Buch lesen: «Schwur auf Rache», Seite 3

Schriftart:

Vorsorglich rief Gernot drei seiner vertrautesten Männer zusammen und bat sie eindringlich, hier am Schloss zu bleiben. Er gab ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu verstehen, dass er Zweifel an Fürst Siegmunds Rolle bei den vergangenen Ereignissen hatte. Auch, dass er bald weggehen würde, um Näheres herauszufinden. Die Männer vereinbarten einen Code für geheime Treffen, bei denen sie ihm die neuesten Entwicklungen am Schloss mitteilen sollten. Keiner der drei zweifelte auch nur einen Augenblick an der Ernsthaftigkeit der Situation und sie sicherten ihrem Hauptmann Verschwiegenheit und jegliche Unterstützung zu, die sie ihm geben konnten.

Am Tag der Trauerfeier begab sich Gernot schon bei Sonnenaufgang zum Kloster. Er hatte Falko versprochen, bei seinem schweren Gang bei ihm zu sein. Da der Junge unmöglich an den Feierlichkeiten teilnehmen konnte, wollte Gernot gemeinsam mit ihm Abschied von den Toten nehmen, bevor die Eskorte eintraf.

Es war geplant, dass Fürst Siegmund mit seinen Soldaten die Überführung der Leichname überwachen würde. Der Weg des Trauerzuges führte durch einen Teil des Fürstentums, vorbei an den getreuen Untertanen, bis zur Schlosskapelle. Dort sollte der Abschiedsgottesdienst von einem Priester gehalten werden, den Siegmund selbst dafür ausgewählt hatte. Schon wieder eine sinnlose Machtdemonstration des neuen Herrschers. Jeder hätte erwartet, dass Pater Johannes, als Beichtvater und Freund der Familie, die Predigt halten würde ... Danach sollten die Toten in der Familiengruft ihre letzte Ruhe finden. Doch bis dahin blieben noch ein paar Stunden Zeit.

Als Gernot das Zimmer des Jungen betrat, saß der schon angekleidet auf der Bettkante. Man konnte deutlich erkennen, dass ihn neben den seelischen auch körperliche Schmerzen plagten. Eine Hand fest auf seine Wunde gepresst, erhob sich Falko tapfer.

„Guten Morgen, Hauptmann - können wir gehen?“

„Wenn du so weit bist?“ Gernot stützte den Jungen, so gut er konnte und sofern der es zuließ.

Falko schien diesen Gang mit einem Stolz und einer Würde zu bewältigen, die man von einem Zehnjährigen eigentlich nicht erwarten konnte. Als sie den Raum betraten, in dem die vier offenen Särge der Fürstenfamilie aufgebahrt waren, ging ein Ruck durch den Leib des Kindes. Besorgt wollte der väterliche Freund den Jüngeren in die Arme nehmen, doch beließ es bei dem Vorhaben, als Falko abwehrend die Hand ausstreckte. Ohne ein Wort zu sagen, trat der Junge mit versteinertem Gesicht an jeden einzelnen Sarg. Zuletzt blieb er bei seinem Vater stehen. Seine Lippen bebten und die grauen Augen verschleierten sich, als er sein Gelübde wiederholte: „Ich schwöre dir, Vater, dass ich dein Erbe zurückfordern werde und das Verbrechen gesühnt wird!“ Dann brach seine Stimme. Nun ließ er sich doch von Gernot in den Arm nehmen und fand so den nötigen Halt, um nicht zusammenzubrechen. Plötzlich fiel sein Blick auf einen fünften Sarg in einer Ecke des Raumes. Seine Größe ließ darauf schließen, dass es sich um einen Kindersarg handelte.

„Was ist damit?“, fragte Falko ohne die Augen davon zu lösen.

Der Hauptmann ging auf die Knie, um so mit dem Jungen auf Augenhöhe zu gelangen.

„Falko, du weißt, dass dich alle für tot halten müssen. Also ist es notwendig, einen fünften Sarg vorzuzeigen. Deinen!“

Wenn den Jungen dieser Sachverhalt erschreckt haben sollte, zeigte er seine Gefühle nicht. Ganz im Gegenteil! Es schien kurz so etwas wie Genugtuung über sein Gesicht zu flackern.

„Das ist also der erste Schritt – nicht wahr? Wir führen Siegmund an der Nase herum. Er fühlt sich in Sicherheit und ich habe Zeit, zu wachsen und meine Rache vorzubereiten! Gut!“

Der Hauptmann atmete tief durch. Da würde eine Menge Arbeit auf ihn zukommen! Er wollte nicht zulassen, dass dieses wunderbare Kind von Kummer und Hass aufgefressen würde.

„Gernot?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Wer liegt denn dann in meinem Sarg?“

„Nun, zuerst wollten wir nur Steine hineinlegen. Doch da wir nicht sicher ausschließen können, ob Fürst Siegmund nicht doch eine Kontrolle durchführen lässt, haben Pater Johannes und ich beschlossen, einen Knaben, aus dem Waisenhaus unten im Tal, darin zu bestatten.“

„Wieso ist er tot?“, fragt Falko rasch.

„Er hatte eine Lungenentzündung! Er war so alt wie du und sah dir sogar sehr ähnlich. Ich bin sicher, deine Eltern werden sich um ihn kümmern, da wo er jetzt ist.“

Falko hatte den Blick ins Leere gerichtet. „Ja - das glaube ich auch!“

In diesem Moment trat Pater Johannes ein. Er strich Falko sanft über den Kopf und sagte an Gernot gerichtet: „Es wird Zeit! Wir müssen die Särge verschließen. Siegmunds Gefolge kann jederzeit eintreffen! Bringt den Jungen wieder zurück und verfahrt weiter wie besprochen.“

Falko warf noch einen letzten Blick auf seine Familie und ließ sich dann bereitwillig von Gernot aus dem Raum führen.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte er später den Hauptmann.

„Ich muss dich leider für ein paar Tage allein lassen. Zunächst reite ich zum Schloss zurück! Jedem würde es sofort auffallen, wenn ich nicht bei der Trauerfeier erscheine. Und wir müssen jegliches Aufsehen vermeiden.“

Falko nickte. „Schon gut! Ich verstehe das! Ich warte hier auf Euch!“

„Auf 'dich', Falko! Gewöhne dich schon mal daran!“

Der Junge nickte. „Bis bald, Onkel Gernot!“

Sie umarmten sich noch einmal ganz fest und trennten sich für unbestimmte, aber nicht allzu lange Zeit.

Falko blieb an diesem Tag nicht alleine. Der Abt hatte einen Plan aufgestellt, nach dem die Brüder sich abwechselnd um das Kind kümmerten. Da alle Mönche des Klosters den kleinen Gast in ihr Herz geschlossen hatten, kamen sie der Aufgabe gern nach.

Gernot dagegen hatte das schwerere Los gezogen. Als er zum Schloss zurückkehrte, hatte er gerade noch Zeit, seine Festuniform anzulegen und seinen Leuten noch einmal die Instruktionen für heute zu wiederholen. Dann bezogen sie ihre Positionen vor der Schlosskapelle und erwarteten die Ankunft des Trauerzuges.

Zunächst betraten einige geladene Gäste das Gotteshaus. Auch Fürstin Dora und ihre Tochter Luise näherten sich ihnen in Begleitung eines Dieners. Gernot musterte die Fürstin genau. Zu seiner Überraschung schien Dora ihre Trauer nicht zu spielen. Sie sah elend und schwach aus. Der Diener musste sie stützen. Das sonst so fröhliche Gesicht der Frau, war zu einer starren Maske gefroren. Sollte sie vielleicht gar nichts von der Intrige ihres Mannes wissen? Dann fiel sein Blick auf etwas, das die kleine, tieftraurige Luise mit der linken Hand an ihr Herz drückte. Erst meinte er sich zu irren, doch dann erkannte er eindeutig einen von Falkos Soldaten. Schließlich hatte er ihn einst selbst geschnitzt. Falko musste Luise sehr gern haben, wenn er ihr eine der Figuren überlassen hatte. Als Dora an Gernot vorbeilief, blieb ihr Blick einen Moment an ihm hängen. Sie wusste, wie eng die Beziehung zwischen dem Hauptmann und der Familie gewesen war. Es sah kurz aus, als wolle sie ihn ansprechen. Doch dann senkte sie den Blick wieder und ging wortlos an ihm vorbei. Nachdenklich runzelte Gernot die Stirn und blickte ihr nach. Er musste unbedingt jemanden damit beauftragen, die Fürstin zu beobachten. Vielleicht gab es ja etwas Interessantes in Erfahrung zu bringen ...

In diesem Augenblick bekam er die Meldung, dass der Trauerzug gleich eintreffen würde und er schob die Gedanken zunächst beiseite.

Abends in seinen Räumen fragte er sich immer wieder, wie er diesen Tag überstanden hatte, ohne Siegmund die Kehle durchzuschneiden.

Der Fürst hatte eine herzerweichende Rede zu Ehren der Verstorbenen gehalten, die jeden Zuhörer, der die Wahrheit nicht kannte, zu Tränen rührte. Gernot machte so viel Heuchelei fast wahnsinnig. Also konzentrierte er sich wieder auf Dora und stellte fest, dass es ihr ähnlich zu gehen schien. Oder bildete er sich das nur ein?

Beim anschließenden Trauermahl sprach die Fürstin kein Wort und entschuldigte sich noch vor dem Dessert mit der Bitte, sich nun zurückziehen zu dürfen. Scheinbar besorgt gab ihr Siegmund die Erlaubnis dazu. Doch in seinen Augen war noch etwas anderes zu erkennen – eine Warnung! Ohne ihren Gatten auch nur eines Blickes zu würdigen, verließ Dora den Saal.

Irgendetwas stimmte da nicht zwischen dem Paar, da war Gernot sich sicher. Er hatte die beiden immer als sehr liebe- und respektvoll miteinander erlebt. Man konnte erwarten, dass sie gerade in der jetzigen Situation zusammenhielten. Es sei denn …, es sei denn, die Fürstin wusste Bescheid, war aber keineswegs damit einverstanden, was ihr Mann getan hatte. Dann würde sie eines Tages sicher zu eine guten Waffe im Kampf für Falkos Rechte werden! Doch im Moment waren das alles nur wilde Spekulationen, die ihm nicht weiterhalfen.

Dora hatte sich gerade für die Nacht zurechtgemacht, als ihre Zimmertür aufgerissen wurde.

Mit wütender Miene trat Siegmund ein. „Willst du mir offiziell den Kampf ansagen oder was hatte dein Auftritt zu bedeuten! Ich warne dich, Dora, wage es nicht, dich öffentlich gegen mich zu stellen, dann lernst du mich kennen.“

Sie sah ihn nur voller Abscheu an und kehrte ihm den Rücken zu. Wütend drehte er sie zu sich herum. „Du bist meine Frau und hast mir zu gehorchen!“ Als sie sich von ihm freimachen wollte, hielt er sie nur noch fester. „Du willst dich mir verweigern? Dazu hast du nicht das Recht!“ Mit diesen Worten schob er sie zum Bett und begann sie zu küssen. Er roch nach Schnaps und Wein. Angewidert ließ Dora sein Drängen über sich ergehen. Wie eine Puppe lag sie unter ihm. Siegmund, der bisher keinen Grund gehabt hatte, sich über ihre gemeinsamen Liebesakte zu beklagen, war so irritiert vom Verhalten seiner Frau, dass seine Männlichkeit versagte. Gedemütigt hielt er inne und zog ihren Kopf an den Haaren nach hinten, so dass Dora einen Schmerzensschrei ausstieß. Er erhob die Hand zum Schlag, ließ sie jedoch wieder sinken. Nachdem er von ihr abgelassen hatte, richtete er seine Sachen und verließ den Raum. Die Fürstin blieb noch eine Weile reglos liegen, bevor sie sich erhob und lautlos weinend ans Fenster trat.

Aufbruch in ein neues Leben

Drei Wochen waren inzwischen vergangen. Gernot hatte um seine Entlassung gebeten und diese, wie erwartet, sofort erhalten. Nun packte er seine gesamte Habe zusammen und bereitete sich auf ein Dasein als einfacher Mann vor. Er hatte noch keine genaue Vorstellung davon, womit er seinen Lebensunterhalt verdienen wollte, aber er konnte zupacken und irgendwie würde er schon für Falko sorgen. Außerdem war er sich sicher, dass ihm sein Freund Bruno bei der Suche nach einer Arbeit helfen würde. Gernot hatte ein zweites Pferd erworben, auf dem er das Gepäck festschnallte. Falko musste er mit auf seines nehmen. Da der Junge nichts mehr besaß, außer dem Wenigen, das er zum Zeitpunkt des Überfalls am Leibe trug, hatte der Hauptmann auch für ihn das Nötigste besorgt.

Am Abend zuvor war Gernot mit seinen Männern zu einem letzten Umtrunk zusammengetroffen. Sie hatten die Lage ausführlich besprochen und er bekam wiederholt von allen vollste Unterstützung zugesichert.

Jetzt ritt er dem Kloster entgegen und seine Gedanken kreisten um die Zukunft mit Falko.

Der erwartete ihn schon am Eingangstor, gemeinsam mit Pater Johannes.

„Endlich bist du da!“, rief ihm der Junge entgegen. Er trug die Kleidung eines einfachen Bauernjungen und von seinem Gesicht war, dank der großen Mütze, die er trug, kaum etwas zu erkennen.

„Es ging nicht schneller. Ich bin einen Umweg geritten, um jeden Verdacht auszuschließen, dass ich hierher will.“ Mit diesen Worten sprang Gernot vom Pferd und umarmte den Jungen und den Abt herzlich.

„Die Brüder haben noch ein einfaches Mittagsmahl vorbereitet, zu dem wir Euch herzlich einladen wollen. Anschließend möchten wir gemeinsam zum Herren beten, um ihn um seinen Segen für Euch und Falko zu bitten.“

„Wir nehmen dankbar an, Pater!“, erwiderte Gernot lächelnd und sie begaben sich hinein.

Er hatte dem Abt während ihres letzten Treffens seine Beobachtungen von der Trauerfeier mitgeteilt und ihn gebeten, Dora im Auge zu behalten. Glücklicherweise hatte sich die Fürstin schriftlich an Pater Johannes gewandt, mit der Bitte, ihr Beichtvater zu werden, solange sie im Schloss verweilt.

„Aber das klingt ja fast so, als hätten sie nicht vor, auf Dauer hierzubleiben. Seltsam!“ Gernot schüttelte ungläubig den Kopf.

„Nein, Ihr missversteht die Situation. Nur die Fürstin hat vor, zur Burg zurückzukehren. Als Begründung dafür gab sie an, ihren alten Wohnsitz nicht vernachlässigen zu wollen.“

Das war ein weiteres Indiz für ein Zerwürfnis zwischen den Eheleuten. Die Sache wurde wirklich interessant. Natürlich wusste Gernot, dass der Abt an das Beichtgeheimnis gebunden war, aber einen Hinweis zur Gesinnung der Fürstin konnte er ihm sicher irgendwann entlocken.

Sie aßen gemeinsam und hielten die Fürbitte ab. Dann bedankten sich Gernot und Falko für alles und machten sich auf den Weg.

Sie brauchten etwa sechs Stunden bis zum Ziel.

Als sie an Brunos Haus ankamen, wurde es gerade dunkel. Auf dem Grundstück befanden sich das Wohnhaus und die Schmiede, sowie ein kleiner Stall und ein Schuppen. Die Begrüßung war sehr herzlich ausgefallen. Gernot und sein Freund hatten sich lange in den Armen gelegen und auch dem Rest der Familie schienen die Ankömmlinge sehr willkommen zu sein. Sie hatten längst zu Abend gegessen, doch Else, Brunos Frau, ließ es sich nicht nehmen, den Besuchern noch eine warme Mahlzeit zu servieren.

Das Paar hatte drei Kinder. Hans war der Älteste und schon vierzehn Jahre alt. Er war lang und dünn und auf seiner Nase fand man die gleichen Sommersprossen, wie auf der seiner Mutter. Peter, der zweite Sohn, und ebenso wie Falko zehn Jahre alt, hatte braunes Haar und freundliche grüne Augen. Dann war da noch Heide, mit sieben Jahren der jüngste Spross der Familie. Sie war ein niedliches Ding mit blonden Locken und Stupsnase.

Falko verhielt sich zunächst sehr zurückhaltend, doch schnell fand er Zugang zu den aufgeschlossenen freundlichen Kindern und deren liebevollen Eltern. Schon bald waren die drei Jungen in ein Gespräch vertieft und Heide hörte ihnen neugierig zu, bis sie von der Mutter ins Bett geschickt wurde.

Die zierliche Frau war sicher einmal ganz hübsch gewesen, man sah aber deutlich ein paar Spuren in ihrem Gesicht, die das harte Leben darauf hinterlassen hatte. Dennoch machte sie nicht den Eindruck, ihren Frohsinn verloren zu haben. Im Gegenteil! Ausgelassen plauderte sie mit den beiden Männern über die Pläne für die nächste Zukunft.

Irgendwann wurde es für alle Zeit, zu Bett zu gehen.

Da im Haus kein Platz war, schliefen Gernot und Falko im Holzschuppen, wo man ihnen ein einfaches, aber bequemes Lager vorbereitet hatte. In den nächsten Tagen wollten sie sich um eine eigene Bleibe kümmern.

Bruno hatte auch schon eine Idee parat: „Nicht weit von hier lebt der alte Jacob. Er arbeitet für den Grafen als Jäger. Er würde sich gern aufs Altenteil zurückziehen, hat aber niemanden, der sich um ihn kümmert. Das wäre doch sicher etwas für dich, Gernot! Rede mit ihm! Bewirb dich auf seine Stelle. Biete ihm an, dass er bis zu seinem Tode bei euch im Forsthaus leben kann. Ich bin mir sicher, dass er das Angebot gerne annehmen wird. Er ist ein umgänglicher Mann und wird euch sicher nicht stören.“

Gernot war dankbar für den Hinweis und wollte sich gleich am nächsten Morgen auf den Weg machen, um den alten Jacob zu besuchen.

Bruno versprach, mitzugehen und wünschte seinen Gästen eine gute Nacht. Gernot sah ihm lächelnd nach und war dankbar dafür, einen solchen Freund zu haben. Sie kannten sich seit ihrer frühesten Kindheit. Damals war Bruno immer etwas schwächer gewesen als Gernot. Heute war er ein stattlicher Mann und durch seine schwere Arbeit in der Schmiede reichlich mit Muskeln bepackt.

Die Nacht in dem Schuppen hatte für Falko etwas Abenteuerliches an sich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie hierbleiben können. Gernot dagegen war am Morgen noch entschlossener als zuvor, sich eine ordentliche Bleibe zu besorgen, denn er konnte jeden Knochen im Leibe spüren. Sofort nach dem Frühstück machte er sich mit Bruno und Falko auf den Weg zum Forsthaus.

Der alte Mann begrüßte sie zunächst sehr zögerlich, doch als er Bruno erblickte, wurde er freundlich. Sie wurden sich sehr schnell einig. Gernot versicherte dem Alten, für sein täglich Brot und ein dichtes Dach über dem Kopf zu sorgen. Im Gegenzug bot Jacob ihm seine Hilfe bei der Hausarbeit und der Erziehung des Jungen an – solange er das noch konnte.

Auch die Bewerbung um die Stelle als Jäger verlief glatt. Gernot sollte den Alten zwei Monate begleiten, um das Revier kennenzulernen und es dann allein übernehmen.

Noch am selben Tag zogen sie ein und tranken auf das 'Männerhaus'.

Falko ging gemeinsam mit Brunos Kindern in die Dorfschule. Im Schloss hatten er und seine Schwestern immer Privatlehrer gehabt. Zu seiner Verwunderung musste er feststellen, dass es in einer öffentlichen Schule viel mehr Spaß machte zu lernen. Nur danebenbenehmen durfte man sich nicht. Der Lehrer war zwar recht freundlich, aber wenn einer der Schüler aufmüpfig wurde, gab es auch mal etwas mit dem Rohrstock.

In den ersten beiden Jahren lebten sie friedlich ihr neues Leben und hatten auch viel Freude daran. Gernot ging seiner Arbeit nach und Falko besuchte nach der Schule fast täglich seine neuen Freunde. Besonders zu Peter hatte er eine starke Bindung. Sie spielten fast immer mit Falkos kleiner Armee, die den Überfall unversehrt an seinem Gürtel überstanden hatte. Sie war inzwischen um einige Krieger gewachsen, da Gernot den Jungen auch heute noch gern mit einer neuen Figur überraschte.

Wie vereinbart ritt der Hauptmann an jedem Quartalsanfang zum Kloster, um sich dort mit einem seiner Männer und dem Abt zu treffen. Was er zu hören bekam, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Fürst Siegmund hatte bald nach seiner Machtübernahme die Steuern und Abgaben erhöht, so dass den Bauern kaum mehr etwas zum Leben blieb. Auch die Rechtsprechung ließ sehr zu wünschen übrig. Es wurde gemunkelt, dass man sich mit genügend Geld in der Tasche fast alles erlauben konnte, da die Richter käuflich waren. Die Soldaten des Fürsten konnten tun und lassen, was sie wollten. Es gab immer mehr Berichte darüber, wie unschuldige Bauernmädchen geschändet und bei Anzeige des Vorfalls am Ende noch als Huren bestraft wurden. Der Fürst selbst war dabei, sich völlig gehen zu lassen. Da seine Frau nur zu Festakten auf dem Schloss weilte, trank er maßlos und ließ seinen Zorn an den Dienstboten aus.

'Gut!' - dachte Gernot. 'Wenigstens scheint er nicht besonders glücklich zu sein mit seiner Beute. Aber das reichte nicht als Strafe für die Untat und das Unrecht, welches dem Volk widerfuhr.

„Was ist mit Fürstin Dora?“, fragte er den Abt unter vier Augen.

Der lächelte ihn entschuldigend an. „Das Beichtgeheimnis, mein Sohn!“

Gernot senkte den Blick. „Ich weiß, Pater, aber es gibt einen anderen Weg. Wenn ihr Euch völlig sicher seid, dass Dora nicht zum Fürsten steht, dann erzählt ihr, dass es Männer gibt, die den Plan haben, Siegmund zum richtigen Zeitpunkt zu stürzen. Nennt keine Namen und erwähnt Falko auch mit keinem Wort! Wenn sie eindeutig auf unserer Seite ist, müssen wir Kontakt zu ihr aufnehmen. Sie wäre eine wertvolle Verbündete!“

Der Abt nickte bekräftigend. „Ja, so könnte es gehen. Und soviel kann ich Euch schon jetzt sagen: Ich denke, dass es zu einem Treffen kommen wird!“

Eines Abends saß Falko schweigend unter einem Baum im Garten des Forsthauses und blickte mit düsterem Gesichtsausdruck vor sich hin.

„Was ist los mit dir?“, fragte Gernot, der sich Sorgen zu machen begann.

„Wann ist es so weit? Wann schicken wir endlich diesen Bastard zum Teufel? Wir sind nun schon mehr als drei Jahre hier und nichts geschieht! Wann bringst du mir bei, mit dem scharfen Degen umzugehen? Ich bin langsam zu alt für Stockkämpfe.“

Gernot, der schon mit so etwas gerechnet hatte, setzte sich zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern. „Hab Geduld! Wir müssen mit Bedacht vorgehen. Es nutzt keinem, etwas zu überstürzen. Das würde alles nur gefährden.“

Falko sprang auf. „Ich will aber nicht mehr warten! Gestern habe ich auf dem Markt zwei Bauern aus meiner Heimat belauscht. Sie unterhielten sich über die Zustände. Siegmund muss herrschen wie ein Tyrann!“

„Reiß dich zusammen, Falko! Ich kann deine Ungeduld verstehen, aber du musst noch sehr viel lernen, bis du ihn angreifen kannst. Nicht das Kämpfen allein ist der Schwerpunkt deiner Ausbildung. Du musst auch Strategie und die nötige Ruhe beherrschen. Du trägst Verantwortung für viele tapfere Männer, die für mich, und somit vor allem für dich, im Schloss spionieren.“

Damit schien der Junge nicht zufrieden zu sein. Gernot sah ein, dass er im Moment mit Worten nicht weiterkam. „Gut! Wir werden morgen mit der nächsten Phase deiner Ausbildung beginnen. Bei Sonnenaufgang treffen wir uns vor dem Haus!“ Damit ließ er Falko zurück und ging wieder hinein.

Am nächsten Morgen trafen sie sich pünktlich an der vereinbarten Stelle. Zu Falkos Erstaunen hatte Gernot nicht etwa Dolche, Degen oder wenigstens wie bisher Stöcke dabei, sondern zwei Angelruten.

„Was soll das?“, fragte der Junge seinen Freund misstrauisch.

„Das wird deine erste Lektion in Geduld und Strategie!“, antwortete Gernot unbeeindruckt vom Tonfall seines Schülers.

„Das ist nicht dein Ernst! Willst du dich über mich lustig machen?“, rief Falko erzürnt.

Nun war bei Gernot das Maß voll. „Entweder du tust, was ich dir sage, oder du suchst dir einen neuen Lehrer. Bei der Ungeduld, die du hast, wirst du nie ein guter Anführer, sondern nur eine Gefahr für deine Männer sein!“ Mit diesen Worten ging er an Falko vorbei Richtung See und blickte sich nicht ein einziges Mal um.

Von der ungewohnten Strenge seines 'Onkels' alarmiert, verkniff sich der Junge jeden weiteren Kommentar. Am Ufer angekommen, standen sie zunächst schweigend nebeneinander.

Gernot begann als Erster zu reden. „Jetzt komm zunächst zur Ruhe! Wirf deine Angel aus und sieh zu, was passiert!“

Falko tat das und wartete eine Weile. Bald verlor er die Geduld. „Es passiert überhaupt nichts!“

Gernot griff in seine Tasche und holte einen Köder heraus. „Mach das an deiner Angel fest!“

Das tat Falko. Nach einer Weile zuckte es an der Rute und Falko riss sie reflexartig aus dem Wasser. Der Köder war weg und der Fisch auch. Missgestimmt warf der Junge die Angel ins Gras. „Was soll der Unsinn?“, murrte er.

Ohne auf seine Frage einzugehen, drückte Gernot ihm die Rute wieder in die Hand. „Mach einen neuen Köder dran und halt ruhig! Gib dem Fisch etwas Zeit zum Spielen und um richtig zuzubeißen!“

Gesagt, getan! Diesmal wartete Falko und zog die Angel im richtigen Moment aus dem Wasser. Er hatte ein beachtliches Exemplar heraufbefördert und sprang nun mit vor Stolz geschwollener Brust herum.

Gernot hingegen sah ihn ernst an. „Siehst du? Nur wenn man die Waffe gepaart mit Geduld und Strategie benutzt, kommt man zum Ziel. Siegmund ist so etwas wie dieser Fisch, nur mit den Zähnen eines Hais! Du wirst von allem noch recht viel lernen müssen.“

Nun begriff der Junge, was Gernot die ganze Zeit gemeint hatte. Beschämt senkte er den Blick. „Entschuldige bitte! Du hattest natürlich recht.“

„Willst du mein Schüler sein? Nach meinen Regeln?!“

Falkos graue Augen sahen ihn offen an. „Ja, das will ich!“

„Na dann ist ja alles klar!“, sagte Gernot, während er zusammenpackte. Dann ging er auf den Jungen zu, der schuldbewusst von einem Bein auf das andere trat und nahm ihn väterlich in die Arme.

Von nun an trafen sie sich jeden Tag zu ein paar Übungseinheiten. Falko lernte nach und nach alles über Nahkampf, das Fechten, Verteidigung und was einen guten Kämpfer sonst noch ausmachte. Man konnte fast dabei zusehen, wie aus dem zarten Knaben ein durchtrainierter junger Mann wurde. Auch Peter und gelegentlich sogar Hans nahmen an den Übungsstunden teil oder schauten dabei zu.

Eines Tages stellte Bruno Gernot zur Rede. „Was soll das alles überhaupt? Du setzt den Jungs Flausen ins Ohr. Sie sollten etwas Anständiges lernen und nicht den ganzen Tag Soldat spielen.“

Gernot konnte Brunos Skepsis verstehen. „Erstens machen deine Jungs das nur in ihrer Freizeit und zweitens habe ich meine Gründe, was Falko betrifft. Vertrau mir bitte! Ich kann dir heute noch nichts dazu sagen. Nur so viel: Der Junge hat mit Fürst Siegmund von Kaltenstein noch eine Rechnung offen. Seine Familie hat großes Leid durch diesen Tyrannen erfahren. Und ehe ich den Jungen unvorbereitet in Siegmunds Fänge gehen lasse, will ich alles dafür tun, ihn so gut wie möglich darauf vorzubereiten.“

Bruno nickte verständnisvoll. „Ich habe schon einiges von den Bauern aus Kaltenstein erfahren. Man kann überhaupt nicht verstehen, was in Fürst Siegmund gefahren ist. Er war wohl nie so beliebt wie sein Vetter, aber so etwas hätte doch kein Mensch erwartet!“

„Macht steigt manch einem zu Kopfe. Und manchmal reicht es auch schon, Aussicht auf Macht zu haben!“ Mehr wollte Gernot nicht verraten. Sonst würde er damit nur Falko und Bruno selbst in Gefahr bringen.

Bei einem nächsten Treffen im Kloster, erhielt er endlich einmal gute Nachrichten. Der Abt hatte mit der Fürstin geredet und sie hatte sich zu einem geheimen Treffen bereiterklärt. Im nächsten Monat wollte Gernot mit dem Pater zur ihr reisen. Die Fürstin würde die Burg in Begleitung des Geistliche zu einem Spaziergang verlassen, und sich so mit Gernot treffen können, ohne Argwohn zu erregen.

Er erfuhr, dass Dora noch immer Schwarz trug und nur bei öffentlichen Auftritten an der Seite ihres Mannes zu sehen war. Man munkelte, sie sei nach den tragischen Ereignissen der Schwermut verfallen und darum so sonderbar. Von einem Dienstmädchen hatte Gernots Mann erfahren, dass das Fürstenpaar die Nächte stets getrennt verbrachte. Siegmund tröstete sich mittlerweile mit Mägden und anderen Frauen, die mehr oder weniger freiwillig in sein Bett kamen.

Falko weihte er in all diese Dinge noch nicht ein. Er war zwar weit erwachsener als andere junge Männer seines Alters, aber Gernot wollte zur Sicherheit noch etwas abwarten.

Dann kam der Tag des Treffens mit Dora. Mit gemischten Gefühlen ritt er neben dem Abt her. Gernot hatte sich seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, um zu vermeiden, dass ihn jemand erkannte.

„Ihr macht Euch Gedanken, nicht wahr?“, fragte Pater Johannes freundlich. „Seid unbesorgt! Der Herr ist mit uns. Die Fürstin hat mindestens genauso viele Bedenken wie Ihr und sie geht ein ebenso hohes Risiko ein.“

„Ja, das weiß ich. Und ich bin ihr sehr dankbar dafür.“ Dann ritten sie schweigend weiter. Am Ziel angekommen, wartete Gernot an einer vereinbarten Stelle unterhalb der Burg, während sich der Abt zur Fürstin begab.

Nach etwa einer Stunde hörte er das Knacken dünner Äste in der Nähe. Vorsorglich ging er in Deckung. Erst als er sicher sein konnte, dass die beiden allein waren, trat er heraus. Dora trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid und einen Hut mit Schleier vor dem Gesicht. Sie begrüßten sich zunächst sehr zurückhaltend.

„Wer seid Ihr? Eure Stimme kommt mir so bekannt vor!“, fragte sie bald. Entschlossen nahm Gernot den Hut vom Kopf.

„Hauptmann, Ihr? Welch eine Freude, Euch wohlauf zu sehen!“, entfuhr es ihr erleichtert. Nun hob auch sie ihren Schleier. In ihrem Gesicht hatte sich der Kummer abgezeichnet, aber sie war immer noch sehr hübsch. Aufgrund fortwährenden Appetitmangels, hatte sie an Gewicht verloren. Das stand ihr gut, obwohl Gernot ihre weiblichen Rundungen immer sehr ansprechend gefunden hatte.

Beide setzten sich auf einen großen Stein und schwiegen einen Moment lang.

„Wie geht es Euch, Fürstin?“

Sie lächelte traurig. „Wie soll es mir gehen? Seit ich erfuhr, dass mein Mann hinter dem Anschlag steckt, habe ich keine frohe Minute mehr gehabt. Niemals hätte ich so etwas geglaubt, wenn ich es nicht aus seinem eigenen Munde erfahren hätte.“ Nun erzählte sie ihm von dem Abend im Garten und was sie gehört hatte. „Ich stellte ihn zur Rede. Er hat es nicht einmal abgestritten, sondern behauptet, alles nur für Luise getan zu haben. Er ist so verändert. Ihr müsst wissen, dass ich meinen Mann bis zu diesem Tag sehr geliebt habe. Ich erkenne ihn einfach nicht wieder. Er hat damit gedroht, der Familie meiner Schwester etwas anzutun, wenn ich ihn verrate. Also habe ich mich zurückgezogen. Er erzählt jetzt herum, dass der Schock bei mir einen bleibenden seelischen Schaden hinterlassen und mich melancholisch gemacht hätte.“

„Was ist mit Eurer Tochter?“

Ihr traten Tränen in die Augen. „Sie ist bei ihm. Sie hat keine Ahnung von seinen Verbrechen und meint, er sei ein liebevoller Vater und Herrscher. Er hat vor, Luise mit fünfzehn als Hofdame an den Hof des Königs zu schicken. Um sich zu bilden, wie er sagt. Ich glaube jedoch, dass es dabei nur darum geht, einen reichen Bewerber für sie zu finden und noch mehr Macht und Reichtum zu gewinnen.“

„Das ist sicher der Grund. Aber Ihr solltet froh sein, wenn sie dann so weit wie möglich von ihrem Vater entfernt ist.“

Dem konnte Dora nur zustimmen. „Was habt Ihr vor, Hauptmann?“

„Ich habe Männer im Schloss, die für mich die Augen offen halten. Daher wusste ich auch von dem offensichtlichen Zerwürfnis zwischen Euch und Eurem Gatten. Es wird sicher noch einige Zeit ins Land gehen, bis wir wirklich etwas tun können, aber es wird passieren! Darauf könnt Ihr Euch verlassen! Ein Volk, das zu lange unterdrückt wird, ist auch bereit, für seine Freiheit zu kämpfen. Aber wir brauchen noch Zeit.“

Sie fasste nach seiner Hand. „Ich vertraue Euch, Hauptmann. Schon der Gedanke daran, dass ihm irgendwann Einhalt geboten wird, lässt mich das alles besser ertragen. Mein Gott! Wenn ich nur an Fürst Friedrich und die Seinen denke, fühle ich mich so elend.“

Der kostenlose Auszug ist beendet.

2,99 €