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4. Einschätzung

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Die Grenzen des Anwendungsvorranges finden ihre Grundlage nicht im Unionsrecht, weshalb sie aus dessen Perspektive nicht bestehen könnten; aus mitgliedstaatlicher Perspektive folgen sie aus der Übertragung der Zuständigkeiten auf die Union. Allerdings finden sämtliche vom BVerfG herangezogenen Ansatzpunkte für eine Kontrolle ihre Entsprechung im Unionsrecht – in Gestalt von Art. 6 EUV und der → Grundrechtecharta bezüglich der Grundrechte, in Gestalt des → Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 EUV bezüglich des Ultra-vires-Vorbehalts und unter dem Aspekt der Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten in Art. 4 Abs. 2 EUV bezüglich der Identitätskontrolle. Das BVerfG ist sich seinerseits des Loyalitätsgebots aus Art. 4 Abs. 3 EUV bewusst und hat das bereits in der Maastricht-Entscheidung konzipierte Kooperationsgebot durch wiederholte Vorlagen und judizielle Zurückhaltung ins Werk gesetzt, insbesondere indem es betont, dass beide Kontrollvorbehalte zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben sind (BVerfGE 142, 123 [202] – OMT). Die prinzipielle und insofern auch vom BVerfG als notwendig erachtete Geltung des Anwendungsvorranges wird damit nicht in Frage gestellt, sondern – im Einklang mit den materiell-rechtlichen Vorgaben des Unionsrechts – an einen nur ausnahmsweise und unter sehr engen Voraussetzungen zu aktivierenden Kontrollvorbehalt geknüpft.

A › Arbeitnehmerfreizügigkeit (Michael Rafii)

Arbeitnehmerfreizügigkeit (Michael Rafii)

I.Allgemeines75 – 78

II.Berechtigte und Verpflichtete79, 80

III.Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit81 – 103

1.Keine abschließende Regelung des Sachverhaltes durch Sekundärrecht82, 83

2.Eröffnung des Schutzbereiches der Arbeitnehmerfreizügigkeit84 – 100

a)Persönlicher Schutzbereich85 – 88

b)Sachlicher Schutzbereich89 – 98

c)Grenzüberschreitender Sachverhalt99, 100

3.Keine Bereichsausnahme, Art. 45 Abs. 4 AEUV101 – 103

IV.Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit104 – 111

1.Diskriminierungsverbot105, 106

2.Beschränkungsverbot107 – 109

3.Beeinträchtigungen durch Private110, 111

V.Rechtfertigung112 – 120

1.Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes113 – 118

a)Ordre-Public-Klausel114 – 116

b)Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls117, 118

2.Verhältnismäßigkeit119, 120

Lit.:

U. Becker, Arbeitnehmerfreizügigkeit, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, 355; A. Farahat, Solidarität und Inklusion, DÖV 69 (2016), 45; J. Heuschmid/N. V. Munkholm, Zur Unionsrechtskonformität der Unternehmensmitbestimmung, EuZW 28 (2017), 419; R. Rebhahn, Die Arbeitnehmerbegriffe des Unionsrechts in der neueren Judikatur des EuGH, EuZA 5 (2012), 3; H. Schulte-Westenberg, Zur Bedeutung der Keck-Rechtsprechung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, 2010; M. Wienbracke, „Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet“ – eine aktuelle Bestandsaufnahme zu Art. 45 AEUV, EuR 47 (2012), 483.

A › Arbeitnehmerfreizügigkeit (Michael Rafii) › I. Allgemeines

I. Allgemeines

75

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gem. Art. 45 ff. AEUV zählt zu den fundamentalen Grundsätzen des Unionsrechts und hat eine bedeutende Funktion für die Verwirklichung des → Binnenmarktes. Sie gewährleistet das Recht für die Arbeitnehmer, sich in allen Mitgliedstaaten der EU um eine Beschäftigung zu bemühen und diese auszuüben. Die Freizügigkeit verfolgt damit das politische Ziel, dass sich Arbeitnehmer in den Mitgliedstaat begeben können, in dem die Nachfrage nach ihren jeweils individuellen Qualifikationen am Größten ist und sie die für sie besten Beschäftigungsaussichten vorfinden. Gleichzeitig können auf diesem Weg Engpässe auf dem Arbeitsmarkt in dem Aufnahmemitgliedstaat beseitigt werden. Obwohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften zum Kernbestand der Unionsrechtsordnung zählt, ist sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen bis heute Gegenstand lebhafter politischer Diskussionen und stand im Zentrum der Debatte während des Referendums über einen → Austritt (aus der EU) des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland.

76

Art. 45 AEUV enthält für Arbeitnehmer sowohl ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit als auch bestimmte Freizügigkeitsrechte, insbesondere das Recht zum Aufenthalt am Arbeitsort. In Abgrenzung zum → allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art. 18 UAbs. 1 AEUV und zum → allgemeinen Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit in ihrem Anwendungsbereich lex specialis und geht den allgemeinen Bestimmungen vor (EuGH, Urt. v. 12.3.2014, C-457/12 – Minister voor Immigratie –, Rn. 45).

77

Rechtssystematisch ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit in den Art. 45–48 AEUV gemeinsam mit der → Niederlassungsfreiheit, der → Dienstleistungsfreiheit sowie der → Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit in Titel IV des Dritten Teils des AEU-Vertrages geregelt. Zusammen mit der Niederlassungsfreiheit gewährleistet sie die Freizügigkeit der Personen, wobei die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die abhängig Beschäftigten und die Niederlassungsfreiheit auf die selbständig Tätigen Anwendung findet.

78

Ergänzt wird die Arbeitnehmerfreizügigkeit durch die Gewährleistungen der → Grundrechtecharta. Das Freiheitsrecht für Arbeitnehmer gem. Art. 15 Abs. 2 GRCh reicht aufgrund der Vorschrift in Art. 52 Abs. 2 GRCh nicht weiter als die durch Art. 45 AEUV verbürgte Arbeitnehmerfreizügigkeit (EuGH, Urt. v. 4.7.2013, C-233/12 – Gardella –, Rn. 39). Als weitere Arbeitnehmerrechte in der Grundrechtecharta sind v.a. das Recht auf Zugang zu beruflicher Aus- und Weiterbildung gem. Art. 14 GRCh sowie die speziellen Arbeitnehmergrundrechte in den Art. 27 ff. GRCh zu beachten.

A › Arbeitnehmerfreizügigkeit (Michael Rafii) › II. Berechtigte und Verpflichtete

II. Berechtigte und Verpflichtete

79

Nach ihrer Zielsetzung als Personenfreizügigkeit richten sich die Gewährleistungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit grundsätzlich an die Unionsbürger (→ Unionsbürgerschaft), die eine Arbeitsstelle in einem anderen Mitgliedstaat annehmen möchten. Darüber hinaus können sich auch Arbeitnehmer aus Drittstaaten auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen, wenn zwischen der EU und ihrem Heimatstaat ein entsprechendes Abkommen besteht. Seitdem der → Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Berufung von Arbeitgebern auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit zugelassen hat (vgl. unten Rn. 88), können sogar Unternehmen als Berechtigte der Grundfreiheit in Betracht kommen (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren).

80

Die Verpflichtungsadressaten der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind in der Regel die Mitgliedstaaten. Auch die Unionsorgane (→ Organe und Einrichtungen) sind an die Gewährleistungen gebunden. Speziell in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der EuGH zudem die Eigenschaft von Privaten, wie z.B. Kollektivregelungen aufstellende Verbände oder private Arbeitgeber, als Verpflichtungsadressaten der Arbeitnehmerfreizügigkeit bestätigt (s. Rn. 110 f.).

A › Arbeitnehmerfreizügigkeit (Michael Rafii) › III. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit

III. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit

81

Damit sich die Berechtigten auf die Gewährleistungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können, müssen die Anwendungsvoraussetzungen der Grundfreiheit erfüllt sein.

1. Keine abschließende Regelung des Sachverhaltes durch Sekundärrecht

82

Im Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine abschließende Regelung durch das → Sekundärrecht (→ Normenhierarchie) nicht vorgenommen worden. Die sekundärrechtlichen Bestimmungen enthalten lediglich nähere Konkretisierungen der in Art. 45 AEUV enthaltenen Gewährleistungen sowie diese flankierende Maßnahmen, z.B. in Bezug auf die Rechte von Familienangehörigen des Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat oder auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit (Art. 48 AEUV), um die praktische Wirksamkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu fördern.

83

Von Bedeutung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind etwa die Regelungen der Freizügigkeitsverordnung (VO [EU] Nr. 492/2011) sowie der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG; EuGH, Urt. v. 15.12.2016, C-401/15 – Depesme –, Rn. 33 ff.). Der Erlass der Richtlinie über Arbeitnehmer-Freizügigkeitsrechte (RL 2014/54/EU) dient dem Ziel, eine wirksamere Durchsetzung der Rechte aus Art. 45 AEUV sowie der Freizügigkeitsverordnung zu erreichen.

2. Eröffnung des Schutzbereiches der Arbeitnehmerfreizügigkeit

84

Damit sich ein Berechtigter auf die Gewährleistungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann, muss der Schutzbereich in persönlicher und sachlicher Hinsicht eröffnet sein und ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen.

a) Persönlicher Schutzbereich

85

Wie sich aus dem Wortlaut des Art. 45 Abs. 2 AEUV entnehmen lässt („Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten“), werden vom persönlichen Schutzbereich unmittelbar nur Unionsbürger erfasst. Der Arbeitnehmer muss also die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates aufweisen.

86

Neben dem Arbeitnehmer selbst umfasst der persönliche Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch dessen Familienangehörige unabhängig von deren Wohnsitz und Staatsangehörigkeit. Diesen steht etwa aus Art. 45 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu, sofern der Arbeitnehmer andernfalls daran gehindert wäre, von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen (EuGH, Urt. v. 12.3.2014, C-457/12 – Minister voor Immigratie –, Rn. 44).

87

Arbeitnehmer aus Drittstaaten können sich nicht unmittelbar auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 45 AEUV berufen. Für Arbeitnehmer aus Island, Norwegen und Liechtenstein bestehen gem. Art. 28 EWR-Abkommen (→ Europäischer Wirtschaftsraum [EWR]) allerdings praktisch dieselben Rechte (EuGH, Urt. v. 16.9.2004, C-452/01 – Ospelt –, Rn. 28 f.). Mit der Schweiz, die dem EWR-Abkommen nicht beigetreten ist, wurde ein gesondertes Abkommen über die Personenfreizügigkeit geschlossen, in dem die Rechte des AEU-Vertrags geringfügig modifiziert wurden. Besondere Regelungen gelten zudem für Drittstaatsangehörige, deren Heimatstaaten Assoziations- oder Kooperationsabkommen mit der EU geschlossen haben, wie z.B. die Türkei.

88

Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich auch der Arbeitgeber auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber seinem Heimatstaat berufen (EuGH, Urt. v. 7.5.1998, C-350/96 – Clean Car Autoservice –, Rn. 19 ff.; bestätigt in EuGH, Urt. v. 13.12.2012, C-379/11 – Caves Krier –, Rn. 28 f.). In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt war dem Arbeitgeber die Gewerbeerlaubnis versagt worden, weil er einen Geschäftsführer mit einem Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat eingestellt hatte. Der EuGH begründete seine Entscheidung mit dem Argument, die Wirksamkeit des Freizügigkeitsrechts der Arbeitnehmer könnte unterlaufen werden, wenn die Mitgliedstaaten Arbeitgebern die Einstellung von Arbeitnehmern unter Bedingungen untersagen könnten, die einen Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellen würden. In diesen Fällen wird oftmals auch eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit des Arbeitgebers in Betracht kommen.

b) Sachlicher Schutzbereich
aa) Begriff Arbeitnehmer

89

Entscheidend für die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereiches der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist der Begriff des Arbeitnehmers, der allerdings im AEU-Vertrag nicht definiert wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH muss der Begriff wegen der grundlegenden Bedeutung der Arbeitnehmerfreizügigkeit weit und im Einklang mit den Zielen der Unionsrechtsordnung ausgelegt werden. Arbeitnehmer ist danach jeder, „der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält“ (EuGH, Urt. v. 3.7.1986, 66/85 – Lawrie-Blum –, Rn. 16 f.; Urt. v. 8.6.1999, C-337/97 – Meeusen –, Rn. 13 ff.).

90

Rechtsgrundlage des Arbeitsverhältnisses ist regelmäßig ein privatrechtlicher Arbeitsvertrag. Die rechtliche Natur des Beschäftigungsverhältnisses ist für die Anwendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit allerdings nicht entscheidend. Dem Schutzbereich unterfallen auch Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, selbst wenn sie in einem Beamtenverhältnis stehen oder das Beschäftigungsverhältnis nicht dem Privatrecht, sondern dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist (EuGH, Urt. v. 26.4.2007, C-392/06 – Alevizos –, Rn. 68; Urt. v. 22.6.2017, C-20/16 – Bechtel –, Rn. 33). Für die Arbeitnehmereigenschaft i.S.d. Unionsrechts ist weiterhin ohne Bedeutung, ob die in Rede stehende Tätigkeit nach der nationalen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten als Arbeitsverhältnis eingestuft wird. Andernfalls hätten es die Mitgliedstaaten selbst in der Hand, den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit beliebig einzuschränken (EuGH, Urt. v. 23.3.1982, 53/81 – Levin –, Rn. 10 f.; Urt. v. 11.11.2010, C-232/09 – Danosa –, Rn. 39).

91

Dem Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterliegen mithin sämtliche dem Wirtschaftsleben im Binnenmarkt zuzuordnende Leistungen, die für einen Auftraggeber nach dessen Weisung gegen Entgelt erbracht werden. Unerheblich ist dagegen, ob der Arbeitgeber als Unternehmer direkt am Wirtschaftsleben teilnimmt. Es können daher auch Tätigkeiten künstlerischer, sportlicher und sozialer Art vom Schutzbereich erfasst sein (EuGH, Urt. v. 16.3.2010, C-325/08 – Olympique Lyonnais –, Rn. 27 f.). Lediglich verbotene Tätigkeiten, wie der Verkauf von Betäubungsmitteln, sind vom Schutzbereich ausgenommen (EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 42). Die Prostitution ist vom Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit dagegen erfasst, da sie in den meisten Mitgliedstaaten zumindest geduldet und oft sogar reglementiert wird (EuGH, Urt. v. 20.11.2001, C-268/99 – Jany –, Rn. 49).

92

Allerdings muss es sich um eine „tatsächliche und echte“ Tätigkeit handeln (EuGH, Urt. v. 20.11.2001, C-268/99 – Jany –, Rn. 33). Der EuGH versteht hierunter, dass aufgrund ihres geringen Umfangs völlig untergeordnete und unwesentliche Beschäftigungen vom Schutzbereich ausgenommen sind. Insofern ist bei Teilzeitbeschäftigungen oder Gelegenheitsarbeiten aufgrund einer Gesamtbewertung im Einzelfall zu prüfen, ob die tatsächlich erbrachten Arbeitsstunden bzw. die Dauer des Arbeitsverhältnisses die Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit noch rechtfertigen (EuGH, Urt. v. 26.2.1992, C-357/89 – Raulin –, Rn. 15). Eine Untergrenze hat der EuGH bislang allerdings nicht festgelegt. Selbst bei einer weniger als einen Monat dauernden Beschäftigung ist die Qualifizierung als Arbeitnehmer nicht ausgeschlossen (EuGH, Urt. v. 4.6.2009, C-22/08 – ARGE Nürnberg –, Rn. 29 f.).

93

Der Arbeitnehmer muss zudem als Gegenleistung eine Vergütung für seine Tätigkeit erhalten. Als Vergütung in diesem Sinne sind nicht nur Entgeltzahlungen anzusehen, sondern auch Naturalleistungen, wie z.B. Unterkunft und Verpflegung (EuGH, Urt. v. 7.9.2004, C-456/02 – Trojani –, Rn. 22). Die Höhe der Vergütung ist dabei unerheblich und kann unterhalb des Mindesteinkommens im jeweiligen Mitgliedstaat liegen. Es ist insbesondere nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer von seinem Einkommen seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Dies gilt selbst dann, wenn der Betroffene die Vergütung durch eine finanzielle Unterstützung des Aufnahmemitgliedstaates zu ergänzen sucht (EuGH, Urt. v. 23.3.1982, 53/81 – Levin –, Rn. 11 ff.; Urt. v. 4.6.2009, C-22/08 – ARGE Nürnberg –, Rn. 28).

94

Erforderlich ist schließlich, dass die Tätigkeit in einem Unterordnungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnis erbracht wird, in dem der Arbeitnehmer den Weisungen des Arbeitgebers unterliegt. Das Element der Weisungsunterworfenheit dient insoweit auch der Abgrenzung zur → Niederlassungsfreiheit, bei der es sich um eine selbständige Erwerbstätigkeit handelt. Die Qualifizierung der Tätigkeit ist in einer Gesamtschau aller relevanten Faktoren und Umstände vorzunehmen. Typische Merkmale für die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit sind v.a. freie Wahlmöglichkeiten bezüglich der Art der auszuführenden Arbeiten und Aufgaben, die freie Bestimmung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes sowie der Einsatz eigenen Personals. Die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens kann ebenfalls ein Indiz für eine selbständige Tätigkeit sein (EuGH, Urt. v. 14.12.1989, C-3/87 – Agegate –, Rn. 35 f.). Gesellschafter und sogar Mitglieder der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft können allerdings dennoch Arbeitnehmer sein, wenn sie im Übrigen hinsichtlich der Ausübung ihrer Tätigkeit den Weisungen des Arbeitgebers unterliegen (EuGH, Urt. v. 10.12.1991, C-179/90 – Merci –, Rn. 13; Urt. v. 11.11.2010, C-232/09 – Danosa –, Rn. 47).

95

Der Status des Arbeitnehmers wird durch eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit nicht eingeschränkt (EuGH, Urt. v. 19.6.2014, C-507/12 – Saint Prix –, Rn. 27). Dagegen führt die Beendigung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich zu einem Verlust der Arbeitnehmereigenschaft, wobei dem Arbeitnehmer allerdings noch bestimmte Folgerechte zustehen, wie z.B. das Bleiberecht gem. Art. 45 Abs. 3 Buchst. d) AEUV. Zudem kann die Arbeitnehmereigenschaft trotz der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses weiterhin anzuerkennen sein, wenn sich der Arbeitnehmer umgehend um eine Folgeanstellung bemüht. Wie sich aus Art. 45 Abs. 3 Buchst. a) und b) AEUV ergibt, ist auch derjenige, der tatsächlich eine Arbeit sucht, als Arbeitnehmer zu qualifizieren (EuGH, Urt. v. 12.5.1998, C-85/96 – Martinez Sala –, Rn. 32; Urt. v. 13.12.2012, C-379/11 – Caves Krier –, Rn. 26).

bb) Gewährleistungsdimensionen

96

Der Gewährleistungsumfang der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist in Art. 45 Abs. 1–3 AEUV beschrieben. Art. 45 Abs. 1 AEUV enthält die allgemeine Aussage, dass innerhalb der Union die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet ist. Diese umfasst gem. Art. 45 Abs. 2 AEUV die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Art. 45 Abs. 3 AEUV gibt den Arbeitnehmern das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, sich dort aufzuhalten, um unter den gleichen Bedingungen wie Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats eine Beschäftigung auszuüben und nach deren Beendigung dort zu verbleiben.

97

Der primärrechtliche Gewährleistungsinhalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 Abs. 1–3 AEUV ist durch sekundärrechtliche Bestimmungen näher konkretisiert und erweitert worden. Die näheren Modalitäten für die Ausübung der Aufenthalts- bzw. Mobilitätsrechte aus Art. 45 Abs. 3 AEUV wurden etwa in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) geregelt. Dies betrifft z.B. das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen (Art. 7 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie) oder die Dauer des Fortbestands des Aufenthaltsrechts des Arbeitnehmers nach Beendigung einer Tätigkeit (Art. 7 Abs. 3 Freizügigkeitsrichtlinie).

98

Eine Erweiterung der Gewährleistungen aus Art. 45 AEUV erfolgt insbesondere auf dem Gebiet der sozialen Rechte der Arbeitnehmer. So ist z.B. das Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung und in Bezug auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen gem. Art. 45 Abs. 2 AEUV durch Art. 7 Abs. 2 der Freizügigkeitsverordnung (VO [EU] Nr. 492/2011) um das Recht ergänzt worden, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer zu erhalten (EuGH, Urt. v. 15.12.2016, C-401/15 – Depesme –, Rn. 36). Die Gewährung sozialer Rechte erfolgt vor dem Hintergrund, dass die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit praktisch gefährdet wäre, wenn den Arbeitnehmern bei einer Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat sozialrechtliche Nachteile entstünden – etwa in Bezug auf Rentenansprüche, Leistungen im Krankheitsfall oder bei Arbeitslosigkeit.

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
2130 S. 1 Illustration
ISBN:
9783811475106
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Rechteinhaber:
Bookwire
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