Buch lesen: «Das Geheimnis der Reformatorin», Seite 5

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Mathes’ Stute schnaubte, als sie sich näherten. Jonata stockte und lauschte. Die Männer am Feuer, die dreißig Schritte von ihnen entfernt lagen, regten sich nicht.

Mathes band die Pferde los und nahm Jonata das Kind ab, dass sie aufsitzen konnte. Dann gab er ihr Clara zurück. In dem Moment hörte Jonata es erneut knacken. Ihr Herz machte einen Satz in die Tiefe. Diesmal war es kein Reh, sondern ein breitschultriger Mann, der auf Mathes zustürmte.

»Hinter dir!«, zischte Jonata und hielt instinktiv die Luft an.

Mathes drehte sich um und schlug dem Angreifer mit einem gekonnten Schlag unters Kinn. Der Mann ging zu Boden und stöhnte. Mathes versetzte dem Mann noch einen Schlag und beeilte sich, aufzusitzen. »Los! Weg hier!«, flüsterte er.

Beängstigend langsam entfernten sie sich vom Lager. Sie konnten nicht schnell reiten, dafür war es noch zu dunkel. Jonata hoffte, dass ihre Stute erkennen würde, wohin sie die Hufe setzte. Gehetzte Blicke über die Schulter. Folgte ihnen auch niemand? Sie erwartete jeden Moment Geschrei. Nichts! Mathes’ Faust hatte Wirkung gezeigt.

Sie gelangten zu einem Weg, nun drang das Mondlicht durch die Baumwipfel. Der Pfad war gut passierbar, und sie konnten die Pferde zu leichtem Trab antreiben. Jonatas Herz beruhigte sich langsam.

»Haben wir es geschafft?«, fragte sie, als der Morgen dämmerte.

»Ich denke schon. Allerdings habe ich keine Ahnung, wo wir sind.«

Sie verließen den Wald und blickten auf endlose Felder, die in der Morgensonne golden erstrahlten. Dunst umwaberte die Gräser. Es versprach ein schöner Tag zu werden – der erste Tag im Leben von Clara. Jonata betrachtete das verknautschte Gesicht, die niedliche Stupsnase, die zarten Lippen und die winzigen Augenbrauen. Wie friedlich sie aussah. Aber sie wurde unruhig, drehte den Kopf und öffnete den Mund, suchte stumm die Brust ihrer Mutter. Das arme Kind. Sie mussten bald etwas zu trinken für das Kleine finden.

Mathes sprang vom Pferd und kontrollierte die Satteltaschen. »Es scheint nichts zu fehlen. Auch meine Bücher und Schriften sind noch da.«

»Und dein Geld?«

»Den Beutel haben sie mir abgenommen«, brummte er.

»Dafür habe ich meinen noch. Mit den paar Münzen werden wir beide sicherlich nach Köln kommen.«

Mathes saß wieder auf. »Hauptsache, wir sind diesen Schnapphähnen entkommen.«

Sie ritten weiter. Hinter einem Hügel entdeckten sie eine Weide mit zwei Kühen und einer Ziege. Kurze Zeit später kam hinter einer Baumgruppe das Bauernhaus in Sicht. Mathes sah sie fragend an.

»Einen Versuch ist es wert.« Jonata ritt voran.

Als sie auf dem Hof vom Pferd stieg, ruderte Clara mit den Armen und verzog das Gesicht. Gleich würde sie zu schreien beginnen. Schnellen Schrittes lief Jonata zur Tür und klopfte. Eine gedrungene Frau mit eng beieinanderliegenden Augen öffnete ihr. Sie trug keine Haube, sondern hatte die grau melierten Haare am Hinterkopf zusammengebunden. »Was wollt ihr?«, fragte sie schroff.

»Wir brauchen Hilfe. Wir …« Clara gab den ersten Laut von sich, holte Luft und schrie aus vollem Halse.

»Wir sind kein Gasthaus.«

»Nein, du verstehst nicht! Wir wurden von einer Gruppe Wegelagerer überfallen, die dort in dem Wald lebt.« Jonata zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und wippte, um das Neugeborene zu beruhigen.

Die Bauersfrau verschränkte die Arme. »Ich verstehe sehr gut. Wie oft stehen Ausgeraubte vor meiner Tür und betteln um ein Mahl und ein Nachtlager.«

»An Münzen fehlt es uns nicht.« Auch wenn Jonatas Magen knurrte und sie sich nach einer Schale Brei verzehrte, fuhr sie fort: »Es geht uns nur um das Kind. Die Mutter ist bei der Geburt gestorben. Jemand muss ihm Milch geben.«

»Sehe ich aus wie eine Amme?«

Jonata schloss die Augen und schluckte die scharfe Bemerkung herunter. »Gibt es niemanden in deinem Haus, der einen Säugling nährt?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Und jetzt verschwindet!«

»Bitte sag uns wenigstens, wohin wir reiten müssen, um zur nächsten Stadt zu gelangen«, kam ihr Mathes zu Hilfe.

»Nach Westen.« Die Frau zeigte in die Richtung. Das würde sie zumindest Köln näher bringen.

»Wie lange wird es dauern?«, fragte Mathes.

»Eine Tagesreise.« Dann knallte sie die Tür zu.

Clara schrie immer noch. Jonata sah die Kleine an. Die Zornesfalten auf der Stirn, die immer röter werdende Gesichtsfarbe. »So lange kann sie nicht warten.« Ihr Herz blutete bei diesem Anblick.

»Was willst du tun?«, fragte Mathes.

Jonata sah sich um. Auf dem Hof gab es einen Stall, eine Scheune und eine Hütte, die sich an einen Ahorn zu lehnen schien. Sie griff nach dem Halfter und führte ihre Stute dorthin.

»Jonata?«, fragte Mathes. »Wir sollten uns doch beeilen.«

»Lass uns eine Rast machen.« Sie dachte einen kurzen Moment an ihren Vater. So würden sie es nie rechtzeitig zur Beerdigung schaffen, aber sie konnte das Neugeborene nicht verhungern lassen.

»Ich verstehe nicht«, rief Mathes ihr hinterher.

Die Tür der Hütte war nicht verschlossen. Darin befanden sich einige Fässer und ein paar Strohballen. »Pass auf die Pferde auf. Ich werde etwas versuchen«, sagte Jonata und stieg ab.

Mathes schaute sie irritiert an, brachte jedoch keinen weiteren Einwand vor.

Jonata schloss die Tür hinter sich und setzte sich mit Clara auf das Stroh, lehnte sich an einen Ballen. »Schhh …« Sie strich der Kleinen über den Kopf. »Jetzt werden wir sehen, ob ich noch Milch habe.« Seit fünf Monaten stillte sie Ells nicht mehr, doch gab es nicht Frauen, bei denen die Milch Jahre später noch einmal in Gang kam? Das zumindest hatte sie beim Gespräch ihrer Wehmutter mit einer Wittenberger Bürgerin mitbekommen. Sie legte Clara an ihre Brust.

***

Die ersten Trauergäste betraten die Abteikirche. Enderlin erkannte die Mägde aus dem Hause seines Vaters sowie seinen Halbbruder Kuntz. Jonata war nicht bei ihnen, das wäre auch zu schön gewesen. Einige Brauer saßen in den Reihen, doch die meisten Kirchenbänke blieben leer. Nicht mal Ekarius, der Bruder seines Vaters, war gekommen. Wie ernüchternd!

Zur Bestattung seines Bruders Lucas vor vier Jahren war die Abteikirche voll gewesen. Warum verweigerten die Kölner seinem Vater die letzte Ehre? Er war ermordet worden. Welche Umstände hatten dazu geführt? Das hatte ihm der Prior nicht erzählt. Auch wenn Jakob Hochstraten ihm die Andachtsmesse anvertraut hatte, hatte er ihm nicht gestattet, das Kloster zu verlassen, um mit den Mägden zu reden. Nach der Beerdigung würde er die Gelegenheit nutzen und Elisabeth ansprechen.

Die Familie Magnus war eine der wenigen Brauerfamilien, die den Anstand hatten, der Beisetzung beizuwohnen – obwohl Sebalt Magnus allen Grund hätte, dieser Trauerfeier fernzubleiben. Jonata hatte die Dreistigkeit besessen, ihn als Ehemann abzuweisen – dieses undankbare Frauenzimmer. Und Vater hatte es ihr durchgehen lassen.

Viel schlimmer war jedoch, dass seine Schwester sich mit diesem Ketzer Simon von Werden eingelassen hatte. Damit hatte sie ihr eigenes Seelenheil verwirkt und Enderlins Leben ruiniert. Die Möglichkeit, einmal Prior zu werden, war nun so weit entfernt wie die Geburtsstätte des Heilands. Enderlin ballte die Hände zu Fäusten. Wenigstens einen Trost gab es: Jonata würde für ihre schweren Sünden lange im Fegefeuer büßen.

Seine Ordensbrüder schlossen die Pforte der Kirche. Enderlin trat vor den Altar und begann die Totenmesse. Bruder Ottin spielte das erste Lied auf der Orgel. Enderlin betrachtete den Sarg. In den vergangenen Tagen hatte er seinen Vater in die Gebete eingeschlossen. Und im nächsten Monat würden die Stundengebete seinem Vater gewidmet sein. Wahrhaft ein Segen, wenn das ganze Kloster für das Seelenheil eines Menschen betete. So würde sein Vater zu seiner Läuterung sicherlich nur kurz im Fegefeuer ausharren müssen.

Während des Kyrie-Gebets fixierte er Sebalt. Hatte er seinen Brief erhalten? Wie dachte er über seinen Vorschlag? Enderlin versuchte, in der Miene des Brauerssohns zu lesen, doch dieser hielt den Kopf gesenkt und wich seinem Blick aus. Hatte Gott seinen Vater aus dem Diesseits gerissen, damit sie sich auf der Beerdigung treffen konnten? Jedes Unglück der Menschen gehörte zu Gottes Plan und der Tod zum Leben wie das Gebet zur Gottesfurcht.

Enderlin konzentrierte sich wieder auf die Trauerfeierlichkeiten. Er hatte für die Schriftlesung eine Stelle aus den Klageliedern gewählt.

»Pars mea Dominus, dixit anima mea; propterea exspectabo eum. Bonus est Dominus sperantibus in eum, animae quaerenti illum.« – Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Gut ist der HERR zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht.

Als sie für seinen Vater die Psalmen sangen, ließ Enderlin seine Stimme aus seinem tiefsten Innern erschallen. Dann konnte er es kaum erwarten, bis der Sarg zum Friedhof getragen wurde und er die Abschlussworte sprechen konnte. Er musste ein vertrauliches Wörtchen mit Sebalt Magnus wechseln.

Die Trauergesellschaft trollte sich. Enderlin beeilte sich, zu Sebalt zu kommen. In dessen welliges Haar hatten sich graue Strähnen gemischt, und die Narbe, die sich über Stirn und Wange zog, hatte eine rötliche Färbung angenommen.

»Mein Freund«, grüßte Enderlin.

»Freund?« Sebalt lachte auf. »Wie soll man mit einem Mönch befreundet sein?«

Enderlin schluckte. Es war wohl besser, auf diese Bemerkung nicht einzugehen. »Habt Ihr meinen Brief erhalten?«

Sebalt schnalzte mit der Zunge. »Wahrlich eine Überraschung!«

Enderlin sah sich um. Keiner seiner Ordensbrüder war in der Nähe, dennoch senkte er die Stimme. »Was haltet Ihr von meinem Vorschlag?«

»Ihr habt Euch an den Falschen gewandt.«

»Weshalb?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, wo sich Eure Schwester aufhält.«

Er schien schwer von Begriff zu sein. Enderlin seufzte. »Deswegen habe ich geschrieben, dass Ihr nach ihr suchen sollt.«

Sebalt kratzte sich an der Knollennase. »Wo soll ich da beginnen? Sie kann überall im Lande sein.«

»Bitte gebt Euch ein bisschen Mühe. Vielleicht wissen sie Bescheid.« Enderlin wies mit dem Kopf zu Elisabeth, Margret, Kuntz und dieser jungen Magd, dessen Namen er nicht kannte.

»Und was habe ich davon? Was gebt Ihr mir für diesen Dienst?« Sebalt verschränkte die Arme vor der Brust.

Enderlin räusperte sich. Was wollte der Brauer nur von ihm? Er war doch von Jonata betrogen worden. Er würde sich von ihr das holen können, was ihm als versprochenem Ehemann zustand. Ein Mal, und dann würde Enderlin seine Schwester dem Inquisitionsgericht übergeben. »Ich dachte, Ihr habt selbst ein Interesse daran.«

»Eure Schwester ist mir nichts mehr schuldig.«

»Ist sie nicht?«

Sebalt lachte hämisch auf. »Ich habe bekommen, was ich wollte.«

»Ihr habt was …?« Enderlin stockte.

Sebalt grinste breit und stieß ihn mit der Schulter an. »Nichts, was für die Ohren eines Mönches bestimmt ist.«

»Aber …« Hatte Jonata etwa mit zwei Männern Unzucht getrieben? Was für ein gotteslästerliches Weib! Es wurde immer schlimmer. Umso wichtiger war es, dass er sie fand und für ihre Sünden bestrafte. Jemand musste sie vor das Kirchengericht bringen. Wenn Jonata dann jedoch widerrief, ihn zu Simon führte und bereit war, in ein Kloster einzutreten, würde er beim Prior ein gutes Wort für sie einlegen. Hauptsache, einer von beiden brannte auf dem Scheiterhaufen und Enderlin gewann die Gunst des Priors wieder für sich.

»Außerdem habe ich mich verlobt. Und dieses Versprechen werde ich für Eure Schwester nicht lösen.«

Enderlin presste die Zähne zusammen. Wieso hatte der HERR sie zusammengebracht, wenn Sebalt nicht das gleiche Ziel verfolgte? Vielleicht brauchte der Brauer Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, oder weitere Überredung. »Jonata wäre für Euch die perfekte Verbindung – jetzt, wo die Brauerei frei geworden ist.« Dass es nicht zu einer Ehe der beiden kommen würde, musste er ihm nicht auf die Nase binden.

Sebalt lachte und schlug ihm auf die Schulter. »Spart Eure Bemühungen für jemand anderen auf. Ich kann Euch nicht helfen.« Dann verließ er mit seinen Eltern den Friedhof.

Enderlin blieb regungslos stehen. Diese Begegnung hatte er sich anders vorgestellt.

Hab Vertrauen! Gott wird dir einen anderen Weg zeigen!

Er sah zu den Mägden. Margret heulte immer noch, und auch Elisabeth wischte sich Tränen von den Wangen. Er trat zu ihnen.

»Enderlin«, sagte Elisabeth und drückte ihn an sich. Er war überrumpelt von so viel Herzlichkeit, ließ die Umarmung jedoch zu. Elisabeth roch nach Lavendelwasser. Manche Dinge veränderten sich nicht. »Es ist so schrecklich.«

»Die Wege Gottes sind unergründlich«, sagte er.

»Es kann doch nicht Gottes Wille gewesen sein, dass mein geliebter Bechtolt von mir genommen wird«, sagte Margret schluchzend.

»Geliebter?«, schoss es aus ihm heraus.

»Du wusstest es nicht, oder?«, fragte Elisabeth und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er machte einen Schritt zurück, sodass sie ihn nicht mehr erreichen konnte. »Dein Vater ist mit Margret den Bund der Ehe eingegangen.«

»Er hat …« Die Worte blieben ihm im Halse stecken wie das trockene Stück Brot bei einem Gottesurteil. Unter den prüfenden Blicken der Richter saugt es das letzte Tröpfchen Speichel auf und überführt den Angeklagten, wenn es sich in seiner Kehle verkantet. Eine alles entscheidende Probe, in der nur Gott dem Beschuldigten zu Hilfe eilen konnte und bei der jeder Übeltäter zum Scheitern verurteilt war.

Hatte sein Vater nicht erkannt, dass auch er zum Scheitern verurteilt war? Warum hatte er aus seinen Fehlern nicht gelernt? Schließlich war der begriffsstutzige Kuntz aus einer unbedachten Nacht mit der Magd entstanden. Das hätte seinem Vater zeigen müssen, dass dieses Weib nicht für die Ehe mit ihm bestimmt war. Vielleicht hatte er deswegen seine Strafe von Gott erhalten.

»Hat tatsächlich jemand Hand an ihn gelegt?«, fragte er.

Die junge Magd nickte. »Ihm wurde die Kehle durchgeschnitten.« Ihr Blick war seltsam leer. Auch sie schien Bechtolt zu nahegestanden zu haben. Sie hatte ein Teufelsmal auf der Nase. Besser war es, wenn er sie nicht berührte.

»Hast du etwas von Jonata gehört?«, fragte er. »Jetzt, da unser Vater von uns gegangen ist, hatte ich gehofft, mit ihr sprechen zu können.«

Die junge Magd hob ruckartig den Kopf. Schrecken stand in ihren Augen.

»Weißt du, wo sich meine Schwester aufhält?«, wandte er sich direkt an sie.

Sie starrte ihn an, rührte sich nicht. Erst nach ein paar Augenaufschlägen schüttelte sie den Kopf.

»Wir haben seit Jonatas Verschwinden vor vier Jahren nichts mehr von ihr gehört«, antwortete Elisabeth. Ihre Worte klangen ehrlich. Aber diese Magd mit den schwarzen Haaren und dem Teufelsmal auf der Nase war ein Rätsel.

»Sprich die Wahrheit!«, verlangte Enderlin.

Sie wich zurück. »Ich sage die Wahrheit.«

»Würdest du das vor Gott bezeugen?«

Elisabeth trat zwischen ihn und die Magd. »Lass Figen in Ruhe. Sie hat deinen Vater gefunden und ist immer noch verstört. Der Anblick war nicht leicht zu ertragen.«

Figen war also ihr Name. »Aber wenn sie etwas weiß –«

»Ich habe doch gerade gesagt, dass wir seit Jahren nichts von Jonata gehört haben«, sagte Elisabeth scharf.

Enderlin atmete tief durch. Er musste mit Figen allein sprechen. Irgendwie musste er den Prior dazu bringen, dass er das Kloster verlassen durfte. Und dann würde er die Wahrheit über Jonata erfahren.

KAPITEL 5

Sie nahmen das Frühmahl schweigend ein. Kuntz sprang auf und rannte dem Kater hinterher nach draußen. Margret hob noch nicht einmal den Kopf, Elisabeth brummte nur. Figen hatte auch keine Lust, den Jungen zu maßregeln. Sie musste immer wieder an die gestrige Beisetzung denken. Besonders Margret hatte die Beerdigung ihres Gatten zugesetzt. Nach dem kläglichen Totenmahl im Gebäude der Brauerbruderschaft, bei dem nur ein Bruchteil der Brauer der Stadt zugegen gewesen war, hatte Margret kein Wort gesprochen und sich in der Kammer eingeschlossen.

Figen rührte im Hirsebrei. Elisabeth hatte zwei Äpfel hineingeschnitten, trotzdem schmeckte er heute fad. Margret würgte, hielt sich die Hand vor den Mund und stürzte nach draußen. Die Schwangerschaft machte sich bemerkbar.

Elisabeth holte tief Luft. »Gott steh uns bei!« Sie begann abzuräumen, wartete nicht, bis Figen ihren Brei gegessen hatte. Figen schob die eigene Schüssel von sich weg. Auch wenn Bechtolt in der letzten Zeit nicht sonderlich gesprächig gewesen war und sich meist in der Brauerei verschanzt hatte, wirkte das Haus nun noch trostloser.

Figen erhob sich. Heute würde sie die Schenke herrichten. In den letzten Tagen hatte sie keine Zeit dafür gefunden. Sie hatten Weihwasser, Leinentücher und Sterbekerzen besorgt und abwechselnd Totenwache gehalten. Da die Fenster der Brauerei die ganze Zeit über offen standen, damit Bechtolts Seele hinausfliegen konnte, war Figen nach ihrer Wache jedes Mal durchgefroren gewesen und hatte keine Muße mehr gehabt, sich um die Schenke zu kümmern.

Als sie nach draußen trat, schien ihr die Sonne ins Gesicht. Dennoch war es kühl. Sie verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust.

Kuntz lief dem Kater hinterher in den Stall. »Pauli, Pauli«, rief er. Figen schmunzelte. Das Tier schien mal wieder nicht so zu wollen wie der Junge.

Die Tür zur Brauerei war angelehnt. Sie warf einen Blick hinein. In der Mitte stand der Tisch, auf dem sie Bechtolt die letzten Tage aufgebahrt hatten. Die Kerzen drum herum waren allesamt abgebrannt. Die Bodenklappe, unter der vor Kurzem noch die Münzreserven dieses Hauses lagerten, war geöffnet. An der rechten Wand verstaubten die großen Bierbottiche, die seit Monaten nicht mehr gefüllt worden waren. Eine trostlose Brauwerkstatt, aus der ihr eine Flut trauriger Erinnerungen entgegenströmte.

Sie zog die Tür zu und ging zur Schenke. Der Knauf der Hintertür war locker. Darum würde sie sich kümmern müssen. Figen trat in den düsteren Raum. Es roch muffig, nach Staub und altem Bier. Sie zog das Stroh aus den Fensteröffnungen, um Licht und frische Luft hereinzulassen. Die Tische und Bänke standen kreuz und quer, ein paar Schemel waren umgefallen, ein einzelner Krug sah aus, als wäre er nur kurz abgestellt worden und wartete auf die Rückkehr des Trinkers. Abgebrannte Stümpfe ragten aus den Kerzenhaltern an der Wand. Die Kerze auf der Theke hingegen hatte höchstens eine Stunde gebrannt.

Figen strich mit dem Finger über eine Tischplatte. Staub sammelte sich auf ihrer Haut. An einer Ecke fehlte die Staubschicht. Seltsam. Hier musste kürzlich jemand gewesen sein. Margret vielleicht. Möglicherweise hatte sie in Erinnerungen geschwelgt.

Figen räumte auf, richtete Tische und Stühle, holte einen Wascheimer und Lappen und reinigte das Inventar vom Dreck vergangener Zeiten. Sie sah bereits ihre Zöglinge vor sich sitzen. In der Nähe der Hintertür würde sie ihren Platz einrichten, von wo aus sie die Mädchen gut im Blick haben würde. Die Theke war in einer Nische eingelassen, diese würde sie für den Unterricht mit einem Laken abhängen. Sie räumte die Krüge in einen Korb und brachte sie in den Braukeller.

Zurück in der Schenke putzte Figen über ein Bierfass, das als Abstellfläche gedient haben mochte. Dahinter sah sie etwas Weißes aufblitzen. Sie duckte sich und hob den Stoff mit spitzen Fingern auf. Ein Unterrock. Sie schüttelte sich, wollte sich nicht ausmalen, wem der gehört haben mochte. Er musste aus Zeiten stammen, als das Bier reichlich geflossen war und die Gäste auf Sittlichkeit keinen Wert gelegt hatten.

Sie ließ sich auf einem Schemel nieder, holte die Bonner Münze hervor und strich über die Prägung. Der Mörder hatte das Geldstück ebenfalls in Händen gehalten. Der Mann, der das Messer geführt und Bechtolt die Kehle aufgeschlitzt hatte. Sie erschauderte und ließ das Geldstück zurück in den Beutel gleiten. Wer mochte es gewesen sein? Kannte sie ihn? Ihre Hände zitterten. Der Frevler durfte nicht ungestraft davonkommen!

***

Es polterte an der Tür.

»Gehst du?«, fragte Elisabeth. Sie hob demonstrativ die Hände, mit denen sie den Brotteig bearbeitete. Doch bevor Figen an der Tür war, kam ihr Margret zuvor. Sie war nicht sonderlich gesprächig, aber zumindest verschanzte sie sich nicht mehr in der Kammer wie die letzten drei Tage.

Vor dem Haus stand der alte Fassbinder von Blankenberg. Die Gugel war an den Enden über der Schulter ausgefranst und bedeckte seinen kahlen Kopf. Unter den Augen lagen Schatten. »Margret, genau zu Euch wollte ich.« Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Ihr schuldet mir noch Geld.«

»Was?« Sie stemmte den Arm in die Hüfte. »Nicht dass ich wüsste!«

»Dein Mann –«

»… ist selig!«, keifte sie.

»Richtig. Und deswegen will ich jetzt sofort mein Geld. Einen Gulden und fünf Schillinge.«

Figen blieb die Luft weg. So viel?

»Pah, verschwindet!« Margret wollte die Tür zuschlagen, aber er schob den Fuß auf die Schwelle.

»Ich lasse mich nicht von Euch abspeisen!«

»Ich weiß nichts von Schulden!«

»Hätte ich auf dem Kerbholz bestanden, hätte ich den Beweis in der Hand. Aber der Faulpelz meinte, es reiche, es mit der Feder zu vermerken. Also seht in seinen Büchern nach.«

»Er hat seit Wochen keine Fässer mehr gekauft.«

»Er schuldet es mir schon lange! Jetzt brauche ich mein Geld.« Er ballte die Hand, seine Augen funkelten. Figen hatte das Gefühl, er würde Margret gleich die Faust ins Gesicht schlagen.

»Das hättet Ihr mit meinem Mann klären müssen!«

Er lachte bitter auf. »Ihr seid wohl zum Scherzen aufgelegt.«

»Seht Ihr mich etwa lachen?«

»Ich war gutmütig, und nun soll es mich teuer zu stehen kommen? Ich verlange, dass Ihr –«

»Von mir bekommt Ihr keinen Pfennig.«

Zwischen seinen Brauen stand eine tiefe Falte. »Seid gewiss: Ich komme wieder. Wenn Ihr nicht zahlt, gehe ich zu Mergentheim. Er wird Euch schon zur Vernunft bringen.«

Margret drängte ihn von der Türschwelle.

»Und wenn Mergentheim nichts unternimmt, komm ich mit meinen Söhnen wieder und hole mir, was mir zusteht.«

Margret schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Ihre Augen glühten vor Zorn. »Dieser Galgenschwengel!«

»Wir sollten nachsehen, ob es stimmt«, sagte Figen leise.

Margret rauschte brummend an ihr vorbei.

Wenn Bechtolt ihm wirklich noch so viel schuldete, steckten sie in Schwierigkeiten. Ohne einen Mann im Haus wären sie den Plünderern schutzlos ausgeliefert. Figen folgte Margret in die Vorratskammer, wo sie Kisten von links nach rechts räumte.

»Willst du nicht wissen, ob er die Wahrheit spricht?«

»Hast du seinen Atem gerochen?« Sie machte eine Geste, die andeutete, dass er zu viel getrunken hatte. »Der will sich nur wichtigtun.«

Figen hatte nicht den Eindruck gehabt. Wenn Margret keine Lust hatte, den Dingen auf den Grund zu gehen, würde sie es selbst tun. Sie ging in die Brauwerkstatt und öffnete die Kiste in der Ecke. Ein zerknülltes Leinenhemd lag obenauf. Sie fand unzählige Notizen und Briefe. Sie würde Tage brauchen, um alles zu sichten.

Sie klaubte drei Bücher hervor und schlug das erste auf. Es handelte sich um ein Verkaufsbuch, in dem Bechtolt eingetragen hatte, wie viel Bier er wem verkauft und wie viele Münzen er erhalten hatte. Das zweite war ein Ausgabenheft. Mit klopfendem Herzen legte sie es auf den Tisch und durchforstete die Eintragungen. Je weiter sie nach hinten blätterte, desto unleserlicher wurde Bechtolts Handschrift. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich zurechtfand. Bisher hatte sie nur Luthers Schriften oder Briefe von Jonata gelesen, aber noch nie Geschäftsbücher.

Bechtolt hatte öfter Fässer von dem Fassbinder gekauft, doch ob er sie bereits bezahlt hatte, war nicht notiert. So konnte von Blankenberg nicht belegen, dass sie ihm noch Geld schuldeten. Figen legte das Buch zurück und griff nach dem letzten. In diesem waren die Einträge durchgestrichen. Es schien sich um ein Erinnerungsbuch zu handeln. Einige Posten am Ende waren offen. Darunter drei an den Fassbinder von Blankenberg. Die Summe stimmte. Außerdem Zahlungen an den Hufschmied und den Barbier.

Figen ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich an die Kiste. Nicht auszudenken, wenn der Hufschmied und der Barbier auch bald vor ihrer Pforte auftauchten und auf ihrem Geld beharrten. Wie sollten sie die Schulden begleichen? Figen musste zusehen, dass sie die Schule eröffnete. Und sie musste mit Seitz sprechen. Sie nahm das Buch und lief ins Haus.

Margret saß in der Stube und stickte. Figen legte ihr das Buch vor. »Hier!« Sie zeigte auf die Zeilen. »Der Fassbinder hat recht.«

»Was fällt dir ein, in Bechtolts Sachen zu wühlen?« Margret ließ das Stickzeug auf den Schoß sinken und sah sie finster an.

»Einer muss es tun. Wir schulden von Blankenberg wirklich noch über einen Gulden.«

»Nicht wir, sondern Bechtolt. Was kümmert’s uns?« Sie senkte den Blick und stach die Nadel durch den Stoff.

»Hast du ihm nicht zugehört?« Figen konnte nicht fassen, dass Margret so sorglos war.

Margret blickte auf, ihre Augen funkelten böse. »Wie redest du mit mir? Erinnere dich daran, welche Stellung du in diesem Haus hast.«

Figens Kiefer mahlten. Vor zwei Jahren hatten sie noch Schulter an Schulter in der Küche geschuftet. Wenn Margret sich auf ihre höhere Stellung berief, sollte Figen auf ihrem ausstehenden Lohn beharren. Sie atmete tief ein. Nein, das hatte keinen Sinn. Sie war froh, wenn sie im Winter genug Holz für den Kamin hatten. Und wenn sie Schulgeld erhielt, war sie nicht mehr auf Margrets Gunst angewiesen, aber dafür brauchte sie die leer stehende Schenke. Sie sollte Margret nicht gegen sich aufbringen, nicht auszudenken, wenn sie ihr den Unterricht verbot.

»Entschuldige«, presste sie hervor. Sie nahm den Mantel vom Haken und verließ das Haus, um mit Seitz zu sprechen. Je eher sie mit dem Unterricht begann, desto eher wurde ihr Beutel mit Münzen gefüllt.

Gretlin Denntzer, die Frau des Eisenschmiedes von gegenüber, kam ihr entgegen. Sie warf Figen einen abschätzigen Blick zu. »Mörderin!«, fauchte sie im Vorbeigehen.

Figen blieb stehen und sah der Nachbarin fassungslos nach. Sie wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihr in der kratzigen Kehle stecken. Frau Denntzer spazierte erhobenen Hauptes davon und warf ihr einen weiteren verächtlichen Blick über die Schulter zu, bevor sie im Hofeingang verschwand.

Glaubten die Bürger Kölns, sie hätte Bechtolt umgebracht? Wie schnell wurde das verleumderische Gassengeschwätz zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung! Dann war es nicht mehr weit, bis der Erste sie bei der Obrigkeit denunzierte.

Figen zog den Mantel enger um sich und lief geschwind weiter. Nie könnte sie einen Menschen töten, niemals wollte sie anderen Angehörigen das Leid zufügen, das sie selbst hatte durchleben müssen. Jahrelang hatte das Bild ihrer erblassten Mutter sie bis in ihre Träume verfolgt, und nun war es Bechtolts seelenloses Gesicht, das sie in der Nacht heimsuchte. Sie erschauderte, wollte an etwas anderes denken, hoffte, Seitz würde sie aufheitern.

Am Haus der Rosenbergs öffnete ihr die Mutter. »Ihr sucht meinen Sohn Seitz, nehme ich an.« Sie zwinkerte ihr zu.

»Ja«, sagte Figen und blickte zu Boden. Die Frau konnte ihr wirklich direkt ins Herz sehen.

»Komm. Er ist in der Werkstatt.«

Figen folgte ihr durch einen dunklen Gang in den hinteren Teil des Hauses. Schon im Flur roch es nach Holz und Talgkerzen. Als sie den Arbeitsraum betraten, war sie beeindruckt von den Dutzenden Laternen, die in einer Reihe an den vier Wänden hingen. Sie sahen alle unterschiedlich aus, einige waren aus Metall, andere aus Holz, einige leuchteten hell, andere spendeten nur wenig Licht. In jeder zweiten brannte eine Kerze. Noch nie hatte Figen einen Raum so hell erleuchtet gesehen. Die Rosenbergs mussten sehr reich sein, wenn sie es sich erlauben konnten, so viele Kerzen gleichzeitig brennen zu lassen.

Seitz sah auf und lächelte breit. »Figen, was für eine Überraschung! Wollt Ihr mir bei der Arbeit zusehen?« Er nahm ihre Hand und zog sie zu seinem Platz. Er trug eine eng anliegende Strumpfhose und darüber ein Leinenhemd, dessen Verschnürung offen war und einen Blick auf seinen muskulösen Oberkörper freigab. Figen zwang sich, nicht hinzustarren, und fühlte die Hitze in sich aufsteigen.

»Euch muss man wohl alleine lassen«, sagte seine Mutter und verließ schmunzelnd die Werkstatt.

Am anderen Ende des Raums schnitt ein jüngerer Bruder eine Hornplatte zurecht. Er hob kurz den Kopf und stellte sich als Georg vor.

»Seht her«, sagte Seitz. »Das wird der Boden der Laterne.« Er hielt ihr einen hölzernen Kreis hin. »Und das die Oberseite.« Ein zweiter Kreis mit einem Loch darin lag auf der Werkbank. Figen schob mit dem Schuh ein paar Sägespäne zur Seite und trat näher heran.

Seitz zeigte ihr, wie er die beiden kreisförmigen Holzstücke für eine runde Laterne mit Stäben zusammenstecken wollte. »Hier werde ich die Hornplatten befestigen«, erklärte er.

Welch ein glückliches Geschick, dass sich aus Holzkanten und Hornplatten ein Gebilde formen ließ, das den Wind ausschloss und das Licht hinauswarf. Damit ließ sich bei Dunkelheit der Weg in den Garten leuchten, falls sie ein paar Kräuter für eine Suppe vergessen hatte, ohne dass ein Luftzug die Flamme auspusten würde. Doch woher sollte sie das Geld für eine Laterne nehmen?

»Wenn die Bruderschaft auf der nächsten Versammlung zustimmt, werde ich bald wieder als Geselle zugelassen.« Seitz strahlte übers ganze Gesicht. Dann wäre er wieder vollends in das bürgerliche Leben Kölns aufgenommen.

Nach der Verbrennung von Luthers Schriften vor zwei Jahren auf dem Domhof war der Kampf gegen Luther ein geistiger in Form des gedruckten Wortes geworden. Der Inquisitor Hochstraten hatte dieses Jahr ein Buch herausgebracht, in dem er die lutherischen Irrtümer aufzuzeigen glaubte. Außerdem verhöhnten zahlreiche Flugschriften Luther und riefen die Bevölkerung zur kirchentreuen Haltung auf. Aber es tauchten auch immer wieder Flugblätter auf, die nach lutherischer Gesinnung die Kirche und den Papst als teuflisch darstellten. Nach Seitz’ Verbannung war niemand mehr an den Pranger gestellt worden. Ein gutes Zeichen für ihre Entscheidung, Luthertexte als Lehrmaterial zu nutzen.

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