Buch lesen: «Das Geheimnis der Reformatorin», Seite 4

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Sie ritten an Feldern vorbei und durch einen Wald. Als sie eine Reisegruppe überholten, pfiff ihnen ein breitschultriger Mann auf einem Pferd hinterher. »Ihr da, wollt ihr uns nicht begleiten?« Er grinste breit und entblößte dabei mehrere verfaulte Zähne. Jonata lief es eiskalt den Rücken hinunter, und sie musste an diesen widerlichen Halunken denken, der sie vor Jahren auf der Reise von Köln nach Sachsen hatte schänden wollen.

»Kein Bedarf«, rief sie und trieb ihre Stute mit Druck auf die Flanke zur Eile an. Natürlich wären sie in der Gesellschaft einer Reisegruppe sicherer vor Wegelagerern, aber sie hatte erfahren müssen, dass auch in diesen Gruppen Gefahr lauerte. Sie war froh, nur mit Mathes unterwegs zu sein. Er würde ihr niemals etwas zuleide tun, im Gegenteil, er würde sie beschützen.

***

»Möhren, Sellerie, Lauch, Zwiebeln, einen Weißkohl und fünf Pastinaken«, bat Figen.

Die Bäuerin verzog grimmig das Gesicht. Dieses unhöfliche Weib! Wenigstens ein Lächeln hätte sie sich abringen können, schließlich hatte sie letzte Woche erst einen Schilling bekommen. Figen entschied sich noch für ein paar Zwetschgen und eine Dolde Weintrauben.

»Hab Dank«, sagte sie und nahm den Korb entgegen. Sie schob sich eine Traube in den Mund, schloss die Augen und zerbiss sie. Die Süße ergoss sich wie ein Wasserfall über ihre Zunge. Köstlich! »Ich werde Euch das Geld bald zurückzahlen«, sagte sie zu Seitz.

»Betrachtet es als Geschenk«, sagte er.

»Aber ich kann doch nicht –«

Er schüttelte den Kopf. »Ihr habt zurzeit weiß Gott andere Sorgen.« Sie kamen an dem Stand mit den Süßspeisen vorbei. Seitz deutete mit einer Kopfbewegung dorthin. »Wenn die Zeit gekommen ist, könnt Ihr Euch gerne erkenntlich zeigen. Ich habe eine Schwäche für Mandelküchlein.«

Sie spürte ein freudiges Kribbeln in ihrem Bauch. Bald würde sie ihm den Schilling zurückzahlen und ihm eine Leckerei spendieren können.

»Mein Vater wartet auf die Hornplatten. Begleitet Ihr mich? Danach bringe ich Euch nach Hause und helfe Euch beim Tragen.«

Sie nickte. »Sehr gern.«

»Der Hornhändler schickt seinen Sohn übrigens auch zu einer privaten Winkelschule«, sagte Seitz, als sie in den Steinweg einbogen. »Er ist sehr zufrieden. Sein Abkömmling kann bereits besser lesen als er.« Er lachte.

»Hat er vielleicht auch eine Tochter?«, fragte Figen und lachte ebenfalls.

»Das weiß ich nicht, aber es wird genug Bürger Kölns geben, die ihre Töchter in Eure Schule schicken. Private Schulen sind beliebt. Da die Klassen klein sind, lernen die Kinder schnell, und die Familien zahlen gut. Ein großer Vorteil.«

Das hörte sich vielversprechend an. »Dann müssen die Bürger Kölns nur noch von meiner Mädchenschule erfahren.«

Seitz grinste breit. »Ich werde auf den Versammlungen Eure Schule anpreisen. Meine Schwestern werden die Ersten sein, die auf Euren Schulbänken sitzen.«

»Ich muss erst mal die Schenke säubern und herrichten«, gab Figen zu bedenken. Sie war froh, dass Seitz sie zu unterstützen gedachte.

»Und Ihr müsst Euch einen Lehrplan überlegen, Bücher kaufen, Wachstafeln, Papier …«

Figen ließ die Schultern hängen. Natürlich! Wie hatte sie so dumm sein können? Sie hatte kein Geld, um all dies zu kaufen. Wie wollte sie ohne Utensilien eine Schule eröffnen?

»Was ist?«, fragte Seitz.

»Bücher und Wachstafeln kann ich mir nicht leisten.«

»Aber Ihr habt doch Schriften, oder nicht?«

Figen nickte. »Luthers Thesen, seine Texte ›Ein Sermon von Ablass und Gnade‹ und ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹. Außerdem die Legende der heiligen Ursula.«

»Nehmt doch ›Ein Sermon von Ablass und Gnade‹. Der Text ist einfach und von lehrreichem Inhalt. Und sobald Ihr über mehr Geld verfügt, kauft Ihr Euch weitere Schriften.«

Figens Stimmung hob sich. Vielleicht konnte sie wirklich damit beginnen.

»Ich empfehle Euch eine Grammatik, die Psalter und das Paternoster. Ihr solltet erbauliche Werke mit den Mädchen studieren. Am besten natürlich die Schriften von Luther.« Er zwinkerte ihr zu. »So werden sie nicht nur Lesen und Schreiben lernen, sondern auch zum rechten Glauben erzogen.«

Luthers Texte – voller Hoffnung und Zuversicht – wären das richtige Lehrmaterial für die jungen Seelen. Figen würde die Mädchen lehren, die Texte zu studieren und den eigenen Kopf zu gebrauchen. Ablassbriefe ade! Den wahren Glauben an Gott sollten die Zöglinge lernen.

Allerdings durfte sie ihr Wirken dann nicht an die große Glocke hängen. Vor zwei Jahren hatten Papst Leo, Kaiser Karl V. und der Kölner Erzbischof Hermann von Wied veranlasst, Luthers Schriften öffentlich auf dem Domhof zu verbrennen. Diesem abscheulichen Ereignis hatte der Kaiser persönlich beigewohnt. Figen war nicht dort gewesen, doch sie konnte sich gut an die Schimpftiraden des Buchführers erinnern. Von ihm hatte die Inquisition drei Schriften konfisziert. Dem HERRN sei Dank war Mathes Roht nicht vors Inquisitionsgericht gebracht worden. Er hatte ihr berichtet, wie er in der Menschenmenge auf dem Marktplatz untergetaucht war. Danach hatte er die Stadt schleunigst verlassen. Ein Vorteil eines fahrenden Buchführers. Auf diese Möglichkeit konnte Figen nicht zurückgreifen, wenn die Inquisition vor der Pforte ihrer Schule auftauchen würde.

»Womöglich kommt mir die Inquisition auf die Schliche«, gab sie auch gleich zu bedenken.

»Die kann ihre Nase nicht überall haben«, sagte Seitz abschätzig, als redete er von einer Kakerlake. »Und Ihr steht nicht auf dem Marktplatz wie ich damals.«

»Was Ihr nur erleiden musstet!« Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Sie sah ihn vor sich, wie er gebückt am Schandpfahl stand, die Hände in Eisenfesseln, das Gesicht vor Pein verzerrt. Bei jedem Peitschenhieb des Scharfrichters hatte er qualvoll aufgestöhnt.

»Der Tag am Kax hat mich nur in meiner Überzeugung bestärkt. Ich lasse mich von ein paar Peitschenhieben nicht kleinkriegen.«

Figen wollte sich die Schmerzen nicht vorstellen, die er hatte ertragen müssen. Sicherlich zeugten noch Narben von diesem Tag. »Ich würde das nicht durchstehen.«

»Das müsst Ihr auch nicht. Dafür verbürge ich mich.«

Eine Flamme loderte in ihr auf. War es Gottes Wille, dass dieser Mann ihr zur Seite stand? Figen wollte sich von den Geistlichen nicht einschüchtern lassen. So wie von dem Dorfpfaffen, der ihr vor Jahren das Buch ihrer Mutter weggenommen und über sie gelacht hatte. Ihre Kiefer mahlten. Nein! Dergleichen würde ihr nicht noch einmal passieren, und sie würde dafür sorgen, dass ihre Zöglinge niemals in eine solche Situation kämen.

»Aber wie sollen die Menschen von meiner Schule erfahren?«

»Ich werde in der nächsten Versammlung davon berichten. Seid versichert, dass nur Anhänger von Luthers Lehre ihre Töchter zu Euch schicken werden.« Seitz lächelte breit.

Sein Lächeln war ansteckend, und Figens Herz machte einen Satz. Sie senkte den Kopf. Wieso spielte ihr Herz nur so verrückt, wenn sie mit ihm zusammen war? Sie sollte sich nicht in ihren Gefühlen verlieren. Es ging um die Schule und darum, Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mehr durfte sie nicht zu hoffen wagen. Seitz von Rosenberg würde sich niemals auf eine Magd einlassen. Er war nur darauf bedacht, die Lehre Luthers in Köln zu verbreiten und seinen Schwestern eine angemessene Bildung zu bieten. Dennoch fühlte es sich gut an, wenn er an ihrer Seite war.

»Wisst Ihr, wie ich das Problem mit den Wachstafeln lösen kann?«

Seitz strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Das solltet Ihr den Familien Eurer Zöglinge überlassen. Jedes Mädchen, das Euren Unterricht besucht, muss eine eigene Wachstafel mitbringen. Das ist nicht unüblich.«

Ein Vogel flog pfeifend über sie hinweg. Es war wie ein Aufruf zur Tat.

»Jetzt müsst Ihr Euch nur noch überlegen, wie viel Schulgeld Ihr verlangen wollt.«

»Erst mal muss ich die Schenke aufräumen und eine Schulstube daraus herrichten.« Figen lächelte. Sobald sie Geld eingenommen hatte, würde sie beim Buchführer weitere Schriften für den Unterricht erwerben. Eine kribblige Vorfreude breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie würde etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen, dem HERRN dienen und vielen Mädchen helfen.

***

Am späten Nachmittag ritten Jonata und Mathes in einen Wald hinein, doch nach einiger Zeit versperrte ihnen ein umgestürzter Baum den Weg. Die Verästelungen ragten hoch empor, ihre Pferde würden nicht hinüberspringen können. An beiden Seiten war das Unterholz so unwegsam, dass sie nicht drum herumreiten konnten.

»Zum Henker«, fluchte Mathes.

»Was nun?«, fragte sie.

»Wir reiten zurück zur letzten Weggabelung und nehmen den anderen Pfad.« Mathes zog am Zügel und lenkte seine Stute zurück.

Jonata folgte ihm. Als sie bei der Gabelung ankamen, war sie überrascht. Sie hatte die Abzweigung zuvor nicht wahrgenommen. Doch der Weg war eng und holprig, ein besserer Trampelpfad. »Hoffentlich ist das kein Holzweg«, gab sie zu bedenken. Und würde nicht mitten im Wald bei einem Holzsammelplatz enden.

»Nein. Ich bin hier schon mal hergeritten. Ich glaube, es gibt gleich eine Querverbindung, die uns wieder zurück auf den richtigen Weg führt.« Er klang nicht besonders zuversichtlich. Jonata unterdrückte das ungute Gefühl und befahl sich, ihm zu vertrauen. Schließlich war er ein Reisender und auf dem Rücken seines Pferdes zu Hause.

Sie ritten einen Hügel hinauf und wieder hinunter. Das Unterholz zu beiden Seiten wurde eng und undurchdringlich. So würden sie nicht auf ihren ursprünglichen Weg zurückkommen. Die Dämmerung legte sich über den Wald, durch die Baumwipfel drang immer weniger Licht.

»Wir sollten uns beeilen.« Jonata blickte nervös über ihre Schulter. Sie hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, aber in den Schemen der Bäume konnte sie nichts ausmachen.

»Hier irgendwo muss es doch eine Abzweigung geben«, brummte Mathes.

Ein Käuzchen schrie durch die anbrechende Nacht, und es raschelte im Unterholz. Jonata sah sich immer wieder um. Vielleicht hätten sie umkehren sollen, als der Baum ihnen den Weg versperrt hatte.

Plötzlich ertönte ein Geschrei, das ihr durch Mark und Bein fuhr. Schattengestalten stürmten Lanzen und Stöcke schwingend von einem Abhang auf sie zu. Mathes blickte sich zu Jonata um. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das war das Schlimmste: Ihr Beschützer hatte Angst!

Die Gestalten hatten ihn erreicht, und Jonata gefror das Blut in den Adern. Zwei von ihnen schlugen gegen die Beine von Mathes’ Stute, die daraufhin in die Knie ging. Mathes fiel vom Pferd. Jonatas Stute wieherte und bäumte sich auf, warf sie fast ab. Einer der Angreifer trat zu ihr und griff nach den Zügeln. Er war ein großer Mann mit langen Haaren, an seiner rechten Hand fehlten zwei Finger, seine Augen blitzten lüstern, sein Gesicht war dreckig und ungepflegt.

»Absteigen, meine Hübsche«, sagte er.

Jonata zitterte am ganzen Körper. Der Mann hatte trotz der zwei fehlenden Finger an seiner Hand ihre Handgelenke so fest gepackt und auf dem Rücken zusammengebunden, dass sie vor Schmerz aufschrie. Er zog sie hinter sich her. Sie stolperte mehr über den Waldboden, als dass sie lief, denn sie konnte bei dieser Dunkelheit kaum etwas sehen.

Jonata schätzte die Wegelagerer auf mindestens fünfzehn Männer. Mathes lief ein paar Fuß vor ihr mit einem Sack über dem Kopf. Anscheinend wollte man nicht, dass er sah, wo man sie hinbrachte. Wieso hatten sie nicht dasselbe bei ihr getan?

Dort vorne liefen auch ihre Pferde. Jonata presste die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Was hatten diese Halunken mit ihnen vor? Warum hatten sie sich nicht einfach die Bücher und ihre Münzen genommen und waren verschwunden? In ihrem Kopf formte sich ein Gedanke, den sie zu verdrängen versuchte. Zu viele Männer und zu wenige Frauen. Das Zittern in ihrem Leib verstärkte sich. Sie wünschte, sie wäre daheim bei Simon und Ells geblieben.

Ein Licht tauchte in der Finsternis auf. Als sie näher kamen, erkannte Jonata, dass es sich um ein Lagerfeuer handelte, Gelächter war zu hören. Es gab provisorische Unterstände, zwei Karren und mehrere Pferde, die an Bäumen angebunden waren.

Der Mann drückte sie abseits an einem Baum zu Boden und band sie daran fest. »Nicht weglaufen, meine Hübsche«, sagte er grinsend. Sie konnte ihre Hände kaum bewegen.

Mathes verfrachteten sie an einen Baum ein paar Schritte von ihr entfernt. Ein großer Kerl nahm dem Buchführer den Sack ab. Mathes schwenkte den Kopf, um die Haare aus dem Gesicht zu schütteln, und sah sich um.

»Schön hierbleiben, verstanden?«, sagte der Hüne scharf und band Mathes ebenfalls fest.

»Dann lasst uns mal nachsehen, was in dem Gepäck ist«, rief einer vergnügt. Die Männer entfernten sich lachend.

»Was wollen sie von uns?«, fragte Jonata gedämpft.

»Unser Geld«, antwortete Mathes.

»Warum haben sie uns dann mitgenommen?«

»Das werden wir noch erfahren.«

Davor graute ihr. Bang erwartete sie, dass die Männer zurückkamen und über sie herfielen, doch vorerst scherte sich keiner um sie.

Es wurde immer kälter, vor allem die Bodenkälte wurde unerträglich. Zudem war Jonata müde und erschöpft von der Reise. Sie konnte das Zittern nicht mehr kontrollieren, die Kälte fraß sich in ihre Glieder. Sie lehnte sich an den Baumstamm. Wie hatte alles so weit kommen können?

Es wurde immer ruhiger im Lager, anscheinend legten sich die Männer schlafen. Irgendwann fielen ihr die Augen zu, und die Schwärze umfing sie.

KAPITEL 4

»Komm mit!« Unsanft wurde Jonata geweckt. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber es war immer noch dunkel. Der Mann mit der verkrüppelten Hand band sie los und zog sie auf die Beine. Ihre Glieder gehorchten ihr nicht sofort, sie waren steif von der Kälte, und sie musste sich am Baum abstützen.

»Los!« Er stieß sie vorwärts. Sie stolperte, hielt sich an einem Ast fest. Eine Eiseskälte breitete sich außerdem in ihrem Innern aus. Nein! Sie wollte nicht mitgehen. Hilfesuchend sah sie Mathes an.

»Lass sie in Frieden«, rief er. Er warf ihr einen besorgten Blick zu und zog an seinen Fesseln, bäumte sich auf, doch konnte sich nicht befreien.

»Sei still!«, keifte der Mann. Er schubste Jonata vor sich her. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Was konnte sie tun? Wie sollte sie sich aus dieser Situation befreien? Sie dachte an damals, als dieser Widerling auf der Reise nach Sachsen sich an ihrem Körper hatte vergreifen wollen, und sie musste würgen. Säure kratzte ihren Rachen. Nein! Das würde sie nicht noch einmal mit sich machen lassen. Ihr Beutel hing immer noch an ihrem Gürtel. Darin befand sich ihr Messer. Das Messer ihres verstorbenen Bruders Lucas. Würde es ihr diesmal die ersehnte Rettung bringen? Bitte oh HERR, hilf mir, betete sie in Gedanken.

Wie aus dem Nichts tauchte eine Hütte vor ihr auf. Eine eiskalte Hand umfasste ihr Herz. Jetzt war es so weit. Er brachte sie an einen Ort, an dem er ungestört mit ihr sein konnte. Von drinnen hörte sie nun das Schreien einer Frau. Dann war sie doch nicht die einzige Frau in dem Lager!

Jonata wollte nach ihrem Messer greifen, aber der Mann riss die Tür auf und stieß sie ins Innere. Eine Frau lag am Boden, verschwitzt, in der Ecke drei Kerzen. Die Frau keuchte. Ihr Kleid war feucht zwischen den Beinen. Jetzt erst erkannte Jonata, dass sie hochschwanger war. Ihr Körper bäumte sich auf, sie stöhnte. Sie lag in den Wehen.

»Hilf ihr«, sagte der Mann schroff.

Jonata spürte ein Ziehen an ihrem Gürtel. Geschwind drehte sie sich um, doch der Kerl hatte ihr den Beutel mit dem Messer bereits abgeschnitten. Jetzt war sie wehrlos. »Was soll das?«, rief sie.

Der Hüne trat hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

Jonata blieb einen Augenblick wie versteinert stehen. Sie war keine Wehmutter, was sollte sie schon tun? Aber wahrscheinlich gab es keine weitere Frau in dem Lager. Sie riss die Tür auf und rief: »Ich brauche warmes Wasser, saubere Laken und mein Messer.«

Der Mann drehte sich zu ihr um und starrte sie finster an.

»Soll ich ihr nun helfen oder nicht?«

»Wofür brauchst du das Messer?«, zischte er.

»Für die Nabelschnur. Oder möchtest du sie durchbeißen?«

Der Mann brummte unwillig, trat einen Schritt vor und baute sich vor ihr auf.

Jonata hatte an Zuversicht gewonnen und stemmte die Hände in die Hüften. Die Wegelagerer waren auf sie angewiesen, und vielleicht wäre das Messer ihr Weg in die Freiheit.

»Also gut. Sollst du bekommen.« Er gab ihr den Beutel zurück und verschwand in der Dunkelheit.

Jonata betrat die Hütte. Die Frau krümmte sich unter einer Wehe, schrie und raufte sich die Haare. In der Ecke gab es eine Kiste mit einer Decke. Daneben befand sich eine karge Schlafstatt mit etwas Stroh. »Hilf mir!«, rief die Frau.

Jonata versuchte, sich an Ells’ Geburt zu erinnern, doch bis auf die Pein verschwamm alles vor ihrem inneren Auge. Ein Satz der Wehmutter hatte sich jedoch in ihr Gehirn eingebrannt: »Sitzen ist besser als Liegen, Stehen besser als Sitzen und Laufen besser als Stehen.«

»Kannst du aufstehen?«, fragte sie. »Lauf herum, solange es geht.«

»Du hast gut reden«, keifte die Frau.

Jonata trat näher und legte ihr eine Hand auf die Schultern. »Ich bin auch Mutter. Glaub mir, es wird helfen, dass dein Kind schneller in deinen Armen liegt.«

Schwerfällig erhob sich die Frau. Sie war hübsch, hatte lange schwarze Haare und ein zartes Gesicht, das Jonata mehr an ein Kind als an eine Frau erinnerte. Vielleicht zählte sie sechzehn Lenze, möglicherweise siebzehn.

Die Frau ging in der Hütte im Kreis, bis eine erneute Wehe sie übermannte, sie in die Knie ging und abwechselnd keuchte und schrie. Diese Schmerzen! Jonata konnte sich noch gut daran erinnern. Viele Frauen sagten, man würde die Qualen vergessen. Das konnte sie nicht bestätigen. Und sie hatte Angst davor, diese Tortur ein zweites Mal zu durchleben, wenn Gott sie wieder mit der Leibesfrucht segnen sollte. Aber der erste Schrei, das süße Gesicht des Neugeborenen würde sie für jede Wehe entschädigen.

Der Mann kam zurück, brachte einen Eimer mit Wasser und ein paar Tücher. Er trat nah an sie heran, sodass sie seinen weinseligen Atem roch. »Mach keine Dummheiten mit dem Messer, oder dein Freund darf bald die Flammen im Fegefeuer zählen«, flüsterte er ihr ins Ohr. Seine Augen blitzten feindselig auf. Dann drehte er sich um und verschwand.

Jonata atmete tief durch und wandte sich der Frau zu. Diese krümmte sich vor Schmerzen. Jonata wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wie heißt du?«, fragte die Frau nach einer Wehe. »Und woher kommst du?«

»Jonata. Ich komme aus Wittenberg. Die Männer haben uns vorhin überfallen und hergebracht.«

Die Frau nickte.

»Und du?«

»Marlein. Ich habe früher in Magdeburg gewohnt.«

»Früher?«

»Bevor …« Marlein wand sich erneut unter einer Wehe.

Jonata legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Tief ein- und ausatmen. In den Bauch.«

»Es tut so weh«, jammerte Marlein.

»Jede Wehe bringt dich deinem Kind näher.« Sie hatte diesen Satz gehasst, als ihre Wehmutter ihn gesagt hatte, und doch fiel ihr nichts Besseres ein. »Darauf kannst du dich freuen!«

»Ich freue mich nicht«, keuchte sie. »Ich will das verdammte Balg nicht haben.« Ihre Augen funkelten.

Jonata schluckte. Eine Ahnung wuchs zu einem schauderhaften Gedanken heran. »Wie lange bist du schon hier?«

Marlein spuckte aus. »Drei Jahre.«

Jonata bekam eine Gänsehaut. »Wer ist der Vater?«

»Das weiß ich nicht.«

Jonata presste die Zähne aufeinander. Drohte ihr das gleiche Schicksal? Hatten sie ihr keinen Sack über den Kopf gezogen, weil die Männer sie behalten wollten?

Womöglich ließen sie Mathes wieder laufen. Dann würde er zurückkehren und nach ihr suchen. Doch woher sollte er wissen, wo sich das Lager befand? Selbst sie würde den Weg nicht wiederfinden. Sie waren so lange durch die stockfinstere Nacht gelaufen, dass sie keine Anhaltspunkte hatte.

Ein Schrei holte sie aus ihren Gedanken. Sie schaute nach, ob sie bereits das Köpfchen sehen konnte, doch das Kind war noch nicht so weit.

Es dauerte noch Stunden, bis die Presswehen einsetzten, Marlein wurde immer schwächer. Sie blutete stark. Jonata fragte sich, ob das normal war. Hoffentlich würde das Neugeborene durchkommen. Auch wenn Marlein das Kind nicht haben wollte, würde Jonata es nicht ertragen, einen erblassten Säugling im Arm halten zu müssen.

»Es drückt so«, jammerte Marlein.

Endlich! Nun würde es nicht mehr lange dauern. Jonata forderte sie auf, bei der Wehe kräftig zu pressen. Bei der nächsten Wehe sah man das Köpfchen, und dann flutschte der ganze Körper eines Mädchens in Jonatas Hände. Es schrie laut auf und schien gesund zu sein. Jonata durchschnitt die Nabelschnur und legte den Säugling auf Marleins Brust, wie es ihre Hebamme damals bei Ells gehandhabt hatte.

Marleins Gesichtszüge wurden weich, während sie ihr Kind betrachtete. »Meine Kleine, alles wird gut.«

Jonata legte mehrere Tücher um das Neugeborene, damit es nicht fror. Marlein bot ihrer Tochter die Brust an. Nach einer Weile klappte es, und die Kleine fing an zu saugen. Was für ein Moment des Glücks! Doch verlor Marlein weiterhin Blut und wurde zusehends blasser.

Die Nachgeburt kam mit einem regelrechten Blutschwall. Jonata legte ein Tuch unter Marlein, doch das löste das Problem nicht. Und nun? Sie sah Marlein an, die in den Anblick ihrer Tochter versunken war. Sollte sie ihr sagen, wie es um sie stand? Jonatas Hände zitterten. Sie war sich sicher, dass Marlein den nächsten Tag nicht erleben würde.

Marlein sah sie an. »Sie soll Clara heißen, nach meiner lieben Mutter.« Sie streckte ihr den Säugling entgegen. »Bitte bring sie an einen sicheren Ort und kümmere dich um sie. Sie soll nicht in dieser Hölle leben müssen.«

Die Gewissheit, dass sie sterben würde, stand Marlein ins Gesicht geschrieben. Jonatas Augen brannten, Tränen flossen über ihre Wangen. Was hatte diese Frau für ein Leid erfahren? Und nun, wo sie endlich wieder Glück zu empfinden schien, holte sie der Tod. Und das Kind würde ohne Mutter aufwachsen. Jonata schloss die Lider. Bitte, HERR, hilf mir und lass Marlein leben.

Als sie die Augen öffnete, hatte Marlein die ihren geschlossen. Sie kniete sich neben die Frau, die sie besser zu kennen glaubte als viele Bürger Wittenbergs. »Marlein«, flüsterte sie. Die junge Mutter rührte sich nicht. Jonata fühlte mit zittrigen Fingern am Hals nach dem Pulsieren. Nichts. Da war nur noch eine leere Hülle. Jonatas Lippen bebten. Was sollte nur aus diesem Kind werden?

Sie nahm das Schultertuch von Marlein und wickelte Clara darin ein. Zusätzlich schlug sie die Decke um das Bündel. Sie warf einen letzten Blick auf die junge Mutter, da fiel ihr die Gewandschließe an Marleins Mantel ins Auge. Sie legte das Kind ab, schnitt geschwind die Metallringe aus dem Stoff und steckte die Schließe in ihren Beutel. Wenigstens etwas sollte Clara von ihrer Mutter bekommen.

Jonata nahm das Kind, öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Alles war ruhig. Das Lagerfeuer war zu einem Glühen heruntergebrannt. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie in der Hütte zugebracht hatte, aber es war immer noch dunkel. Jetzt musste sie schnell handeln. Sie wollte Marleins letzten Wunsch erfüllen und das Kind von hier fortbringen. Wer wusste, was diese Wegelagerer mit dem Mädchen anstellen würden. Wahrscheinlich würde es keine drei Tage überleben, wenn sie es nicht gar direkt töteten.

Leise schlich Jonata durch die Dunkelheit und versuchte sich an den Weg zu Mathes zu erinnern. Als sie ein Käuzchen rufen hörte, duckte sie sich hinter einen Busch. Die Bäume schälten sich noch finsterer aus der Dunkelheit. Um sie herum sah alles gleich aus. Nicht auszudenken, wenn sie in die falsche Richtung lief.

Als sie geduckt aus ihrem Versteck hervorkam, stolperte Jonata über eine Wurzel, konnte sich jedoch fangen. Hoffentlich begann der Säugling nicht zu weinen, doch noch schlief Clara friedlich in ihren Armen. Dann sah sie einen Schemen an einem Baum. Das musste Mathes sein. Geschwind lief sie zu ihm. Er hatte den Kopf nach vorne geneigt und rührte sich nicht. Ihr stockte der Atem. Hatte man ihn umgebracht? Sie berührte ihn an der Schulter, sofort schreckte er auf. Erleichterung durchflutete sie.

»Ich bin’s, Jonata«, flüsterte sie.

»Was ist passiert?«

Sie zückte das Messer und durchtrennte Mathes’ Fesseln. »Eine Frau hat ein Kind zur Welt gebracht und ist bei der Geburt gestorben.«

»Du willst das Neugeborene mitnehmen?«, fragte Mathes erstaunt und rieb sich die Handgelenke.

»Ich kann es nicht seinem Schicksal überlassen.«

»Wie um Himmels willen willst du dich um einen Säugling kümmern?« Mathes stand auf.

»Ich muss eine Amme finden.«

»Das wird Zeit kosten. Wahrscheinlich werden wir es dann nicht mehr rechtzeitig zur Beerdigung deines Vaters schaffen.«

Jonata sah auf das Neugeborene. In der Dunkelheit konnte sie die Gesichtszüge von Clara nur erahnen. Eine Woge der Liebe überkam sie. Kümmert Euch um die Lebenden und nicht um die Toten, hörte sie Luthers Worte in ihrem Kopf. Und wenn Gott es wollte, würden sie dennoch rechtzeitig in Köln eintreffen. Sie hörte ein Knacken hinter sich und erstarrte.

***

»Zum Zwanzigsten. Auch wenn einige Leute mich nun einen Ketzer schelten – denn eine solche Wahrheit ist sehr schädlich für den Kasten –, so achte ich doch solches Geplärre nicht hoch, zumal das niemand tut als einige Finsterhirne, die ihre Nase nie in die Bibel gesteckt haben …«

Figen lehnte sich an die Wand und legte die Schrift neben sich. Wie mutig Luther war! Sie wollte auch so standhaft für ihre Überzeugungen eintreten. Sie war sich sicher: »Ein Sermon von Ablass und Gnade« war der richtige Text für den Unterricht. Ein Kribbeln zog durch ihre Glieder und hielt sie seit Stunden vom Schlafen ab. Sie hatte die Schrift mehrmals gelesen. Als Erstes würde sie den zukünftigen Zöglingen den Text vorlesen, damit sie sich mit dem Inhalt vertraut machten. Anschließend würde sie Zeile für Zeile die Buchstaben durchgehen. Figen malte sich in Gedanken aus, wie die Mädchen ihr gespannt zuhörten.

Die Talgkerze war fast heruntergebrannt und hatte ihren üblen Geruch in der Kammer verteilt. Würde sie mehr Geld besitzen, könnte sie sich eine Wachskerze leisten. Figen trat zum Fenster und öffnete die Läden, um die frische Nachtluft hereinzulassen. Der blasse Schein des Mondes drang durch ein Meer aus Wolkenfetzen. Schnell veränderten sie ihre Struktur, bildeten neuartige Formen, gaben den Blick auf die halb volle Scheibe frei, verschluckten sie wieder. Figen spürte den Wind der Veränderungen auf ihren Wangen, hörte Mädchenlachen, sah leuchtende Augen, sah Buchstaben umherwirbeln und sich auf Papier zu Worten formen.

Ein Knirschen, als ob jemand über Steine lief, durchbrach die Stille. Sie beugte sich über den Fenstersims und lugte nach unten, aber sie konnte nichts erkennen. Eine Fledermaus flog in den Apfelbaum und verschwand über den Dächern. Hatte Figen sich verhört? Wahrscheinlich war sie nur müde und hatte zu lange über der Schrift gesessen.

Sie spürte einen Druck im Unterleib, warf den Mantel über und schlich nach unten. Im Haus war alles ruhig. Sie ging in die Küche und öffnete die Hintertür zum Hof. Vorsichtig spähte sie hinaus. Nichts regte sich. Sie lief zur Latrine und erleichterte sich. Dann ertönten Schritte.

Unwillkürlich hielt sie die Luft an. Da war jemand! Eilig ließ sie die Röcke fallen und trat hinaus. Im Mondschein erkannte sie Margrets Mantel. Ihre Herrin verschwand in der Brauerei, hatte Figen anscheinend nicht bemerkt. Wo war sie gewesen, und warum hatte sie die Totenwache unterbrochen? Die Latrine hatte sie jedenfalls nicht aufgesucht.

Figen ging zur Brauerei und zog an der Tür. Abgeschlossen. Seltsam! Sollte sie klopfen? Nein, sie wollte Margret nicht stören. Was sollte sie auch sagen? Es stand ihr nicht zu, Fragen zu stellen. Margret war ihr keine Rechenschaft schuldig.

Figen ging in ihre Kammer und legte sich auf ihre Bettstatt. Ihre Gedanken kreisten. Ging Margret auch zu geheimen Versammlungen, oder hatte sie bloß ihren Nachttopf ausgeleert? Doch auch dann hätte sie zur Latrine kommen müssen. Und wieso hatte sie die Brauerei abgeschlossen? Das ergab alles keinen Sinn. Figen war zu müde, um klar zu denken, und bald fielen ihr die Augen zu.

***

Erneutes Knacken im Unterholz. Mathes zog Jonata hinter einen Baum. Ihr Herz galoppierte. Hatten sie zu laut gesprochen und waren aufgeflogen? Im linken Arm hielt sie Clara, in der anderen Hand das Messer. Bereit, sich damit zu verteidigen. Sie wagte einen Blick am Baumstamm vorbei, versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Sie sah eine Bewegung, krampfte ihre Finger fest um den Griff. Der Schemen schälte sich aus der Schwärze der Nacht und huschte davon.

»Ein Reh«, flüsterte Mathes.

Erleichtert lehnte Jonata den Kopf an den Stamm und sah nach oben. Sie dankte dem HERRN in Gedanken. Zwischen den Baumwipfeln sah man am schwarzen Himmel Sterne funkeln. Wie viel Zeit hatten sie noch, bis der Tag anbrach?

»Wo sind die Pferde?«

»In der Richtung, glaube ich.« Mathes stapfte los.

Jonata folgte ihm. Sie steuerten geradewegs auf das Lager zu. Vielleicht sollten sie lieber zu Fuß fliehen. Aber weit würden sie nicht kommen, die Wegelagerer würden sie leicht einholen. Außerdem wollte sie ihre Stute nicht zurücklassen.

Ein röchelndes Geräusch durchbrach die Nacht. Jemand schnarchte. Der Verursacher lag am Feuer mit zwei weiteren Gestalten. Jonata blickte sich um und hielt nach den Pferden Ausschau. Sie kamen an der Hütte vorbei, in der Marlein lag. Jonata schluckte und blieb kurz stehen. Mathes tippte ihr auf die Schulter und zeigte nach rechts. Dort waren sieben Pferde an Pfählen angebunden.

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