hat die Schwindsucht. Welch interessante Schwermuth! Waren die jungen Damen vorher bis zur Ueberspannung gereizt, so kannte ihre Sympathie und ihre Bekümmerniß nun keine Gränzen mehr. So ein Mann wie der Pfarrer – so ein theurer – so ein liebenswürdiger Mann sollte schwindsüchtig sein! Es war zu viel. Anonyme Geschenke, bestehend aus bewährtem Brustthee und Hustenzucker, elastische Westen, Flanellwämser und warme Strümpfe kamen in Haufen in das Haus des Pfarrers, bis er so vollständig mit Winterkleidern ausgestattet war, als hätte er im Sinne, eine Reise nach dem Nordpol zu unternehmen. Bulletins über seinen Gesundheitszustand liefen des Tags ein halbes Dutzend Mal im ganzen Kirchspiele umher, und der Pfarrer befand sich im Zenith seiner Popularität.

Um diese Zeit trat in den Gesinnungen des Kirchspiels eine Veränderung ein. Ein sehr ruhiger, achtungswürdiger, stiller, alter Mann, der seit zwölf Jahren die Predigerstelle in der Kapelle versehen hatte, starb an einem schönen Morgen plötzlich, ohne daß er von diesem Todesvorhaben etwas hätte vorher merken lassen. Dieser Umstand gab Veranlassung zum ersten Gegeneindruck, und die Ankunft seines Nachfolgers zum zweiten. Dieser war ein blasser, schmächtiger, leichenhaft aussehender Mann, mit großen schwarzen Augen und langem, straffem, schwarzem Haare; seine Kleidung war nachlässig bis zum Uebermaße, seine Manieren tölpisch, seine Vorträge abscheulich, kurz, er war in jeder Hinsicht das Gegenstück des Pfarrers. Unsere weiblichen Pfarrgenossen strömten haufenweise hin, um ihn zu hören; zuerst weil er ein so sonderbares Aussehen hatte, dann, weil sein Gesicht so ausdrucksvoll war; ferner, weil er so gut predigte; und endlich, weil sie wirklich glaubten, daß etwas ganz Unbeschreibliches in seinem Wesen läge. Was nun den Pfarrer anbelangt, so war dieser ohne Zweifel gerade wie vorher; aber doch ließ sich trotz dem nicht läugnen, daß – daß – kurz der Pfarrer war nicht mehr neu, und der andere Geistliche war es. Die Unbeständigkeit der Volksgunst ist zum Sprichworte geworden; seine Zuhörer verließen ihn, Einer nach dem Andern. Der Pfarrer hustete, bis er ganz schwarz im Gesicht wurde, – es war vergeblich. Er konnte nur mit Anstrengung Athem holen – es war eben so unwirksam, Theilnahme für sich zu erwecken. Man kann nun auf ein Mal wieder in jedem Theile unserer Pfarrkirche Sitze bekommen, während man damit umgeht, die Kapelle zu erweitern, da sie jeden Sonntag bis zum Ersticken angefüllt ist.

Von allen Bewohnern des Kirchspiels ist Niemand bekannter und geachteter, als eine alte Dame, die in unserem Kirchspiele schon lange gewohnt hat, ehe noch unser Name ins Taufregister eingetragen wurde. Unser Kirchspiel gehört zu den Vorstädten, und die alte Dame bewohnt ein Haus in einer hübschen Reihe – zur Straße fehlt nämlich noch die zweite – in der lebhaftesten und angenehmsten Gegend des Kirchspiels. Das Haus ist ihr Eigenthum und trägt noch innen und außen – mit Ausnahme der alten Dame selbst, die etwas weniges älter aussieht, als vor zehn Jahren – vollkommen dasselbe Aussehen, wie es zu Lebzeiten des alten Herrn war. Das kleine Wohnzimmer an der Vorderseite, der gewöhnliche Aufenthaltsort der alten Dame, ist das treffendste Muster von Stille und Sauberkeit; der Bodenteppich ist mit einem Stücke grauer Leinwand bedeckt; die Spiegel und die Gemälderahmen sind sorgfältig in gelbem Musselin eingehüllt; die Tischteppiche dürfen nie weggenommen werden, als wenn die Tischblätter mit Terpentin abgerieben und gewichst werden, ein Prozeß, der einen Tag um den andern Morgens um halb zehn Uhr vor sich geht; Alles, vom Kleinsten bis zum Größten, hat seinen bestimmten Platz und darf nicht verrückt werden, namentlich auch die niedlichen Sächelchen, deren größerer Theil aus Geschenken besteht, welche die alte Dame von kleinen Mädchen, deren Eltern in derselben Reihe wohnen, erhalten hat, in deren Besitz sie zum Theil schon seit vielen Jahren ist, wie z. B. die beiden altmodischen Uhren (von denen die eine gewöhnlich eine halbe Stunde zu spät, die andere eine halbe Stunde zu früh geht), das kleine Gemälde, das die Prinzessin Charlotte und den Prinzen Leopold vorstellt, wie sie sich in der königlichen Loge des Drurylane-Theaters zeigen, u. dgl. Hier sitzt nun die alte Lady, mit der Brille auf der Nase, und emsig mit Nähtereiarbeit beschäftigt, zur Sommerzeit am Fenster, und wenn sie dich, lieber Leser, die Stufen der Treppe heraufkommen sieht, und du hast das Glück, zu ihren Günstlingen zu gehören, so trippelt sie hinaus, um dir die Hausthüre zu öffnen, ehe du klopfst, und nöthigt dir, wenn dich das Gehen in der Hitze ermüdet hat, ein paar Glas Xeres auf, ehe sie dich zum Sprechen gelangen läßt. Besuchst du sie Abends, so findest du sie zwar nicht minder liebenswürdig, doch ein wenig ernster als sonst; dann liegt eine Bibel auf dem Tische vor ihr aufgeschlagen, aus welcher »Sarrah«, die eben so niedlich gekleidet, und eben so pünktlich als ihre Herrschaft ist, regelmäßig zwei oder drei Kapitel laut vorliest. Die alte Dame sieht, mit Ausnahme der vorerwähnten kleinen Mädchen, selten Gesellschaft bei sich; von diesen aber hat jedes seinen bestimmten Tag, an dem es zum Thee kommen darf, und auf den sich die Kinder im Voraus freuen, als wenn sie zum größten Feste geladen wären, oder als ob ihre Existenz davon abhinge. Sie macht selten entferntere Besuche, als in ihre beiden Nachbarwohnungen zur rechten und linken Seite, und wenn sie dorthin zum Thee geht, so springt Sarah voran und klopft zwei Mal heftig, um jeder Möglichkeit vorzubeugen, daß »Missiß« sich durch Warten vor der Thüre erkälte.

Sie ist sehr gewissenhaft darin, jede Einladung pünktlich zu erwiedern, und wenn sie Herrn und Madame So und So und Herrn und Madame Der und Die zu sich bitten läßt, so wird von ihr und Sarah die Theemaschine und das schönste chinesische Theeservice und das Theebrett mit der Päbstin Johanna sorgfältig abgestäubt, und die Gäste werden im größten Putze und im Besuchszimmer empfangen. Sie hat nur wenige Verwandte, die in verschiedenen Theilen des Landes zerstreut wohnen, und die sie daher selten sieht. Sie hat einen Sohn in Ostindien, den sie Jedermann als einen sehr hübschen, liebenswürdigen, jungen Mann schildert – dem Gemälde seines armen seligen Vaters, das an der Wand hängt, sprechend ähnlich; aber die alte Dame fügt mit traurigem Kopfschütteln hinzu, daß er ihr viel Leid angethan und ihr das Herz fast gebrochen; doch habe es Gott gefallen, sie darin zu bestärken, daß sie nur das Bessere von ihm glaube, weßhalb sie bitte, ja des Gegenstandes nimmer zu erwähnen. Sie hat eine große Menge Hausarme, und wenn sie des Sonnabends vom Wochenmarkte zurückkehrt, so findet sie auf der Hausflur eine regelmäßige Versammlung alter Männer und Frauen, die auf ihr wöchentliches Almosen warten. Ihr Name steht auf allen Subscriptionslisten für wohlthätige Zwecke immer obenan, und ihre Beiträge zu der Winter- Feuerungs- und Suppen-Vertheilungs-Gesellschaft sind stets die freigebigsten. Sie unterzeichnete zwanzig Pfund zur Errichtung einer Orgel in unserer Pfarrkirche und wurde am ersten Sonntag, als die Kinder nach derselben sangen, so ergriffen, daß sie durch den Kirchenstuhlschließer nach Hause geführt werden mußte. Ihr Eintritt in die Kirche ist stets das Zeichen zu einem kleinen Geräusch im Seitengange, welches durch das gemeinsame Aufstehen der armen Leute veranlaßt wird, die gebückt und höflich stehen bleiben, bis der Kirchenstuhlschließer die alte Dame in ihren gewöhnlichen Kirchenstuhl begleitet, sich ehrfurchtsvoll verbeugt, und die Thüre wieder geschlossen hat. Dieselbe Ceremonie wiederholt sich, wenn sie die Kirche verläßt und mit der ihrem Hause zunächst wohnenden Familie heimkehrt, mit welcher sie auf dem ganzen Wege über die Predigt spricht, nachdem sie unabänderlich die Unterredung dadurch eröffnet hat, daß sie den jüngsten Knaben nach dem Texte fragt.

Auf diese Weise bringt die alte Dame ihr Leben hin, mit der einzigen Abwechslung, daß sie jedes Jahr einen kurzen Ausflug nach der Seeküste macht, und dort einige Zeit ein stilles Häuschen bewohnt. Ihr Leben ist nun in demselben unveränderten wohlthätigen Laufe so viele Jahre dahin gerollt, und dessen Ende wird wohl nimmer sehr ferne sein, dem sie übrigens mit Ruhe und ohne Zagen entgegen sieht. Sie hat Alles zu hoffen und Nichts zu fürchten.

Sehr verschieden von der alten Dame ist einer ihrer nächsten Nachbarn, der sich in unserem Kirchspiele einen großen Ruf erworben hat. Es ist ein alter Seeoffizier auf halbem Sold und sein rauhes und rücksichtloses Benehmen bringt in die häuslichen Gewohnheiten der alten Dame nicht wenig Störung.

Zuvörderst raucht er im Vorhofe Cigarren, und wenn es ihm zuweilen einfällt, dazu zu trinken, was keineswegs ein ungewöhnliches Ereigniß ist, so hebt er mit seinem Spazierstocke der alten Dame Thürklopfer in die Höhe und bittet, ihm ein Glas Ale über das Geländer zu reichen. Dann kommt noch, zu diesem unmanierlichen Betragen, daß er eine Art von Tausendkünstler, oder um sich seiner eigenen Worte zu bedienen, »ein förmlicher Robinson Crusoe« ist, und nichts macht ihm mehr Vergnügen, als an dem Eigenthum der alten Dame Experimente anzustellen.