Buch lesen: «Seewölfe Paket 15», Seite 29

Schriftart:

4.

Die „Fidelity“, Easton Terrys hatte auf Zeichen von Ben Brighton die Spitze übernommen, da die „Hornet“ durch ihren zersplitterten Bugspriet nicht mit vollen Segeln fahren konnte.

Bens Bruder Roger hatte sich um die Takelung des Vormastes gekümmert. Fockstag, Vorstengestag und Vorbramstag mitsamt dem Sprietmastbackstag waren durch den Kanonenschuß der „Louise“, der den Bugspriet abgeknickt hatte wie einen Kienspan, zerstört worden. Roger Brighton hatte bereits alles in die Wege geleitet, daß das Rigg erneuert werden konnte, aber erst einmal mußte der Bugspriet wieder in Ordnung sein.

So fuhr Ben am Vormast nur die Fock, was bei achterlichem Wind allerdings nicht viel brachte.

Bis auf die Männer, die an Land gewesen waren, befand sich alles an Deck. Al Conroy scheuchte die Männer an den Culverinen hin und her. Sämtliche Geschütze wurden überprüft, die Brooktaue und Geschütztaljen nachgesehen und die Ladegeräte gereinigt und griffbereit zurechtgelegt. Die Grummets neben den Geschützen wurden mit Kugeln aufgefüllt, die Zündlöcher mit Bohrern gesäubert.

Als es nichts mehr zu beanstanden gab, ließ Al die Männer exerzieren, bis Luke Morgan knurrte: „Nun ist es aber genug, Al. Sonst sind wir fix und fertig, wenn es in Gefecht geht.“

„Was sollen denn Hasard und die anderen sagen, die die ganze Nacht durch marschiert sind, während ihr geschnarcht habt wie besoffene schottische Bauern, he?“

„Sie ruhen sich ja jetzt aus“, sagte Luke. „Oder willst du, daß wir vor Müdigkeit umfallen, wenn die anderen wieder aufwachen?“

Al Conroy nickte. Er wußte, daß Luke recht hatte. Vielleicht war es nur der bevorstehende Kampf, der sie alle ein bißchen nervös werden ließ.

Ben Brightons Kopf schob sich über die Balustrade zum Achterdeck.

„Was ist denn das für ein Hämmern unter Deck?“ fragte er.

Als Conroy hob den Kopf. Jetzt hörte er es auch. Es hörte sich an, als schlage jemand mit einer Axt auf Holz herum.

„Ferris Tucker“, murmelte Al.

„Der sollte doch schlafen!“ rief Ben.

Al grinste zu ihm hoch.

„Du kennst doch Ferris, oder?“ fragte er Ben Brighton. „Wenn an seinem Schiff etwas nicht in Ordnung ist, findet er keinen Schlaf, und wenn er vorher Wochen durch die Gegend marschiert ist. Er wird einen neuen Bugspriet zurechtzimmern, und dein kleiner Bruder wird ihm dabei helfen.“

Ben Brighton zuckte mit den Schultern. Er wußte, daß Al Conroy wahrscheinlich recht hatte.

Er drehte sich um, als er ein Schott knarren hörte. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Fast hatte er es sich gedacht. Auch der Seewolf hatte in seiner Kammer nicht den rechten Schlaf gefunden. Nach drei Stunden war er wieder auf den Beinen. Er sah zwar noch ein bißchen müde aus, doch seine Augen waren klar.

Er ging zur Backbordseite hinüber und schaute auf die „Fidelity“, die etwa zweihundert Faden vor ihnen segelte.

„Holen wir auf?“ fragte Hasard, als Ben Brighton neben ihn trat.

Ben schüttelte den Kopf.

„Die Kerle haben keine schlechten Schiffe“, sagte er. „Und sie sind nicht so stark beschädigt, wie ich gedacht habe.“

Hasard lauschte.

„Was ist das für ein Hämmern unter Deck?“ fragte er, und als er das Grinsen auf Bens Gesicht sah, fuhr er selbst fort: „Ferris?“

Ben nickte.

„Der kann es in seiner Koje noch weniger aushalten als du“, erwiderte er.

„Gut“, sagte Hasard. „Laß Terry weiter vorweg segeln. Ich gehe Ferris zur Hand, damit wir bald unseren neuen Bugspriet montieren können. Falls irgend etwas Besonderes passiert, gib mir sofort Bescheid. Hat Terry irgendwas signalisiert? Vermutet er einen bestimmten Plan der Piraten?“

„Der eiskalte Hund rührt sich nicht“, sagte Ben gepreßt. „Selbst wenn er etwas vermuten würde, bindet er es uns bestimmt nicht auf die Nase.“

Der Seewolf erwiderte nichts. Er wußte, daß Ben recht hatte. Mit einem Mann wie Easton Terry war eine Zusammenarbeit unmöglich. Ein Mann, der sich für den Nabel der Welt hielt, war für eine Teamarbeit unbrauchbar. Dabei waren sie auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Das erste Gefecht, das sie siegreich hatten beenden können, hatten sie noch gegen vier überraschte Gegner gewonnen. Jetzt aber wußten die Piraten Bescheid und würden nur im stärkeren Verband noch einmal angreifen.

Der Seewolf war in Gedanken versunken, als er den Niedergang zur Kuhl hinunterstieg und durch die Luke unter dem Achterdeck ins Hauptdeck kletterte.

Ferris Tucker und Roger Brighton arbeiteten bei Lampenlicht, das durch die Bewegungen des Schiffes schwankte und seltsame Schatten an die Wände warf.

Ferris Tucker schaute auf und grinste Hasard an.

„Auch schon ausgeschlafen?“ fragte er.

Der Seewolf nickte. Er packte mit an, als Ferris den Hobel an den neuen Sprietmast setzte. Eine Weile sah er den schwitzenden Männern bei der Arbeit zu, dann sagte er zu Ferris: „Wir haben noch keine Gelegenheit gehabt, über das zu sprechen, was du bei den Piraten erlebt hast. Erzähl mal. Vielleicht fällt uns dabei irgend etwas auf, was uns der Lösung näherbringt, wer die Kerle sind.“

Ferris Tucker hob die breiten Schultern.

„Ich habe ein paar Namen verstanden“, erwiderte er, „aber die haben mir nichts gesagt.“

„Welche Namen?“

„Servan zum Beispiel.“

„Noch nie gehört“, sagte Hasard. „War er der Anführer?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Ferris. „Ich hatte das Gefühl, als ob die Kerle mehrere Anführer hatten. Da waren zwei, die eigentlich gar nicht zu ihnen paßten. Aber sie haben die Piraten zu dem Waffenversteck in der Fischerhütte geführt.“

Hasard fluchte unterdrückt.

„Habe ich mir doch gedacht!“ stieß er hervor.

„Was hast du dir gedacht?“ fragte Ferris, der mit seiner Arbeit fortfuhr.

„Daß die Piraten in der Fischerhütte irgend etwas gesucht haben: nämlich Waffen.“

„Habt ihr die Steinplatte neben dem Kamin nicht gefunden?“ Ferris hob überrascht den Kopf.

Hasard schüttelte den Kopf. „Wir wollten nicht zuviel Zeit verlieren. Schließlich waren wir hinter den Kerlen her, um dich zu befreien.“

„Der eine der beiden, die die Piraten zur Fischerhütte führten, heißt Le Testu, der andere Montbars“, sagte Ferris. „Ziemlich wüste Kerle. Wenn es keine Piraten waren, dann sicher andere Verbrecher.“

Die Namen sagten Hasard auch nichts.

„Der Kerl, den die anderen Le Testu nannten, war ein merkwürdiger Kauz“, fuhr Ferris Tucker fort.

„Wieso?“

„Na, er beschimpfte mich, ich sei ein verräterischer englischer Hurensohn“, sagte Ferris, „und später in der Fischerhütte hat er gesagt, daß er mich wegen meines Verrates wie ein Schwein aufhängen lassen würde.“

Der Seewolf grinste.

„Und das hast du alles verstanden?“

„Und ob!“ erwiderte Ferris Tucker stolz. „Ich habe schließlich einiges auf der ‚Mercure‘ gelernt.“

„Reisen bildet“, warf Roger Brighton grinsend ein.

Hasard begann nachzudenken. Was hatten Ferris Tuckers Worte zu bedeuten? Wieso nannten sie ihn einen Verräter?

„Da fällt mir noch was ein“, sagte Ferris. „Auf dem Weg von der Hütte ins Fischerdorf haben sich dieser Le-Testu und Servan unterhalten. Dabei ist oft das Wort ‚Hugenotten‘ gefallen, und Le Testu sprach immer wieder von katholischen Hundesöhnen.“

„Du meinst, dieser Le Testu gehörte gar nicht zu den Piraten, sondern ist ein Hugenotte?“

„Kann sein“, murmelte Ferris. „Ich weiß aber nicht, wie uns das weiterhelfen sollte.“

Der Seewolf erwiderte nichts. In seinem Kopf begann sich ein Gedanke zu bilden, der ihn nicht wieder losließ. Hatten die Piraten diesen Le Testu eingeseift? Hatten sie ihm vorgelogen, daß sie ebenfalls Hugenotten wären, damit sie mit Waffen versorgt wurden? Warum sonst hatten sie Ferris Tucker als Verräter beschimpft? Ein Hugenotte würde niemals einen Engländer einen Verräter nennen, wenn dieser nicht mit den Spaniern zusammenarbeitete. Hatte das der Pirat Servan etwa behauptet?

„Ferris“, sagte er, „was waren dieser Le Testu und der Mann namens Montbars für Kerle?“

Ferris schaute Hasard überrascht an.

„Hab ich dir doch schon gesagt“, meinte er. „Wenn es keine Piraten waren, dann eben andere Halsabschneider. Wenn einer von den beiden hier bei uns an Bord wäre, würde ich jede Stunde nachschauen, ob mein Hammer, meine Axt und mein Dechsel noch an Ort und Stelle liegen.“

„Du meinst nicht, daß man sie vielleicht gegen die Piraten ausspielen und zu Verbündeten machen kann?“

„Diese Schnapphähne zu Verbündeten?“ rief Ferris. „Dann können wir uns unsere Hälse gleich selber durchschneiden!“

Der Seewolf erwiderte nichts. Ferris schien nicht begriffen zu haben, mit welchem Gedanken er gespielt hatte.

Die beiden Hugenotten befanden sich jetzt an Bord der Piratengaleone, und mit aller Wahrscheinlichkeit waren sie schon irgendwo unter Deck eingesperrt, denn die mit den Spaniern zusammenarbeitenden Piraten und die Hugenotten mußten Todfeinde sein.

Aber was nutzen mir die beiden Hugenotten, wenn sie Gefangene der Piraten sind? fragte sich Hasard. Er schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, weitere Gedanken daran zu verschwenden. Er sah, daß Ferris Tucker mit der Arbeit am Sprietmast fertig war, und half ihm, die Stenge an Deck zu bringen.

Ferris Tucker war bereit, den neuen Bugspriet während der Fahrt anzubringen, aber Hasard verbot es. Er wollte keinen Mann durch einen Unfall verlieren.

Die beiden Piratenschiffe hatten den Abstand bisher ziemlich halten können, und das aufziehende Wetter war ihr Verbündeter.

Von der Sonne, die vor Stunden glutrot über der Küste aufgegangen war, war nichts mehr zu sehen. Dunkle Wolken hatten sich vor sie geschoben. Der Nebel begann, dichter zu werden, und der Wind hatte mächtig aufgefrischt. Gischtfahnen wehten über das Deck der „Hornet“.

Immer wieder verschwanden die Piratenschiffe in dichten Nebelfeldern, aber noch hatten die „Hornet“ und die „Fidelity“ sie nicht aus den Augen verloren.

Der Seewolf ließ zu Terry hinübersignaliseren, daß sie dichter zusammenbleiben sollten. Es dauerte eine Weile, bis Hasard Antwort erhielt, und er wußte, daß Terry sich wieder einmal schwertat, einen Befehl hinzunehmen. Aber das war ihm gleichgültig. Er hatte sich geschworen, mit Easton Terry keine Geduld mehr zu haben. Er mußte einsehen, daß nur einer das Kommando des Unternehmens haben konnte, und das war er, Philip Hasard Killigrew.

5.

„Du wolltest dir doch diesen Hugenotten vornehmen“, sagte Servan zu Yves Grammont.

„Das werde ich auch“, stieß der bärtige Pirat hervor. „Und er wird alles ausspucken, was er weiß. Meinst du, daß er weiß, wer dieser schwarzhaarige Teufel ist, der uns zusammengeschossen hat?“

Pierre Servan schüttelte den Kopf.

„Niemals“, sagte er entschieden. „Du hättest ihn und den Korsen mal gegen die Engländer kämpfen sehen sollen, als wir sie im Wald in die Falle gelockt hatten. Nein, der Kerl hat mir alles abgenommen, was ich ihm von den englischen Verrätern, die mit spanischen Spionen zusammenarbeiten, erzählt habe.“

Yves Grammont brummte etwas in seinen Bart. Der Gedanke an den schwarzhaarigen Engländer ließ ihn nicht los. Ein harmloser Kauffahrer war er bestimmt nicht, dafür wollte Grammont seine Seele verwetten. Und wenn es stimmte, was er Saint-Jacques gegenüber geäußert hatte, daß die Engländer ein Kommando losgeschickt hatten, die gegen die französischen Piraten kämpfen sollten, die immer wieder englische Schiffe im Kanal kaperten, dann hatte man bestimmt keinen unbekannten Mann geschickt.

War es vielleicht sogar Drake?

Yves Grammont schüttelte den Kopf. Er hatte Männer von Drake erzählen hören. Er sollte ein mittelgroßer, unscheinbarer Mann sein, der schwarzhaarige Teufel auf dem Achterdeck der „Hornet“ hatte jedoch ausgesehen, als sei er mindestens sechs englische Fuß groß.

Wen gab es noch? Frobisher? Nein, der mußte inzwischen fast sechzig Jahre alt sein. Der schwarzhaarige Teufel war wesentlich jünger gewesen.

Yves Grammont schüttelte die Gedanken ab. Er durfte sich nicht verrückt machen lassen.

Als er das Deck wieder betrat, sah er, daß sich das Wetter innerhalb einer halben Stunde wesentlich verschlechtert hatte. Von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Nebelbänke stiegen aus dem Meer auf und verschluckten dann und wann die Verfolger, die in gleichbleibendem Abstand hinter ihnen hersegelten.

Yves Grammont wußte, daß es ein glatter Fehler gewesen wäre, hätte er die Herausforderung der Engländer angenommen. Sie hatten nach dem Bericht Servans beim nächtlichen Angriff durch die sieben Jollen gezeigt, daß sie mächtig auf der Hut waren und sich nicht so leicht überrumpeln ließen.

Er wußte, daß er die „Louise“ und die „Coquille“ auch noch aufs Spiel setzte, wenn er ein zweites Gefecht mit den Engländern wagte.

Nein, dachte er, ich muß mir etwas anderes einfallen lassen. Allein sind wir den Engländern nicht gewachsen. Wir können sie nur packen, wenn wir sie von allen Seiten gleichzeitig angreifen.

Aber wie?

Er hatte nur noch zwei Schiffe, und die Engländer waren ebenfalls zu zweit.

Ich brauche Verstärkung, dachte Yves Grammont.

Wie ein Blitz zuckte der Gedanke durch sein Hirn, und sofort wußte er, was er zu tun hatte.

„Servan!“ brüllte er, obwohl der Kapitän der gesunkenen „Antoine“ nur ein paar Schritte von ihm entfernt stand.

„Was ist los, Kapitän?“ fragte Servan erschrocken.

„Gut, daß wir die beiden Boote haben“, sagte Grammont.

Servan nickte, obwohl er nicht wußte, was Grammont mit dieser Bemerkung bezweckte.

„Du kennst dich bestens mit den Jollen aus, wie?“ fragte der Piratenkapitän grinsend.

„Sicher“, sagte Servan verdutzt.

„Du wirst nämlich gleich wieder einsteigen“, fuhr Grammont fort, „ebenso wie Bauduc.“

Servan begann zu verstehen. Grammont wollte Hilfe holen. Bald waren sie auf der Höhe von Lannion, und wenn sie dichter unter die Küste gingen, war es leicht, eine Nebelbank abzuwarten und mit den Booten an Land zu pullen. Ehe die Engländer es bemerken würden, hätte er, Servan, eine kleine Flotte auf die Beine gestellt, und dann konnten sie die Engländer in die Zange nehmen.

Pierre Servan konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, als Yves Grammont ihm seine Vermutung nun fast wörtlich vortrug. Er war froh, die Schnauze gehalten zu haben, denn von Saint-Jacques wußte er, daß Grammont nicht vertrug, wenn auch andere nachdenken konnten.

„Was sagst du dazu?“ fragte der bärtige Pirat.

„Genial!“ sagte Servan mit Begeisterung in der Stimme.

„Deshalb bin ich euer Anführer“, sagte Grammont im Brustton der Überzeugung. Allerdings war er der Grausamste von allen, und darum wagte niemand, ihm den Rang streitig zu machen. Aber er sah das anders. Er war stolz auf seine Intelligenz, und wer sie nicht anerkannte, dem schlug er eben den Schädel ein.

Sie bereiteten alles für den Landgang vor. Pierre Servan und Jean Bauduc durften sich jeder acht Männer als Rudergasten aussuchen. Von ihren eigenen Leuten durften sie niemanden mitnehmen.

„Sie brauchen nach den harten Strapazen ein bißchen Ruhe“, hatte Yves Grammont grinsend gesagt aber Pierre Servan und Jean Bauduc hatten genau gemerkt, daß Grammont ihnen nicht so recht traute und sie von seinen Männern überwachen lassen wollte.

Servan wunderte sich, daß Grammont nicht einen seiner Vertrauten, den kleinen, mageren Ferret oder den dicken Jules Arzot, mitschickte. Aber wahrscheinlich waren sie auf der „Louise“ unentbehrlich.

Sie warteten, bis eine dichte Nebelwand vor ihnen auftauchte. Sie fuhren mitten hinein, und nach einer Weile ließ Yves Grammont den Kurs ändern und hielt auf die Küste zu. Es schien ihm nicht sehr gefährlich, da der Wind immer noch von Südosten blies und daher keine Gefahr bestand, daß die Schiffe vom Wind auf die Küste gedrückt wurden.

Pierre Servan und Jean Bauduc waren mit ihren Männern schon in die Boote umgestiegen. Sie warteten, bis sie das Rauschen der Brandung vernahmen, das der Wind weit aufs Meer hinaustrug. Dann lösten sie die Leinen und begannen zu pullen.

Der Nebel hatte sich immer noch nicht verzogen, und so waren die Konturen der „Louise“ und der „Coquille“ schon nach Minuten nicht mehr zu sehen.

Pierre Servan wünschte, er hätte Jean Bauduc bei sich an Bord des Bootes. Dann hätte er jemanden gehabt, mit dem er hätte reden können. Die Rudergasten in seinem Boot konnten alle Spione sein, die jedes Wort, das er sagte, später Grammont zutragen würden.

Servan verstand das Mißtrauen Grammonts nicht und war ein wenig gekränkt. Schließlich hatte er bewiesen, daß er kein Feigling war, als er die Engländer mit den Fischerbooten angegriffen hatte. Oder war er nur zu empfindlich? Hatte Grammont es ernst gemeint, als er gesagt hatte, daß seine Männer Ruhe brauchten?

Er entschied sich, keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden. Grammont konnte ruhig jedes Wort hören, das er aussprach. Er war schließlich kein Verräter.

Er starrte nach Süden, wo das Geräusch der Brandung immer stärker wurde, und hoffte, daß sie die Bucht von Lannion bald erreichten, denn es war wichtig, daß die Engländer nicht zu weit entwischten.

Yves Grammont wollte im Nebel mit ihnen Katz und Maus spielen und dafür sorgen, daß die Engländer in der Nähe blieben.

Hoffentlich spielt der Nebel mit, dachte Pierre Servan.

6.

„Da sind sie wieder!“ rief Dan O’Flynn und reichte dem Seewolf den Kieker.

Hasard blickte durch das Spektiv und sah die Galeone und die Karavelle, die für eine Stunde im Nebel unter Land verschwunden gewesen waren, wie Geisterschiffe aus einer Nebelbank auftauchen.

Er stutzte einen Augenblick, als er die Galeone sah. Irgend etwas schien ihm anders. Und dann wußte er, was es war!

Die beiden Boote, die die Galeone im Schlepp gehabt hatte, waren verschwunden.

Der Seewolf brauchte nicht lange nachzudenken, was das zu bedeuten hatte. Jetzt war auch klar, warum die Piraten bei diesem dichten Nebel so weit unter Land gegangen waren.

Sie hatten ein paar ihrer Männer in den beiden Fischerbooten an Land geschickt. Offensichtlich wollten die Piraten Verstärkung heranholen, weil sie allein kein neues Gefecht mit den Engländern wagten.

Hasard ließ Ferris Tucker nach achtern rufen und befahl auch Carberry zu sich.

„Die beiden Fischerboote, die die Piraten in Schlepp hatten, sind verschwunden“, begann er, als alle in seiner Kammer versammelt waren. „Das kann nur heißen, daß sie Hilfe holen und uns dann mit vereinten Kräften angreifen wollen. Ich habe da eine Idee, aber dazu will ich von dir, Ferris, wissen, ob du die genaue Lage des Fischerdorfes kennst. Was meinst du, auf welcher Höhe es sich befindet?“

Hasard selbst hatte schon darüber nachgedacht. Sie hatten fast die ganze Nacht marschieren müssen, um von dort zur Bucht von Sillon de Talbert zurückzugelangen, aber sie hatten viele Buchten umgehen müssen, so daß sehr schwer auszurechnen war, wie viele Meilen sie in Luftlinie zurückgelegt hatten.

„Wir müßten eigentlich schon daran vorbei sein“, sagte Ferris Tucker Hasard nickte. Auch er glaubte es. Mit dem achterlichen Wind hatten sie in den paar Stunden eine ziemlich große Strecke zurückgelegt.

Er beugte sich über die Seekarte, die er vor sich auf seinem Tisch liegen hatte, und wies mit dem Finger auf eine Stelle an der Küste.

„Hier ungefähr müßte unsere Position sein“, sagte er. „Das stimmt auch mit meinen Vermutungen betreffs der ausgesetzten Fischerboote überein. Wahrscheinlich ist ihr Ziel Lannion. Dort werden sie Piraten kennen, die ihnen helfen könnten.“

„Willst du Lannion angreifen?“ fragte Ben Brighton überrascht.

Hasard schüttelte den Kopf.

„Nicht angreifen“, sagte er, „aber ich hätte zu gern gewußt, was wir von dort zu erwarten haben. Außerdem denke ich an die armen Hunde im Fischerdorf, die ihre sämtlichen Boote verloren haben. Jeder von euch weiß, welche Katastrophe das für das Dorf bedeutet.“

„Ah“, sagte Ferris Tucker, „du willst unsere beiden Boote, die wir von den Piraten erbeutet haben, ins Fischerdorf zurückbringen und von dort aus über Land nach Lannion …“

Der Seewolf lächelte.

„Du hast es erfaßt; Ferris“, sagte er. „Aber du wirst diesmal nicht dabei sein, weil wir dich hier brauchen. Wir müssen endlich unseren Bugspriet wieder in Ordnung bringen.“

„Du solltest aber Leute schicken, die die Fischer schon kennen“, sagte Dan O’Flynn. „Ich melde mich freiwillig.“

Der Seewolf nickte.

„Du pullst eins der Boote mit drei anderen an Land“, sagte er. „Das zweite Boot übernimmt Ed. Seht zu, daß ihr unter den Fischern Helfer findet, die euch nach Lannion führen. Sagt ihnen, daß sie sich dort zwei weitere ihrer Boote zurückholen können. Damit wäre ihr Dorf vorerst vor dem Verhungern bewahrt.“

„Dann müßten wir aber an der Küste zurückkreuzen“, sagte Carberry. „Du wirst die beiden Piratenschiffe aus den Augen verlieren.“

Der Seewolf schüttelte den Kopf.

„Hat noch niemand von euch bemerkt, daß die Kerle in den letzten Stunden versuchen, Katz und Maus mit uns zu spielen? Sie wollten nichts anderes, als uns hier vor der Küste festnageln, bis ihre Verstärkung heran ist. Sie werden ganz schön überrascht sein, wenn wir uns absetzen und plötzlich nicht mehr hinter ihnen sind. Vor dem morgigen Tag kann keine Hilfe für sie dasein, und bis dahin müßtet auch ihr an Bord zurücksein. Wir werden morgen früh beim ersten Licht des Tages wieder zur Stelle sein, um euch aufzunehmen. Die Fischer werden euch sicher hinausfahren.“

„Und wenn sie ihre Boote nicht wieder riskieren wollen?“ fragte Ben Brighton.

„Du kennst die Bretonen nicht“, erwiderte Hasard. „Wenn du ihnen hilfst, sind sie jederzeit auch für dich da.“

„Hoffen wir, daß es typische Bretonen sind“, murmelte Ben.

Die anderen grinsten sich an.

„Die weitere Frage ist, was Easton Terry dazu sagen wird, wenn du befiehlst, die Verfolgung der Piraten abzubrechen“, meinte Dan O’Flynn.

Hasards Züge verhärteten sich.

„Er hat meine Befehle widerspruchslos zu befolgen“, erwiderte er.

Sie erhoben sich und gingen zurück an Deck. Carberry und Dan suchten sich ihre Männer zusammen. Carberry wollte Stenmark, Batuti und Blacky mitnehmen, Dan hatte sich Matt Davies, Jack Finnegan und Paddy Rogers ausgesucht.

Dann warteten alle gespannt darauf, was Easton Terry zu den Signalen sagen würde, die Sam Roskill zur „Fidelity“ hinübergab.

Die erste Antwort war: „Warum?“

Die Männer grinsten sich an, als der Seewolf nur ein einziges Wort zurücksignalisieren ließ: „Befehl.“

Das schien zu genügen. Kurz nach der „Hornet“ fuhr auch die „Fidelity“ eine Halse und begann, gegen den ablandigen Wind zu kreuzen. Manch grinsender Blick flog zur „Fidelity“ hinüber, wußte doch jeder, daß Easton Terry in diesem Augenblick vor Wut bald zerplatzen mußte.

Der Nebel bereitete Hasard Sorgen. Er wurde immer dichter. Die Piraten hatten die Umkehr der beiden englischen Galeonen nicht beobachten können, dessen war sich Hasard sicher. Einen kurzen Moment dachte er daran, daß die Piraten verschwinden könnten, doch er glaubte nicht daran. Die schwere Niederlage mußte an ihrem Stolz fressen und wenn sie es nicht am nächsten Tag mit Verstärkung versuchen würden, sie ein zweitesmal in ein Gefecht zu verwickeln, dann mußten Hasard und Terry eben noch ein paar Tage vor der Küste kreuzen und den Lockvogel spielen. Irgendwann würden sie schon wieder anbeißen.

Bald hörten sie das Donnern der Brandung, das vom Wind zu ihnen herübergetragen wurde.

Der Seewolf befahl, die beiden Boote zu verholen, damit Carberry und Dan sie übernehmen konnten.

Dann stießen die Männer ihre Boote mit den Riemen vom Rumpf der „Hornet“ ab und pullten auf Land zu.

Easton Terry ließ signalisieren, was das alles zu bedeuten hätte, und wieder war Hasards einzige Antwort: „Befehl!“

„Du reizt ihn bis aufs Blut“, meinte Ben Brighton. „Hoffentlich dreht er nicht durch und unternimmt etwas auf eigene Faust.“

„Er wird sich hüten“, erwiderte der Seewolf hart. „Es stirbt sich schlecht an der Rah mit einem Strick um den Hals.“

Ben Brighton schwieg. Er schaute Hasard von der Seite an. So hart und unnachgiebig hatte er ihn lange nicht mehr gesehen. Es mußte bei ihrem Landgang einige Reibereien gegeben haben.

Ben schüttelte leicht den Kopf. Hoffentlich geht das alles gut, dachte er.

Sie hatten Glück, daß der Nebel unter der Küste lange nicht so dicht war wie weiter draußen auf der See. Die Sonne brach sogar durch die aufgerissene Wolkendecke.

Schon die zweite Bucht, die sie anliefen, war die richtige. Carberry und Dan erkannten die Häuser und den kleinen Platz etwas oberhalb des breiten Strandes. Sie sahen, daß immer mehr Menschen aus den Häusern auftauchten und den beiden Booten entgegenstarrten. Viele der Männer waren bewaffnet.

Ein bißchen mulmig war ihnen schon zumute, als die Kiele ihrer beiden Boote über den Strand schurrten und mit einem Ruck gebremst wurden.

Doch dann erkannten einige der Fischer die Engländer, die am gestrigen Tag in ihrem Dorf gewesen waren. Sie hielten die anderen zurück und redeten heftig auf sie ein.

Carberry schickte Jack Finnegan vor, der von ihnen am besten Französisch sprach, und der erklärte den Fischern mit kurzen Worten, was inzwischen geschehen war.

Ihre Enttäuschung, daß drei ihrer Boote zerstört worden waren, schien nicht besonders groß zu sein. Wahrscheinlich hatten sie nicht erwartet, auch nur eins von ihnen wiederzusehen.

Als Finnegan ihnen dann von ihrem Plan erzählte, die Piraten in Lannion zu belauschen und ihnen dabei auch noch die anderen beiden Boote wieder abzunehmen, waren die Fischer mit Begeisterung bei der Sache.

Sie redeten so sehr durcheinander, daß bis auf Finnegan niemand verstand, was sie sagten.

„Sie meinen, daß es über Land zu lange dauert, bis wir nach Lannion gelangen“, übersetzte Jack schließlich. „Sie wollen mit den beiden Booten hinübersegeln. Dazu brauchen sie mit diesem achterlichen Wind nur drei Stunden.“

„Werden einige von ihnen uns begleiten?“ fragte Carberry.

Jack Finnegan grinste.

„Sie werden sich wahrscheinlich darum prügeln, wer mit uns fahren darf“, sagte er. „Wenn wir nicht aufpassen, laden sie die Boote so voll, daß wir unterwegs absaufen.“

Da sie noch Zeit hatten, wenn sie erst mit Einbruch der Dunkelheit in Lannion eintreffen wollten, wurden sie zu den Fischern eingeladen. Die Leute hatten sich eins der Häuser am kleinen Marktplatz als Gemeinschaftshaus eingerichtet, wo sie auch die gefangenen Fische verkauften. Dort wurde schnell ein langer Tisch gedeckt.

Sie fuhren auf, was ihre Speisekammern hergaben. Es war eine Fröhlichkeit unter den Leuten, die unbeschreiblich war. Carberry hatte das Gefühl, sie feierten ihre Wiedergeburt.

Das ganze Dorf, das bei ihrer Ankunft in tiefem Schweigen gelegen hatte, war plötzlich von Lärm erfüllt.

Das Mädchen, das Hasard und Terry am gestrigen Tag entgegengelaufen war und sie um Hilfe für ihr Dorf gegen die Piraten gebeten hatte, fiel den Engländern immer wieder um den Hals, und die ließen es sich nur zu gern gefallen.

Batuti wurde von den blonden Bretonen bestaunt wie ein exotisches Tier. Die meisten von ihnen hatten noch nie einen Neger aus der Nähe gesehen.

Nach zwei Stunden gemahnte Carberry die anderen daran, daß sie aufbrechen mußten. Finnegan redete mit den Bretonen und feilschte mit ihnen um die Anzahl der Männer, die mit ihnen nach Lannion fahren sollten. Schließlich gelang es ihm, sie auf sechzehn herunterzuhandeln. Wenn es ihnen gelang, in Lannion auch die beiden restlichen Fischerboote zu kapern, hatten sie für jedes Boot auf der Rückfahrt sechs Männer zur Verfügung.

Der Anführer der Fischer war ein etwa sechs Fuß großer junger Mann mit muskulösem Oberkörper und Händen, die groß wie Ruderblätter waren. Er war der Sohn des Mannes, den die Piraten auf dem kleinen Marktplatz kaltblütig über den Haufen geknallt hatten.

Sein Name war Guy Brurac. Er hatte sich an Jack Finnegan angehängt und versuchte, ihn nach allen Regeln der Kunst auszufragen, so daß dieser fast mißtrauisch wurde. Aber dann merkte er, daß der Junge am liebsten mit ihnen zurück an Bord der „Hornet“ gegangen wäre.

Sie wurden vom ganzen Dorf verabschiedet. Männer, Frauen und Kinder halfen, die Boote ins Wasser zu schieben, und sie standen noch winkend am Strand, als die Boote mit prallen Segeln nach Osten aus der Bucht segelten.

Genres und Tags
Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
2092 S. 21 Illustrationen
ISBN:
9783954397730
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip