Buch lesen: «Von Morgarten bis Marignano», Seite 4

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1291 – ein Wendepunkt?
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Nach dem Tod des weisen Königs Rudolf von Habsburg 1291 war «ufruerisch wunderbar wesen in disen obern landen», das heisst im Raum zwischen Rhein und Alpen, schreibt Tschudi. Sein Sohn und Nachfolger Albrecht «hat vil herren und stett geistlich und weltlich bi sines vatters seligen des künigs ziten beleidiget», fährt er fort. Dabei waren zum Beispiel die Zürcher «etwa des künigs liebste fründ gewesen». Nun war Albert ihnen gram und wollte sie unter sein Joch zwingen. Aegidius Tschudi erzählt eine andere Geschichte des Jahres 1291 als diejenige, die wir gemeinhin kennen. Er weiss nichts vom Bundesbrief von Anfang August 1291, hat ihn im Archiv in Schwyz nicht gesehen oder nicht zur Kenntnis genommen. Hingegen hat er das Bündnis von Zürich mit Uri und Schwyz von Oktober 1291 gekannt (und fälschlicherweise auf 1251 datiert) und dasjenige von November 1291 zwischen der Stadt Zürich und Elisabeth von Rapperswil.32

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gilt der 1. August 1291 offiziell als Gründungsdatum der Eidgenossenschaft. Wilhelm Oechsli hat dafür im Auftrag des Bundesrats die wissenschaftliche Rechtfertigung verfasst. Nüchtern analysiert er aufgrund der urkundlichen Überlieferung die Entwicklung der Waldstätte im 13. Jahrhundert und setzt den Bundesbrief von 1291 als dramaturgischen Höhepunkt, der dann nach der Schlacht am Morgarten Ende 1315 neu beschworen wird. Auf die chronikalische Überlieferung mit traditioneller Befreiungsgeschichte von Tell, Bundesschwur und Burgenbruch geht er gar nicht ein, sie gehörte nicht zu seiner wissenschaftlichen Analyse. Erst Karl Meyer hat gut 30 Jahre später diese zwei Stränge wieder zusammengeführt.33

Bevor auf die Bedeutung und Einordnung des Bundesbriefs eingegangen werden kann, braucht es einen Blick auf die Ereignisse vor und nach dem Tod des Habsburger Königs und auf die Stellung der uns bekannten Bundesgenossen gegenüber dem Reich und den Habsburgern.34

Der Tod des guten Königs

Rudolf von Habsburg ist teilweise schon zu Lebzeiten und dann kurz nach seinem Tod ein positives Urteil zuteil geworden. Er wird als konsequent in seinen Handlungen, aber auch als weise in seinen Entscheidungen beschrieben. Zahlreiche Legenden ranken sich um seine Person als leutseliger Mensch. Damals gab es noch keine PR-Agenturen, es waren die Chronisten des Dominikanerordens in Colmar, die sein Bild in den schönsten Farben malten.35 Zahlreiche dieser Geschichten wurden weiter kolportiert. Der Kärntner Mönch Johann von Viktring schuf dazu 1340 eine gültige habsburgische Version. Man könnte dieses Bild also auch als gezielte Herrschaftspropaganda bezeichnen. Das positive Bild rührt aber vielleicht auch daher, dass Rudolf sowohl als Familienoberhaupt wie als König grösstenteils erfolgreich agierte. Achtung vor seiner Leistung wird dabei mitgeschwungen haben. Bei näherem Hinsehen zeigt sich der Habsburger als geschickter, aber auch konsequenter Machtpolitiker, dem Vieles gelang und wenig schiefging.

Tschudis positives Bild von Rudolf rührt auch daher, dass der Habsburger während seiner Zeit als Territorialherr wie als König keine schwerwiegenden Konflikte mit den Waldstätten ausfocht, dass er im Gegenteil als Schiedsrichter (Uri) und Erteiler von Privilegien (Uri und Schwyz) im hellen Licht erscheint. Dass er aber seine territorialen Ambitionen zwischen Basel und dem Gotthard gemeinsam mit seinen Söhnen konsequent vorantrieb, darf nicht ausser Acht bleiben. Rudolf von Habsburg wird sich der Bedeutung der Gebiete rund um den Vierwaldstättersee am Weg zum wichtiger werdenden Gotthard bewusst gewesen sein. Die Übernahme des kyburgischen Erbes nach 1264 und 1273, sein Umgang mit dem Rapperswiler Erbe nach 1283 und der Kauf der Murbacher Besitzrechte südlich des Rheins mit Luzern als Mittelpunkt im Frühling 1291 deuten klar auf eine solche Strategie hin.

Der nebulös bleibende Abkauf der kyburgisch-laufen-burgischen Ansprüche im Aargau und der Innerschweiz 1273 lässt auf eine territorial gedachte Abgrenzung hin schliessen: Der burgundische Raum zwischen Thun und Burgdorf für seinen in familiärer Abhängigkeit stehenden Vetter Eberhard, den zentralen Raum am Weg zwischen Basel und dem Gotthard für die eigene Dynastie.

Der Verheiratung der Rapperswiler Erbin Elisabeth mit Ludwig von Homberg nach 1283 könnten ähnliche Überlegungen zugrunde gelegen haben. «Dise gräfin […], wilund graf Ludwigs seligen von Homberg verlassne witfrow, […] ist die letst person des stammens der grafen von Raperschwil gewesen», schreibt Tschudi. Der Homberger war mit seinem Machtbereich im Jura enger Gefolgsmann des Königs. Damit band König Rudolf das Rapperswiler Erbe näher an sich. Gleichzeitig legte er als Reichsoberhaupt Hand auf die Reichsvogtei Urseren. Der Verkauf des restlichen Rapperswiler Besitzes in Uri an das Kloster Wettingen im April 1290 wird kaum ohne Zutun des Habsburgers vonstatten gegangen sein. Ulrich von Rüssegg, Reichsvogt in Zürich, und Hartmann von Homberg, Bruder von Elisabeths von Rapperswil verstorbenem Ehemann Ludwig, siegelten das Geschäft.36 Der Turm und die Güter zu Göschenen, die Teil davon waren, scheinen im Besitz der Urner Ammannsfamilie Schüpfer gewesen zu sein, die ihrerseits zu den Fraumünsterleuten zählte.37 Sie begegnen uns wieder im Kreis der «Bundesgründer» um 1300.

Im April 1288 überträgt die Äbtissin des Klosters Säckingen das Meieramt von Glarus nach dem Tod des letzten Inhabers, des Meiers von Windegg, an Albrecht und Rudolf von Habsburg, die Söhne des Königs und Vögte des Klosters.38 Und drei Jahre später kaufen die Habsburger dem überschuldeten Kloster Murbach sämtliche Güter und Rechte südlich des Rheins ab. Dabei wird Luzern im Vordergrund gestanden haben. Die Stadt war im Lauf des 13. Jahrhunderts zur zentralen Schaltstelle für den Warenverkehr nördlich des Gotthards geworden. In den gleichen Zusammenhang gehörte auch die wahrscheinlich vor 1285 durchgeführte Übernahme der Vogtei Rotenburg, Sitz des Luzerner Vogts, durch die Habsburger.39

Im Umgang mit den Landleuten von Uri und Schwyz, die in den Quellen vor 1290 auftauchen, ist ein «divide et impera», ein «teile und herrsche» zu erkennen. Rudolf scheint die Bedeutung der Talkommunen und auch der Stadtkommune Luzern für den sicheren Passverkehr erkannt zu haben. Er privilegiert sie, beziehungsweise ihre Führungsschicht. Er setzt ihnen aber auch Schranken. Er, beziehungsweise seine Gattin Anna, verbietet 1275 die Besteuerung des Zisterzienserinnenklosters in der Au bei Steinen durch die Schwyzer Landleute und nimmt das Kloster 1289 durch seinen Vogt im Zürichgau, Konrad von Tillendorf, erneut in seinen Schutz. Elisabeth von Görz-Tirol, Gattin des 1298 zum König gewählten Albrecht I. von Habsburg, bekräftigt diesen Schutz noch zu Beginn des Jahres 1299.40 Solche Urkunden entstanden nicht zuletzt dann, wenn reale Konflikte im Raum standen. Die Schwyzer Landleute hatten versucht, das Kloster in Steinen zu besteuern.

Wer waren diese Landleute aber, in welcher Beziehung standen sie zueinander, zu den Gotteshausleuten der Klöster, zum lokalen Adel? Am Beispiel von Schwyz lässt sich dies näher ausleuchten. 1275 treten Rudolf der Stauffacher und Werner von Seewen als Bevollmächtigte der Schwyzer auf. Die beiden werden 1281 in einem Verkaufsgeschäft an Konrad Hunn zusammen mit Ulrich dem Schmid und Konrad Ab Yberg als Ammänner bezeichnet. Diese von Tschudi überlieferte und nicht im Original erhaltene Urkunde führt insgesamt 50 weitere Schwyzer Landleute mit Namen an, ohne dass deren Zugehörigkeit klar wird.41 Ein ähnliches Personal tritt uns in einer Schenkung an die Zisterzienserinnen von Steinen im April 1286 entgegen.42 Im Bündnis von Uri und Schwyz mit der Stadt Zürich von Oktober 1291 treten uns dann die drei Schwyzer Bevollmächtigten Konrad Ab Yberg, Rudolf Stauffacher und Konrad Hunn, auf der Urner Seite Werner von Attinghausen, Burkard (Schüpfer), der alte Ammann, und Konrad Meier von Erstfeld entgegen.43 Sowohl Tschudi wie die Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts haben in diesen Leuten die Bundesgründer in der Zeit um 1300 gesehen.

Ein Aufstand zwischen Genfer- und Bodensee

Die konsequente Politik der Habsburger in den 1280er-Jahren zur Sicherung und zum Ausbau ihrer Positionen im Mittelland und am Weg zu den Alpenpässen hatte Widerstand hervorgerufen. Mit dem Tod des Königs wurde aus diesem Widerstand offener Aufruhr. Die Stadt Bern begab sich bereits am 9. August 1291 in den Schutz des mächtigen Nachbarn Savoyen, solange bis ein neuer König im Land sei.44 Dieser neue König, Adolf von Nassau, wurde erst im Mai 1292 in Frankfurt gewählt. In der Zwischenzeit musste sich Rudolfs Sohn Albrecht sowohl in den österreichischen Herzogtümern wie im Raum zwischen Genfersee und Bodensee, aber auch im Elsass heftigen Widerstands erwehren. Er schaffte es, die Aufstände in der Steiermark im Winter 1291/92 niederzuschlagen. Im Westen hatte sich eine Koalition gebildet, die sich aus Verlierern der habsburgischen Territorialpolitik der letzten Jahre zusammensetzte. Sie stand unter Führung der Stadt Zürich und des Bischofs von Konstanz, niemand anderer als Rudolf von Habsburg-Laufenburg. Er war 1274 mithilfe seines königlichen Vetters auf den Bischofsstuhl von Konstanz gelangt, war Vormund der Söhne Eberhard und Hartmann seines verstorbenen Bruders Eberhard, des Kyburger Erben. Der Bischof schloss dazu im September 1291 einen Beistandspakt mit Graf Amadeus von Savoyen zur Sicherung der burgundischen Besitzungen seiner Neffen. Zu dieser Koalition gesellte sich eine ganze Reihe von Adligen, die unter Druck der habsburgischen Politik standen: die Grafen von Nellenburg, Toggenburg und Montfort in der Ostschweiz und am Rhein – dazu gehörte auch Wilhelm von Montfort, Abt von St. Gallen, der von König Rudolf aus dem Amt gedrängt worden war und bereits zehn Tage nach Rudolfs Tod wieder in St. Gallen einzog. Auch die Freiherren von Regensberg und die Rapperswiler Witwe Elisabeth, die Ende November 1291 zusammen mit den Bürgern von Rapperswil ein dreijähriges Bündnis mit der Stadt Zürich abschloss, zählten zu dieser Opposition.45 Bereits vom 16. Oktober datiert ein dreijähriges Bündnis zwischen der Stadt Zürich und den Landleuten von Uri und Schwyz.46 Auch die Waldstätte und die Stadt Luzern scheinen sich an dieser Koalition beteiligt zu haben, ohne dass wir Nachricht von konkreten Handlungen haben. Die Befristung der Bündnisse deutet darauf hin, dass es um die Friedenswahrung für eine gewisse Zeit ging, bis mit einer neuen Königswahl die Verhältnisse im Reich geklärt sein würden.

In Abwesenheit von Herzog Albrecht führte sein Verwandter und Dienstmann Hugo von Werdenberg die habsburgische Sache im Westen. Er fügte den Zürchern, die vor das habsburgische Winterthur gezogen waren, im Frühling 1292 eine empfindliche Niederlage bei. Die Koalition fiel nach der Königswahl Anfang Mai rasch auseinander. Die Stadt Luzern schwörte gegenüber Herzog Albrecht am 31. Mai Treue nach denselben Rechten, die sie unter dem Kloster Murbach gehabt hatte.47 Albrecht belagerte mit seinen Anhängern im Juni erfolglos Zürich. Ende August schliesslich schloss er mit dem Bischof von Konstanz und dessen Neffen sowie mit der Stadt Zürich Frieden.48 Die Habsburger konnten so den Status quo vor dem Tod von König Rudolf wiederherstellen. Herzog Albrecht arrangierte sich mit dem neu gewählten König Adolf und übergab ihm im November 1292 in Hagenau die auf der Kyburg aufbewahrten Königsinsignien. Der neu gewählte König bestätigte im Januar 1293 die habsburgischen Reichslehen.49

In Luzern gab es bis ins Jahr 1293 Nachwirkungen der Krise. Der Passverkehr über den Gotthard scheint unterbrochen gewesen zu sein. Der habsburgische Vogt in Baden hatte Waren mailändischer Kaufleute beschlagnahmt und gab sie erst nach Verhandlungen wieder frei. Insbesondere scheinen sich die Urner gegen das von Habsburg wieder befriedete Luzern gewandt zu haben.50

Und wo steht in diesen Ereignissen der Bundesbrief von Anfang August 1291? Auf den ersten Blick liesse er sich gut in das Geschehen der unsicheren Zeit nach dem Tod des Königs einordnen. Auf den zweiten Blick stellen sich aber eine ganze Reihe von Fragen, die Zweifel an der Echtheit der Urkunde aufkommen lassen.

… und der Bundesbrief?

In der zeitgenössischen Chronistik und in der späteren Tradition der Befreiungsgeschichte der Waldstätte im 15. und 16. Jahrhundert spielt der Bundesbrief keine Rolle, er war schlicht nicht bekannt. Er wurde im Lauf des 18. Jahrhunderts wieder entdeckt, zur Kenntnis genommen und erhielt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung, die er bis heute hat. Das lateinisch geschriebene Original der Urkunde liegt in Schwyz. Eine deutsche Übersetzung, die wahrscheinlich aus dem frühen 15. Jahrhundert stammt, ist in Nidwalden überliefert. In einem Konflikt zwischen Ob- und Nidwalden im Jahr 1616 legten die Nidwaldner die Abschrift vor, um ihre Gleichberechtigung mit ihren Nachbarn zu belegen. Die Schiedsorte Luzern, Uri und Schwyz akzeptierten diese Abschrift jedoch nicht. Mit den Worten «da muossten wir lachen» erachteten sie diese als ungültig.51

Die Urkunde beinhaltet ein Landfriedensbündnis, in dem die Wahrung der inneren Ordnung und Sicherheit und eine Hilfsverpflichtung bei äusserer Bedrohung im Vordergrund standen. Wichtig geworden in der Beurteilung ist das Richterprivileg. Die Länder sollten keine fremden oder gekauften Richter akzeptieren. Dieser Passus entspricht in etwa dem Richterprivileg, das König Rudolf den Schwyzern am 19. Februar 1291 in Baden ausgestellt hatte. In diesem Sinn ist der Bundesbrief kein revolutionäres Dokument oder eine Gründercharta, wie das 1891 von Wilhelm Oechsli postuliert worden ist. Und er ist schon gar kein hochpolitischer, gegen Habsburg-Österreich gerichteter Bund, wie das Karl Meyer 1941 zur 650-Jahr-Feier des Bundes schrieb.52 Hingegen gibt es eine Reihe von Fragen, die Zweifel am Dokument hervorrufen.

Die Urkunde trägt keinen Ausstellungsort, zählt keine handelnden Personen auf und ist nicht auf einen Ausstellungstag genau datiert. Sie ist in einem komplizierten und verworrenen Latein abgefasst von einer Schreiberhand, die in dieser Zeit unbekannt ist. Sie scheint auch aus verschiedenen Textelementen zusammengesetzt zu sein. Die Reihenfolge der Siegel entspricht nicht der Reihenfolge der Erwähnungen der Länder im Text und das Siegel zu Nidwalden entspricht dem gemeinsamen Siegel von Ob- und Nidwalden, das erst im frühen 14. Jahrhundert nachweisbar ist. Die inwendige Siegelinschrift «vallis superioris» (Obwalden) ist später angebracht worden. Roger Sablonier hat gar zur Diskussion gestellt, ob die im Brief erwähnte «communitas hominum Intramontanorum vallis inferioris», die Gemeinschaft der Menschen in den Bergen des inneren Tales, überhaupt Nidwalden bezeichnet, oder nicht ursprünglich das Urseren-Tal, was genauso Sinn machen könnte.53 Und im Bündnis von Zürich mit Uri und Schwyz von Oktober 1291 ist keine Rede vom Bundesbrief. Eine Altersbestimmung mit der 14C-Methode hat erbracht, dass das Pergament des Bundesbriefs durchaus in die Zeit um 1300 gehört, mit einer Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent in die Zeit zwischen 1252 und 1312.54

Unklar ist weiter die Erwähnung einer «antiqua confoederatio», eines älteren Bündnisses. Generationen von Historikern haben sich darüber den Kopf zermartert. Das ältere Bündnis wurde wahlweise in den 1240er-Jahren während der Stauferwirren, 55 um 1252 nach dem Ende dieser Wirren, gleichzeitig wie der ähnlich lautende geschworene Brief von Luzern, 56 oder 1273 nach dem Abkauf der kyburgisch-laufenburgischen Rechte durch Rudolf IV. von Habsburg gesucht.57 Ein neuer Erklärungsversuch für diese Frage ist, das ältere Bündnis als Vorlage zu betrachten, aufgrund derer der erhaltene Bundesbrief entstanden ist, eine Vorlage, die vielleicht von 1291 stammt und später neu gefasst worden ist. Später kann heissen, einige Jahre danach, im wahrscheinlichsten Fall im Jahr 1309 – warum?

1309 setzte der neue König Heinrich VII. von Luxemburg – er war nach der Ermordung von Albrecht I. von Habsburg-Österreich gewählt worden – den Rapperswiler Erben Werner von Homberg als Reichsvogt über die drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden ein. Und im gleichen Jahr verstarb die Mutter des Hombergers, Elisabeth von Rapperswil. Sein Erbe stand zur Debatte, nicht zuletzt auch gegenüber seinem Stiefvater Rudolf von Habsburg-Laufenburg und seinem noch jungen Stiefbruder Johann. Werner von Homberg hatte ein Interesse daran, seiner Reichsvogtei eine rechtliche Form und Tradition zu geben, da sie 1309 wahrscheinlich erstmals in dieser Form geschaffen worden ist. Und die Länder – vor allem Unterwalden – hatten ein Interesse daran, gegenüber einem neuen König – notabene keinem Habsburger – eine eigene Tradition vorzuweisen. In diesem Fall wäre der Bundesbrief eine Konstruktion des Reichsvogts im Verein mit den Waldstätten mit Bezugnahme auf ein älteres Bündnis, das nicht von ungefähr in die königslose, unsichere Zeit nach dem Tod von Rudolf von Habsburg im Sommer 1291 datiert wurde.58 Die Urkunde wäre in diesem Fall weniger ein ereignisbezogenes Vertragsgeschäft als vielmehr Teil einer Traditionsbildung mit politischem Hintergrund gewesen.59

Unabhängig davon, ob der Bundesbrief wirklich im Jahr 1291 entstanden oder später hergestellt worden ist, für die weitere Entwicklung der Waldstätte und der Eidgenossenschaft hatte er keine Bedeutung. Er war nicht bekannt und wurde nicht gebraucht, in der Tradition spielte er keine Rolle. Die Tradition konstruierte hingegen im 15. Jahrhundert die Befreiungsgeschichte mit Tell, Bundesschwur und Burgenbruch und erachtete den Brief von Brunnen nach der Schlacht am Morgarten vom Dezember 1315 als den ersten Bund. Tschudi datierte die Befreiungsgeschichte auf die Jahreswende von 1307/08. Was wissen wir über diese für die weitere Entwicklung so folgenreichen Jahre? Was Wernhern von Stouffach von Switz mit dem landtvogt Grisler begegnet und wie [er] uss siner eefrowen rat gen Uri fuer, alda Walther Fürst von Uri, ouch er und Arnolt von Melchtal von Underwalden ob dem Kernwald den ersten pund zesamen schwuorend im land Uri, davon die eidtgnoschafft entsprungen.

[…] Also ward er ouch berüfft, und wurdend also dise drij man Walther Fürst von Uri, Wernher von Stouffach von Schwitz und Arnolt von Melchtal von Underwalden der Sachen eins, das si gott ze hilff nemmen und understan weltind diser sachen sich ze underwinden. Des schwuorend si ein eid zuo gott und den heiligen zesamen, und wurdend nachvolgende bedingen von inen abgeredt: nämlich das iro jeder sölt in sinem land an sine bluotzfründ und andre vertruwte lüt heimlich werben umb hilff und bistand, die an sich ziechen und zu inen in ir püntnus und eidtsgelübt ze bringen und behulffen ze sin, wider ir alte frijheit ze erobern und die tirannischen landtvögt und muotwillige herrschafft ze vertrijben, einandern bi gericht und recht ze schirmen und daran ir lib und leben ze setzen; doch das nichtzdestminder jetlich land dem heiligen römischen rich gebürliche gehorsame tuon, ouch jeder mentsch sin sonderbare pflicht wes er gebunden, es is sig gotzhüsern herren edlen und unedlen und mengklich dem andern inländischen oder ußländischen, wie von alter har gebürende pflicht und dienst leisten, so verr und die selben nit si von ir frijheiten und wider recht ze trengen fürnemmind. […] Es ward ouch abgeredt, wann etwas fürfiele das von nöten sich ze underreden, das dann si drij einandern berueffen und nachts zesamen komen für dem Mijtenstein so im see stat under Sewlisberg an ein end, heist im Rütlin. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 3, 1980, 220–223)

Landleute und Täler – die Reichsvogtei Waldstätte 1308/09
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Also wurden «dise drij man, Walther Fürst von Uri, Wernher von Stouffach von Schwitz und Arnolt von Melchtal von Underwalden der Sachen eins», schreibt Tschudi. Sie vereinbaren, dass jeder in seinem Land heimlich Vertraute wirbt, um die alten Freiheiten wieder zu erobern und die tyrannischen Landvögte zu vertreiben und «einandern bi gericht und recht ze schirmen und daran ir lib und leben ze setzen». Tschudi betont aber auch, dass die Länder gegenüber dem Heiligen Römischen Reich gehorsam sein sollen und dass jeder Mensch an seine «sonderbare pflicht» gebunden sei. Die bestehende Rechtsordnung sollte nicht in Frage gestellt werden.

Für Tschudi waren die Reichsprivilegien der Könige das Gerüst der Befreiung. Die Befreiungsgeschichte mit Bundesschwur, Tell und Burgenbruch integrierte er in seine Schilderung des Wegs zur Wiedererlangung der alten helvetisch-römischen Freiheiten: Aus dem Bund der drei Schwörenden ist «[…] der erste Ursprung der eidgnoschafft gevolgt, dardurch das alte land Helvetzien (jetz Switzerland genant) wider in sin uralten stand und frijheit merteils kommen».60 Tschudi datierte den Bund auf den Oktober 1307, im November kam dann ungeplanterweise der Tell dazwischen, der ohne Rücksprache mit den Bundesgenossen den Landvogt Grisler provozierte und ermordete. Wie geplant, folgten dann am Neujahrstag 1308 der Aufstand und der Burgenbruch. Der Tyrann König Albrecht wurde Anfang Mai ohne Zutun der Bundesgründer von seinem eigenen Neffen Johann umgebracht. Damit war der Weg frei zur Wiederherstellung der alten Freiheiten.

Das Personal auf eidgenössischer wie auf habsburgösterreichischer Seite entnahmen die Chronisten zum allergrössten Teil dem 15. Jahrhundert. Die Landenberger aus dem Zürcher Oberland, zwar seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in habsburgischen Diensten, hatten aber keinen näheren Bezug zur Innerschweiz. Aus dem Landvogt Grisler auf der Burg in Küssnacht wurde mit der Zeit der Gessler. Die Gessler, mit Wurzeln im oberen Freiamt, hatten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert in habsburgischen Diensten Karriere gemacht. Ihren Stammsitz auf Meienberg zerstörten die Luzerner im Sempacherkrieg 1385/86. Hermann Gessler war um 1400 Vogt von Grüningen und Herr zu Brunegg. Es waren Leute, die den Chronisten aus früheren Quellen bekannt waren und als bequeme Folie für die bösen Vögte dienen konnten. Bezeichnenderweise soll Gessler auf der Burg bei Küssnacht gesessen haben, die ausgerechnet von den Habsburgern 1352 geplündert wurde und im 15. Jahrhundert im Besitz der Urner Patrizierfamilie von Silenen war. Die Namen der eidgenössischen Bundesgründer suchte Tschudi in Quellen aus der Zeit um 1300 und fand sie zum Beispiel im Namen Stauffacher.

Was wissen wir nun aber über die Jahre 1307 bis 1309, in denen Tschudi seine Befreiungsgeschichte ansiedelte? Im Vordergrund steht die Ermordung des habsburgischen Königs Albrecht im Frühling 1308. Wiederum war der Tod eines Königs Anlass für einen Wechsel. Wieder musste ein neuer Regisseur mit neuem Personal gefunden werden.61

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