Buch lesen: «Das Buch der Bücher», Seite 5

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Ich sah mir den bärtigen Mann, auf den er dabei zeigte, daraufhin nochmal genauer an. Ja, der war mir schon vorher aufgefallen. Nicht nur, weil er etwas älter und so groß und breitschultrig war. Meist hatte er sich auch etwas abseits von den anderen Pakistanern gehalten und hatte mit untergeschlagenen Beinen und gesenkten Augenlidern dagesessen, als wäre er ins Gebet versunken. Offenbar besaß er große Autorität bei seinen Pakistanern. Auch jetzt, als wir unsere letzten Vorräte mit denen teilten, wartete dieser Zabiullah etwas abseits darauf, bis ihm einer der anderen einen besonders schönen Apfel überreichte, den er von uns bekommen hatte.

Wie sich herausstellte, war Malik bei dieser Verteilungsaktion schlauer gewesen als ich. Als wir später an unserem Schlafplatz nebeneinanderlagen, holte er plötzlich noch einen Apfel hervor, den er „vor denen gerettet“ hatte. „Mein letzter“, sagte er und hielt ihn mir hin. Ich wollte dieses Geschenk gar nicht annehmen, aber er bestand darauf, dass wir uns den Apfel dann wenigstens teilten, „wie Brüder“.

Gewieher von Pferden riss mich aus dem Schlaf. Im Osten wurde es gerade erst hell. Malik und Belal neben mir waren schon wach und sahen angespannt den Reitern entgegen, die gerade aus dem Wald auf unsere Lichtung herauskamen. Einer von denen war der Jüngere der beiden, die uns hergebracht hatten. Kaum waren sie abgesessen, hatten sich ihre Schlepperkollegen bereits um sie versammelt. Ihr Lagebericht löste eine erregte Auseinandersetzung aus. Auch wenn wir aus der Ferne kein Wort verstanden – untereinander sprachen unsere Schlepper, wie wir inzwischen festgestellt hatten, ohnehin immer nur Kurdisch – war klar, worum es ging: Die einen drängten auf sofortigen Aufbruch, während den anderen die Lage immer noch zu unsicher war. Erst kurz vor Mittag, einige der Flüchtlinge hatten gerade begonnen, in Sprechchören etwas zu essen zu fordern, fiel die Entscheidung: Zwei der Schlepper ritten davon. Sie sollten wohl sicherstellen, dass unser Zug nicht einer Patrouille der Sicherheitskräfte in die Arme lief.

„Yallah – beeilt euch!“ Die verbliebenen Reiter kreisten uns ein, als wären wir eine Viehherde. „Immer einer hinter dem anderen und dicht zusammenbleiben! Wehe, einer von euch tanzt aus der Reihe.“ Plötzlich waren die sogar mit Schlagstöcken bewaffnet. Einige unserer Mitflüchtlinge protestierten, aber auch die fügten sich schnell. Malik, Belal und ich waren ziemlich weit hinten in der Kolonne gelandet. Plötzlich kam Faizal angelaufen und flüsterte uns zu, die mit den Schlagstöcken würden den Zug von hinten her überwachen und antreiben. Wir schafften es gerade noch, nach vorne zu laufen und uns direkt hinter Faizals pakistanischen Freunden einzureihen, die sich die ersten Plätze in der Kolonne gesichert hatten. Da ertönte auch schon das nur allzu vertraute „Yallah, los! Los!“ der ‚Treiber‘.

Nachdem wir uns warmgelaufen hatten, spürte ich meine von dem Gewaltmarsch davor immer noch nicht ganz verheilten Fußsohlen schon gar nicht mehr. Meine Hoffnung, dass es direkt bergab ins Tal gehen würde, erfüllte sich allerdings nicht. Im Gegenteil. Erneut mussten wir über Stunden bergauf und bergab marschieren. Wenigstens gönnten die Reiter uns mehrere längere Pausen. Dass dies nicht aus Menschenfreundlichkeit geschah, wusste mal wieder einer von Faizals Pakistanern. Unser Ziel sei ein Marktflecken unten im Tal und die Schlepper wollten dort erst ankommen, wenn es schon dunkel war. Das aber bedeutete, dass wir den ganzen Tag nichts zu essen bekommen würden. Dabei klang das Murren und Fluchen um uns herum bereits bedrohlich genug.

Die Stimmung verschlechterte sich weiter, als es auch noch zu regnen begann. Völlig durchnässt erreichten wir ein kleines Waldstück, wo wir einen letzten Halt einlegten. Im Tal unter uns lag eine Ortschaft, die offenbar ein Knotenpunkt für den grenznahen Handel war. Wir konnten beobachten, wie auf einem freien Platz am Ortsrand Säcke, Ballen und Kisten von Kleinlastern auf Packpferde und Esel geladen wurden. Diese Lasttiere machten sich dann einzeln oder in kleinen Karawanen in alle Richtungen auf den Weg. Währenddessen teilten uns die Schlepper schon mal in Gruppen zu fünft oder sechst auf. Aus Sicherheitsgründen, sagte man uns. Offenbar war es ein zu großes Risiko, eine so große Gruppe auf einmal über die Grenze zu bringen.

Ich dachte erst, Faizal würde sich seinen Pakistanern anschließen, aber im letzten Moment kam er mit deren Anführer, diesem Zabiullah, zu uns rüber. Als dieser Mann mir jetzt zum ersten Mal direkt gegenüberstand, verstand ich, warum er unter seinen Pakistanern so große Autorität genoss. Der Blick seiner kohlschwarzen Augen war so durchdringend, dass ich das Gefühl hatte, er hätte mich bei etwas Verbotenem ertappt. „Salaam“, sagte er. Seine tiefe, volltönende Stimme war nicht unsympathisch – im Gegenteil. Eigentlich konnte es ja auch nur von Vorteil sein, wenn so ein älterer und Autorität ausstrahlender Mann wie er bei dem bevorstehenden Grenzübertritt unserer kleinen Gruppe dabei sein würde. Der würde es sich wohl kaum gefallen lassen, dass man uns in so eine Kiste sperrte, wie man es Abdul und mir beim Überqueren der Grenze von Afghanistan in den Iran zugemutet hatte.

Sobald es dunkel wurde, machten sich die einzelnen Grüppchen im Abstand von wenigen Minuten auf den Weg ins Tal. Zabiullah, Faizal, Malik, Belal und ich wurden von einem der Männer, die das Ende der Kolonne mit Knüppeln traktiert hatten, zu einer Pension direkt am Rande des Marktfleckens geführt. Kaum waren wir in dem kleinen Innenhof vor dem Haus, wandte der Mann sich zum Gehen, allerdings nicht ohne uns noch seine Verachtung zu demonstrieren: Er rate uns dringend, uns erst mal zu waschen. Sonst würde man uns in der Nacht an der Grenze ja schon drei Meilen gegen den Wind riechen. Eine grobe Beleidigung für jeden Muslim, für den das regelmäßige Waschen zu den religiösen Pflichten gehört. Ich fürchtete schon, Zabiullah würde sich auf den Kerl stürzen und ihn erwürgen, aber er beließ es bei einem hasserfüllten Blick.

Die kleine Episode war vergessen, sobald wir gewaschen und in trockenen Kleidern vor den gefüllten Tellern und Schüsseln saßen, die unsere Wirtin, eine energische Alte, auf einer Decke in der Mitte unseres Zimmers aufgebaut hatte. Heißhungrig machten wir uns über das Essen her. Kaum aber war das leere Geschirr weggeräumt, legten wir uns an Ort und Stelle hin, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Wir wussten, dass es noch in der Nacht weitergehen würde.

Die resolute Alte selbst war es, die uns aus dem Schlaf riss und ohne weitere Umstände aus dem Haus scheuchte. „Möge Allah mit euch sein“, sagte sie zum Abschied.

Im Halbschlaf, unsere Rucksäcke an der Hand, traten wir auf den Platz vor der Pension hinaus. Wir hatten gedacht, dass uns wieder ein Fußmarsch bevorstehen würde, aber da stand ein Geländewagen, der wie eines der alten russischen Armeefahrzeuge aussah, wie man sie manchmal noch in Afghanistan herumfahren sieht. Der Fahrer lehnte sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf.

„Leute von Kadér? Dann kommt“, rief er uns mit gedämpfter Stimme zu, obwohl auf dem weiten Platz um diese Zeit sonst niemand zu sehen war. Zabiullah stieg wie selbstverständlich vorne neben dem Fahrer ein, wir restlichen vier quetschten uns auf dem Rücksitz zusammen. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern fuhren wir quer durch den Ort und dann auf der gut ausgebauten Landstraße weiter. Der junge Fahrer summte die ganze Zeit vor sich hin, als wären wir auf einem harmlosen Ausflug ins Grüne. Bald bogen wir in ein Seitental ein und gelangten auf eine holprige Piste, die sich in steilen Kehren in die Berge hinaufwand. Der Himmel klarte auf und der Fahrer schaltete die Scheinwerfer aus. Zabiullah fragte ihn irgendetwas, aber er antwortete nicht. Stattdessen begann er, eine flotte Melodie zu pfeifen und mit den Fingern auf dem Lenkrad herumzutrommeln. Der Motor dröhnte so laut auf der steilen Strecke, dass ich sicher war, dass man uns kilometerweit hören konnte. Die Kurverei schien kein Ende zu nehmen. Waren wir etwa schon auf türkischer Seite? Kaum hatte ich das gedacht, hörte ich den Fahrer rufen, „wir bald da.“

„In der Türkei?“, schrie Belal in den Motorenlärm. Der Fahrer nahm den Fuß etwas vom Gas.

„Türkei hinter Berg“, rief er nach hinten. „Gleich oben, dann nur noch Berg runter.“

Tatsächlich erreichten wir kurz darauf die Passhöhe. Zunächst ging es danach wieder in engen Serpentinen steil bergab, wobei hin und wieder in der Ferne unten im Tal ein paar Lichter ins Blickfeld gerieten. „Dorf Türkei“, machte uns unser Fahrer beim ersten Mal darauf aufmerksam.

Bald wurden die Kehren weiter und der Abhang weniger steil. Der Fahrer begann erneut, vor sich hin zu pfeifen. Jedes Mal, wenn nach einer Kurve die Lichter unten wieder für einen Moment auftauchten, stieg die Spannung im Wagen an. Belal neben mir bewegte die Lippen im Gebet. Dann sah ich das auch bei Malik. Das Dorf schien inzwischen zum Greifen nah. Wahrscheinlich waren wir schon in der Türkei. Aber wir alle waren zu angespannt, um nochmal zu fragen.

Plötzlich brach das Pfeifen ab. Es warf uns nach vorne, so heftig war der Fahrer auf die Bremse gestiegen. Noch bevor der Wagen ganz stand, lehnte er sich zu Zabiullah hinüber. Ein schneller Griff ins Handschuhfach, und plötzlich hielt er ein Fernglas vor Augen. Dort, wohin sich sein Blick richtete, sahen jetzt auch wir zwei kleine rote Lichter in der Ferne.

„Grenzpatrouille!“ Panik in der Stimme des Fahrers. „Raus aus dem Wagen, los raus!“ Zabiullah stieß als Erster die Beifahrertür auf, dann kapierte auch Malik, der neben mir an der Tür saß. „Lauft!“, brüllte der Schlepper uns an, „Nach Dorf hin!“ Wir waren schon aus dem Wagen gesprungen, da rief er uns noch hinterher, wir sollten uns trennen. „Einzeln! Sicherer!“

Faizal und Zabiullah spurteten los, jeder für sich.

„Los!“, schrie ich Belal zu, der direkt vor mir stand.

Hinter uns heulte der Motor auf, mit durchdrehenden Reifen wendete unser Geländewagen und nahm Fahrt auf in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Im gleichen Moment blendeten dort, wo wir die roten Lichter gesehen hatten, helle Scheinwerfer auf.

Belal verschwand gerade unter uns in der Dunkelheit.

„Komm, wir bleiben zusammen“, rief ich meinem Freund und Bruder Malik zu, der immer noch in Schreckstarre neben mir stand. Ich packte ihn am Arm und zog ihn den Abhang hinunter. Der war nicht allzu steil, aber raue felsige Abschnitte wechselten mit grasbewachsenen Flächen, auf denen man leicht ausrutschen konnte. So schnell es ging, tasteten wir uns mit den Füßen voran.

Plötzlich fuhr ein Lichtstrahl quer über den Hang, glitt über uns hinweg und zuckte nach oben. Das Patrouillenfahrzeug musste seitlich von uns durch eine Kurve gegangen sein. Die hatten uns in dem freien Gelände ganz sicher bemerkt. Da hörten wir auch schon das lauter werdende Motorengeräusch über uns. Rutschend und springend arbeiteten wir uns in der Dunkelheit noch schneller nach unten.

Über uns quietschende Bremsen, über Schotter schlurfende Reifen und das ersterbende Motorengeräusch. Plötzlich erfasste uns eine breite Bahn weißen Lichts. „Halt, stehenbleiben!“

Wie die Hasen sprangen wir seitwärts, um der plötzlichen Helligkeit zu entfliehen. In dem Moment, in dem wir ins Dunkel tauchten, hörte ich Schüsse. Malik stürzte zu Boden. Plötzlich lag ich über ihm. Ich wälzte mich zur Seite und rappelte mich hoch. „Los, weiter!“ Malik rührte sich nicht.

Ich habe noch versucht, ihn mitzuziehen, aber da ruckte der breite Lichtstreifen schon auf mich zu. Wie von Sinnen rannte ich los, weg von dem Licht und weiter den Hang hinab, ein Wunder, dass ich nicht gestürzt und ebenfalls liegengeblieben bin.

. . .

„Boah ey! Ich brauche jetzt erstmal ne Teepause.“

„Okay“, hat Martina nach einem tiefen Seufzer geantwortet, „aber keine so lange. Ich will schließlich wissen, wie’s weitergeht.“ Sie ist mir in die Küche gefolgt. „Glaubst du, dass sie diesen Malik tatsächlich einfach so erschossen haben?“ Sie hat meine Antwort gar nicht erst abgewartet. „Das muss dem Jungen doch schrecklich nahegegangen sein. Aber er deutet seine Gefühle ja immer nur an. Nicht mal an der Stelle, wo er bei der Beschreibung seiner Fahrt über diesen großen See vom ‚Untergang‘ der Welt seiner Kindheit spricht, gibt er offen zu, dass ihm die Erinnerung daran Tränen in die Augen getrieben hat. Stattdessen schreibt er nur irgendwas von Fahrtwind.“

„Ich finde es eher bemerkenswert, dass er überhaupt ein so emotionales Wort wie ‚Untergang‘ gebraucht. Das schreit doch förmlich nach einer Erklärung. Aber da kommt nichts.“

„Stimmt. Manche nicht ganz so bedeutsame Kleinigkeiten beschreibt er bis ins Detail. Aber über die Gründe für seine Flucht, zum Beispiel, hat er offenbar nicht einmal mit diesem Belal oder mit seinem Freund Malik sprechen wollen. Das finde auch ich äußerst seltsam.“

„In dem Fall will er uns vielleicht indirekt etwas sagen. Nämlich, dass er uns dankbar ist, dass auch wir ihn nie näher über die Gründe für seine Flucht ausgefragt haben.“

„Wie dem auch sei, ich habe jedenfalls das Gefühl, dass es hinter all dem, was er erzählt, noch etwas gibt, was er auch uns gegenüber selbst jetzt noch nicht preisgeben will.“

„Zumindest bestätigt das, was er hier schreibt, immer wieder, dass der Junge offensichtlich alles andere als ein strenggläubiger Muslim ist. So brauchen wir uns wenigstens in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen“, habe ich noch gesagt, aber da kochte das Wasser schon. Noch während der Tee zog, habe ich schon wieder nach dem Hefter gegriffen und weiter vorgelesen.

Türkei

„Jetzt iss erst mal was.“ Heißhungrig verschlang ich das Brot, den Ziegenkäse und die Oliven, die der junge Kurde vor mich hingestellt hatte. Mit einem leisen „Kadér?“ hatte er mich hinter der Mauer hervorgelockt, hinter der ich mich vor ihm versteckt hatte.

Es war der nagende Hunger gewesen, der mich dazu getrieben hatte, mich im Morgengrauen ins Dorf zu schleichen. Einen Tag und eine Nacht hatte ich mich in einer Schlucht oberhalb des Dorfes versteckt. Bevor ich im Morgengrauen einen Weg dort hinunter gefunden hatte, hatte ich noch vom Rand dieser Schlucht aus beobachtet, wie zwei Polizeifahrzeuge mit abwechselnd blau und rot blinkenden Lichtern ins Dorf gerast waren.

Mein Retter bestätigte mir, dass die Polizei nach meinen Freunden gefahndet hatte. Die aber waren zu der Zeit schon mit seinem Onkel auf dem Weg in die Stadt. Sie hatten anscheinend versichert, es sei sinnlos, weiter zu warten. Malik und ich seien erschossen worden, oben am Berg. „Peng, peng“, sagte der junge Mann und zeigte nach oben. Dabei blickte er fragend auf den großen rotbraunen Fleck auf meinem Hemd. Den hatte ich selbst nach mehrmaligem Waschen in dem Bach unten in der Schlucht nicht herausbekommen. Mit Händen und Füßen und ein paar Brocken Farsi demonstrierte ich ihm, wie ich mich über Malik geworfen hatte, aber dass es da schon zu spät gewesen war.

Ich müsse so schnell wie möglich hier weg, gab er mir zu verstehen. Er werde das sofort arrangieren.

Eine halbe Stunde später kam er zurück, mit einem alten, aber sauberen Hemd für mich und der Nachricht, jemand werde mich zusammen mit einer Ladung Teppiche in die Stadt Van bringen. Diesem Mann müsse ich als erstes auch mein iranisches Ausweispapier aushändigen. Wenn man mich damit erwischte, würde man mich umgehend in den Iran abschieben, machte er mir klar. Ich erinnerte mich, dass auch Herr Ponyandeh schon gesagt hatte, in der Türkei würde ich neue Papiere benötigen.

Ja, Papiere in Van, bestätigte mir der junge Kurde.

Die Fahrt nach Van hat nur ein paar Stunden gedauert, mir aber kam sie schier endlos vor. Den Transport auf der Ladefläche von Kleinlastern war ich inzwischen gewöhnt. Diesmal aber lag ich unter einem schweren, alten Teppich, den mein spontan rekrutierter Fluchthelfer wie zum Schutz über seine Ladung zusammengerollter brandneuer Teppiche gebreitet hatte. Schon durch das Gewicht über mir fiel mir das Atmen schwer. Obwohl mein Kopf zum Führerhaus hin unter diesem alten Teppich hervorragte, atmete ich noch dazu die ganze Zeit so viel Staub ein, dass mir bald vom ständigen Husten die Lunge wehtat. Man hatte mir auch eingeschärft, sofort den Kopf einzuziehen, wenn es eine Kontrolle gäbe, womit auf dieser Strecke zwei- oder dreimal zu rechnen sein würde. So kam ich mir die ganze Zeit wie eine Schildkröte vor, stets bereit, mich unter meinen Panzer zurückzuziehen.

Zweimal wurde unser Kleinlaster tatsächlich gestoppt. Obwohl mir beide Male das Herz bis zum Hals klopfte, schienen mir die Kontrollen im Nachhinein ziemlich oberflächlich gewesen zu sein. Keine nähere Inspektion der Ladung, und statt des barschen Befehlstons, den ich aus Afghanistan kannte, klang das, was ich hörte, eher wie eine freundliche Unterhaltung. Ich hatte den Eindruck, man kannte sich.

Viel schlimmer aber waren ohnehin die Momente, in denen ich erneut in den dunklen Fluten zu versinken drohte, die über mich gekommen waren, als ich beim Abstieg in die Schlucht im Morgengrauen das Blut auf meinem Hemd entdeckt hatte. Immer wieder erschien Maliks melancholisches Hazara-Gesicht vor meinen Augen. Immer wieder durchlebte ich die letzten Minuten mit meinem Freund. Warum bloß hatten wir nicht auf unseren Fahrer gehört und waren getrennt den Berg hinunter geflüchtet. Ich aber war derjenige gewesen, der gesagt hatte, „wir bleiben zusammen.“ Da konnte ich mir noch so oft sagen, dass ich meinen Freund doch nur hatte beschützen wollen. War ich wirklich dazu verdammt, nur Unglück zu bringen über Menschen, die mir nahe waren und die mir vertrauten?

Nur mit Mühe gelang es mir immer wieder, diese schwarzen Gedanken niederzuringen. Nein, was geschehen war, durfte keine Entschuldigung sein, auch die Zukunft verloren zu geben.

Der bullige Mann zog die Eisentür auf. Mir schlug der penetrante Geruch vieler Menschen entgegen, die sich schon tagelang nicht mehr richtig gewaschen hatten. Ich wurde durch die Türöffnung geschoben. Für einen Moment war ich geblendet. Grelles Neonlicht erfüllte den Raum.

Ein lautes Murren erhob sich. Die aggressive Stimmung unter den gut zwei Dutzend Männern in dem fensterlosen Kellerraum war mit Händen zu greifen. Einige von denen kannte ich schon von der iranischen Seite her. Sie waren auf der Lichtung oben im Wald dabei gewesen, wo wir so lange hatten warten müssen, bevor es weiter zur Grenze ging.

Da erst sah ich, wie mir von ganz hinten im Raum jemand zuwinkte: Belal! Ich arbeitete mich zu ihm durch. Wir fielen uns in die Arme.

Nein, er habe wirklich nicht damit gerechnet, mich nochmal lebend wiederzusehen, versicherte er mir. Eine Weile seien sie sogar stehengeblieben und hätten gelauscht, nach den Schüssen.

Ich berichtete ihm, dass es Malik getroffen hatte.

„Diese Schweine“, sagte er nur.

Warum er überhaupt noch hier sei, fragte ich ihn. Faizal und Zabiullah waren nämlich schon weg

Die hätten ja offenbar Geld und gute Papiere, sagte Belal. Er selbst aber habe hier ja erst noch auf seinen neuen Ausweis warten müssen. Den hoffe er noch im Laufe des Tages zu bekommen, denn schon in der Nacht solle es weitergehen. Jetzt aber werde er natürlich warten, bis auch ich mein neues Ausweispapier hätte. Ich hätte ja hoffentlich noch Passfotos dabei.

Ich holte das Tütchen mit den Fotos, die mir Dr. Ponyandeh noch mitgegeben hatte, aus der Seitentasche meines Rucksacks und zeigte es ihm.

Wenig später kam tatsächlich der Mann mit den Pässen. Es war ein junger Kerl mit breiten Schultern und groben Gesichtszügen. Der Bullige, der mich hergebracht hatte, kam mit ihm in den Raum, zeigte wortlos auf mich und verschwand. Schon als sich der Kerl seinen Weg durch den überfüllten Raum bahnte und dabei hier und da Pässe verteilte an Flüchtlinge, die sich zu ihm durchdrängelten, sah man ihm seine Übellaunigkeit an. Als er bei uns anlangte, hielt er mir meinen iranischen Ausweis unter die Nase. Den hatte der Teppichmann offenbar an ihn weitergegeben. Er tippte mit seinem dicken Zeigefinger auf das Foto. „Neues Foto!“ sagte er. Während ich ihm eines aus meinem Tütchen herausfingerte, erklärte Belal ihm mit Händen und Füßen, dass er nicht ohne mich weiterreisen werde.

Was wir uns überhaupt einbildeten, begann der Kerl zu schimpfen, so laut, dass alle in unsere Richtung starrten. Das wären ja vollkommen neue Sitten, dass die Herren jetzt auch noch tagelang durchgefüttert werden wollten. Kadér zahle immer nur für höchstens zwei Tage. Die Herberge seines Onkels sei keine Wohltätigkeitseinrichtung und auch kein Fünfsternehotel, wo man mal eben ein paar Tage dazubuchen könne. Damit warf er Belal seinen dunkelroten iranischen Reisepass vor die Füße. Für heute sei sein Platz auf dem Weitertransport reserviert. Was die nächsten Transporte angehe, könne er für nichts garantieren.

Wir verstanden zwar nichts von dem, was er sagte, aber als er fort war, erhob sich ein etwas entfernt sitzender älterer Mann, der eine auffällige Augenbinde trug, und übersetzte für uns aus dem Türkischen. Dabei musste er notgedrungen so laut sprechen, dass alle mithören konnten. Belal flüsterte mir unauffällig zu, dass der Mann iranischer Kurde sei.

In der einen Ecke des Raums standen einige der jungen Männer auf und begannen, Belal und mich anzupöbeln. Wenn wir hier weiter für Unruhe sorgten, könnten wir was erleben. Sie wollten nicht unseretwegen noch mehr Probleme mit den Schleppern bekommen. „Verfluchte Afghanen“, rief einer. Offenbar ein Pakistaner. Das laute Murren, das sich erhob, bewies aber schnell, dass die Afghanen in diesem Raum zahlenmäßig weit überlegen waren. Die Pöbler setzten sich daraufhin schnell wieder hin.

Als sich die Lage beruhigt hatte, erklärte ich Belal, wie hoch ich es ihm anrechnete, dass er meinetwegen das Risiko eingehe, noch tagelang weiter in diesem Keller hocken zu müssen.

„Kein Thema“, sagte er, „wir Kabuler müssen doch zusammenhalten.“

Inzwischen wusste ich, dass einige der anderen bereits über zwei Wochen in dem stickigen Kellerraum zugebracht hatten. Wohl, weil für sie das Geld für die nächste Etappe noch nicht gezahlt worden war. Am Abend lernte ich auch noch das kaum genießbare Essen dieser Herberge kennen. Zwei Männer mit dreckigen Schürzen schleppten einen Riesenkessel mit einer dünnen, undefinierbaren Suppe mitten in den Raum. Daraus konnte sich dann jeder mit seinem Blechnapf selber etwas herausschöpfen. Aber erst, als ich den Waschraum und den Abort zu Gesicht bekam - in der Nacht, gleich nachdem alle anderen wie geplant abgeholt worden waren - konnte ich ermessen, welch großes Opfer mein Freund gebracht hatte, indem er darauf verzichtet hatte, seinen schon sicheren Platz für die Weiterreise zu nutzen. Ich hatte ihn unterschätzt.

Wir konnten unser Glück kaum fassen, als der bullige Wirt unserer Herberge schon am späten Abend des folgenden Tages persönlich zu uns hereinkam und auch mir so einen dunkelroten iranischen Reisepass in die Hand drückte. Offenbar hatte er es eilig, seinen Keller zu leeren. Wenn wir das richtig verstanden haben, erwartete er eine größere Gruppe von Familien mit Kindern, die man ihm kurzfristig angekündigt hatte. Wenig später saßen Belal und ich auf den bequemen Rücksitzen eines kleinen Toyota und wurden aus der Stadt Van hinaus in die Nacht kutschiert.

Während wir noch darauf gewartet hatten, dass man uns abholte, hatte Belal mich aufgeklärt, warum man uns ausgerechnet iranische Pässe gab. Mit irgendwelchen türkischen Ausweispapieren würden wir mangels türkischer Sprachkenntnisse bei einer Kontrolle sofort auffliegen. Mit einem iranischen Pass würde man uns in einem solchen Fall aber wenigstens nicht gleich bis nach Afghanistan abschieben können, selbst wenn der türkische Polizeibeamte den afghanischen Akzent unseres Persisch bemerkte.

Jetzt, während der Fahrt, gab mein Freund mir die nächste Lektion weiter, die er in seinen Tagen im Keller von anderen Flüchtlingen gelernt hatte. Mit dem Touristenvisum in unseren Pässen müsse man bei Kontrollen mit Nachfragen rechnen. So alltäglich sei ein touristischer Besuch eines jungen Iraners in der Türkei ja nicht. Es sei daher auch wichtig, für diesen Fall eine möglichst glaubwürdige Erklärung bereit zu haben. Er selber habe sich die Geschichte zurechtgelegt, dass ein Onkel von ihm bei einer türkischen Firma in Istanbul angestellt wäre, um von dort aus deren Bauprojekte im Iran zu betreuen. Dieser Onkel hätte ihn eingeladen, ihn zu besuchen und sich auf dem Weg nach Istanbul ein wenig die Türkei anzusehen. Falls man uns nicht gerade zusammen erwische, könne ich ja die gleiche Geschichte benutzen, bot Belal mir großzügig an.

Jedes Mal, wenn sein rundes Gesicht während unserer Fahrt durch die Außenbezirke von Van im Schein einer der seltenen Straßenlaternen aufleuchtete, überkam mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Wie hätte ich mich ohne einen so guten Kameraden in diesem Land mit wieder völlig anderen Bedingungen zurechtfinden sollen. Und selbst, als ich meinen neuen Freund dann versehentlich einmal mit Malik anredete, verzog der keine Miene.

Wir hatten Van schon eine ganze Weile hinter uns gelassen, als unser Fahrer plötzlich anhielt, sein Beifahrer ausstieg und uns aufforderte, mit ihm zu kommen. Außer einem schwachen Lichtschein vor uns in der Ferne war es stockdunkel. „Walk“, sagte der junge Mann nur.

Uns blieb gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, nachdem der Toyota davongefahren war. Wir liefen zuerst parallel zur Straße über die Felder, immer dicht dran an unserem schweigsamen Führer, der den Weg anscheinend im Schlaf kannte. Nur gelegentlich ließ er seine Taschenlampe kurz aufblitzen. Schließlich entfernten wir uns weiter von der Straße, um einen kleinen Berg zu umgehen. Als wir danach wieder auf die Straße stießen, sahen wir in der Ferne hinter uns Lichter. Hundegebell drang zu uns herüber. Offenbar hatten wir einen Kontrollposten umgangen.

Kurz darauf tauchte wie eine Fata Morgana der weiße Toyota neben uns auf. Erleichtert ließen wir uns nach dem mehr als zweistündigen Marsch in die Sitze fallen. Wenn wir gewusst hätten, dass sich dieses Spiel bis zum Morgengrauen noch drei Mal wiederholen würde, hätten Belal und ich uns nicht so zufrieden angesehen. Schon zu dem Zeitpunkt machte uns der Hunger ziemlich zu schaffen. Zuletzt hatten wir am Mittag etwas zu essen bekommen. Selbst das war nur eine Schüssel Reis ohne jede Beilage gewesen.

Die nächsten beiden Fußmärsche kamen uns noch wesentlich länger vor. Der letzte führte dann auch noch durch bergiges Gelände. Belal, der zwischendurch schon immer mal wieder schwer gekeucht hatte, begann so laut zu jammern, dass unser Führer ihn anzischte, nicht so einen Lärm zu machen. Ich hätte meinem Freund gerne geholfen, aber ich konnte mich zuletzt selber kaum noch auf den Beinen halten. Meine Fußsohlen brannten und waren sicher schon wieder blutig gelaufen.

Der Morgen dämmerte schon, da trafen wir nach diesem letzten Marsch endlich wieder auf die Straße. Diesmal mussten wir längere Zeit warten, bis unser weißer Toyota in Sicht kam. Der aber hielt – da waren wir kaum eine Viertelstunde gefahren – schon wieder an. „Nein!“, riefen Belal und ich gleichzeitig.

„All okay, all okay. “ Zum ersten Mal sagte auch der Fahrer etwas, während sein Kumpel schon wieder von außen die Wagentür aufriss. Er wies auf den Feldweg, der von der Straße abging. „Here“, sagte er, „you wait.”

Kaum hatten wir unsere Rucksäcke aus dem Auto gezogen, schlug er die Tür zu, sprang vorne zu dem Fahrer ins Auto und wir konnten nur noch dem davonfahrenden Wagen hinterherstarren, bis seine roten Rücklichter in der Ferne verschwunden waren. Wir waren zu verblüfft und auch zu erschöpft, um etwas zu sagen. Wir ließen unsere Rucksäcke hinter einer hohen Platane fallen, die an der Abzweigung stand, setzten uns so an deren Stamm, dass man uns von der Straße aus nicht sofort sah, und streckten die schmerzenden Beine von uns. Es dauerte keine Minute, da fing Belal neben mir an, laut zu schnarchen.

„Kadér?“ Ich schreckte hoch. Ein kleiner Lieferwagen stand direkt neben uns auf dem Feldweg. Der Beifahrer hatte das Fenster heruntergekurbelt und grinste zu uns herunter. Ich nickte, stieß Belal an und wir erhoben uns mühsam.

„Yallah, yallah“! Der Mann wies hinter sich auf die offene Ladefläche. Ich half Belal hinauf und kletterte hinterher. Währenddessen kam der Mann zu uns nach hinten, warf mir irgendwas in Zeitungspapier Eingewickeltes zu und reichte Belal eine große, zerbeulte Teekanne. Der hob kurz den Deckel an. „Tatsächlich – warmer Tee“, sagte er. Das in dem Zeitungspapier war Fladenbrot. Während unser Wohltäter wieder nach vorne lief, verzogen wir uns mit diesem Schatz in den Windschatten des Führerhauses.

Belal goss sich geschickt einen dicken Strahl Tee direkt in den weit aufgesperrten Mund. Dann gab er die Kanne an mich weiter. Ich reichte ihm dafür eines der Fladenbrote. „Service nicht schlecht“, stellte mein Freund zufrieden fest und biss in das weiche Brot. Er schien erstaunlich schnell aus dem Tief der hinter uns liegenden Nacht herausgefunden zu haben und spielte schon wieder ganz den ‚Businessman‘.

Dass er sich als solchen sah, hatte er mir eröffnet, als wir beide noch allein in dem großen Kellerraum der Herberge in Van gesessen hatten. Da hatte er erzählt, in Kabul habe er ein gut gehendes Geschäft mit Mobiltelefonen betrieben, gleich neben dem Stoffladen seines Vaters auf dem Basar. Auf meine Frage, warum er dann überhaupt geflohen sei, hatte er gemeint, Afghanistan sei kein guter Ort für einen Businessman.

Jetzt erklärte er mir, er wolle nach Deutschland. Da könne man gute Geschäfte machen. Mit dem Geld, dass er mit dem Verkauf seines Handygeschäfts verdient habe, habe er selbst nach der Bezahlung der Dienste von Kadér immer noch ein kleines Startkapital übrig. Und in Deutschland bekäme man, wenn man es erst einmal dorthin geschafft habe, auch gleich eine Wohnung und sogar ein Gehalt vom Staat.

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