Musst Du schon gehen?

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17. Oktober 2009

Dietlindes Chor, den sie mitbegründet hat und dessen Vorsitzende sie ist, feiert sein 20jähriges Bestehen mit einem Konzert. Der Bürgersaal ist voll, das Konzert ein schöner Erfolg. Applaus. Blumen.

Meine Frau ist glücklich.

19.Oktober

Dietlinde steht mitten im Wohnzimmer und möchte mir etwas sagen. Sie öffnet den Mund und es kommt: Nichts. Entsetzen.

Ich bin nicht konzentriert und begreife es daher nicht. Dietlinde dreht sich um und geht nach oben in ihr Turmzimmer.

Es ist Mittag, also beginne ich, Essen zu kochen.

„Dietlinde, Essen ist fertig.“

Dietlinde kommt herunter, setzt sich an den Tisch und starrt auf den Teller.

Geweitete Augen.

„Was ist? Was hast Du?“

Sie versucht etwas zu sagen. Es kommen nur Geräusche. Gurgeln.

„Komm, gehen wir ins Wohnzimmer. Leg Dich etwas hin.“

Kaum liegt sie auf der Couch, zieht sich der ganze Körper zusammen, krampft.

Schaum vor dem

Mund. Koma.

Oh Gott. Was ist das? Stirbt sie?

Was mach ich jetzt?

112 anrufen.

Schnell.

Der Notarzt braucht nur 10 Minuten. Er kennt die Adresse. Er war schon vor 6 Jahren mal hier. Ich war damals der Patient, der abgeholt werden musste.

Ich erkläre, was passiert ist, soweit ich das begreife. Inzwischen schläft Dietlinde tief und fest.

Sie ist weit fort.

„Hat sie sich eingenässt?“

Ich fühle nach.

„Nein.“

„Gut.“

Sie heben Dietlinde auf eine Liege und in den Notarztwagen, der vor dem Hauseingang parkt.

Ein Arzt-Kollege telefoniert hektisch um einen Platz in einer Intensivstation.

Aufregung im Notarztwagen. Der Arzt steckt den Kopf zur Tür raus: „Ein weiterer Anfall. Hast Du endlich ein Bett?“

„Ja, ins H.“

„Wir fahren sie ins H. Krankenhaus.“

„Lassen Sie uns ein paar Stunden Zeit, ehe Sie kommen. Ihre Frau muss stabilisiert und untersucht werden.

Gab es vorher irgendwelche Anzeichen?“

„Nein. Nichts. Nie. Es kam einfach so!“

Ich fahre am Nachmittag ins H. Krankenhaus zur Intensivstation. Dietlinde schläft, von Schläuchen und Maschinen umgeben.

Rund herum andere Patienten, die ebenfalls von Schläuchen und Geräten umlagert werden.

Eine gespenstische Umgebung.

„Lassen Sie uns bis morgen Zeit. Wir müssen einige Untersuchungen und vor allem Bilder von dem Kopf machen, ehe wir etwas sagen können.

Kommen Sie morgen wieder.“

20. Oktober

Dietlinde ist wach, aber nicht ganz da. Ich streichle ihre Hand.

„Wie geht es Dir.“

„Hhmmm.“

Mehr kommt nicht.

„Wenn die Ärzte kommen, erfahren wir hoffentlich, was los ist.“

„Wir haben ihrer Frau Kontrastmittel gespritzt und dann Bilder vom Kopf gemacht. So haben wir eine „Raumforderung“ im hinteren Kopfbereich feststellen können.“

„Was ist eine Raumforderung?“

„Das ist ein klar umrissener Bereich, der da nicht

hingehört, der aber Platz im Hirn fordert.“

„Ja, und?“

„Wir wissen es nicht, aber wir vermuten Metastasen oder einen Hirntumor, der die epileptischen Anfälle ausgelöst haben könnte.“

Dietlinde hatte also epileptische Anfälle. Wie ich jetzt erfahre, hatte sie auf der Fahrt ins Krankenhaus noch zwei.

„Wir raten Ihnen dringend, eine Punktierung des Hirns durchführen zu lassen.“

„Was heißt das?“

„Wir bohren ein Loch in den Kopf und holen ein Stück Gewebe heraus, um es zu untersuchen. Dann wissen wir mehr.“

Dietlinde versteht nicht, was um sie herum gesagt wird.

„Moment! Halt! Sie wollen ihr in den Kopf bohren? Das kann ich doch nicht hier und jetzt entscheiden.

Bitte, ich muss das doch erst mit meiner Frau besprechen. Aber das geht erst, wenn sie wieder klar denken kann.

Und Metastasen? Woher?“

„Wenn es Metastasen sind – und das ist wahrscheinlich

– dann müssen wir die Mutterzelle finden.“

„Heißt das, meine Frau hat Krebs?“

„Das scheint sicher zu sein.“

Am Nachmittag ist Dietlinde völlig klar, aber ruhiggestellt.

„Wie geht es Dir?“

„Weiß nicht recht. Wo bin ich?“

„ Auf der Intensivstation im H.“

„Was war denn?“

„Du hattest epileptische Anfälle und nun sucht man die Ursache. Die sagen, Du hättest eine Raumforderung im Kopf. Einen Tumor oder Metastasen. Der hätte die Anfälle ausgelöst.“

Wir sind beide paralysiert, fassen uns an den Händen, soweit das zwischen den Schläuchen geht und weinen. Dietlinde blickt sich um und sieht, so wie ich, halb- bis dreiviertel- Tote um sich herum.

Es zischt und gurgelt.

Sie stöhnen und schnarchen.

„Oh Gott, ich will hier raus. Schnell. Bitte.“

Der Oberarzt kommt und drängt wieder: „Sie müssen diese Punktierung so schnell wie möglich machen lassen.“

Dietlinde begreift zum ersten Mal, dass man ihr den Kopf aufmachen will.

Sie ist fassungslos.

Den Oberarzt scheint das nicht zu interessieren. Er will unbedingt die Punktierung.

„Wenn es Metastasen sind, muss irgendwo eine Mutterzelle sein, sagten Sie. Sollte man die nicht erst mal suchen, ehe man meiner Frau ein Loch in den Kopf bohrt?“

Ich muss das Zimmer verlassen.

Man schiebt dem Nachbarpatienten einen Schlauch in den Hintern, um Kot abzupumpen.

„Bitte, können Sie nicht veranlassen, dass meine Frau auf die Normalstation verlegt wird? Dort können die Untersuchen doch auch gemacht werden. Hier leidet sie mehr, als nötig wäre.“

21. Oktober

Dietlinde ist verlegt worden. Weg von den armen Geschöpfen der Intensivstation. Wir können uns endlich umarmen.

„Oh Gott, oh Gott. Was machen wir bloß?“

Die Ärzte kommen.

„Wir haben neben den zwei Raumforderungen im hinteren Gehirn etwas in der linken Brust gefunden, müssen aber noch weitere Untersuchungen machen.“

„Wieso zwei? Gestern war von einer die Rede.“

„Ja, aber es sind wohl zwei, die allerdings sehr nahe beieinander liegen.“

„Erst eine, dann zwei. Was kommt noch?“

„Um das in der linken Brust untersuchen zu können, brauchen wir von Ihnen die Genehmigung, eine Biopsie zu machen.“

„Was heißt das?“

„Wir stanzen ein Loch in die Brust und holen ein Stück Gewebe heraus, um es zu untersuchen.“

„Nicht schon wieder!“ Dietlinde wehrt sich.

„Nein, bitte erst alle Untersuchungen, dann sehen wir weiter.“

22. Oktober

Sie liegt weinend im Bett. Ihre Brust ist eng bandagiert, sie hat Schmerzen und kann kaum atmen.

„Sie haben mir während der Untersuchungen einfach in die Brust gestanzt. Ich habe denen keine Genehmigung gegeben. Es ist entsetzlich. Was passiert mit mir?“

Ich löse ihr erst mal den Verband, so dass sie atmen kann.

Ärzte in einer solchen Situation zu beschimpfen, ist Unsinn.

Eine Frau Oberärztin wedelt nett mit ihren langen Armen. „Wir haben das Gewebe untersucht. Nichts. Es ist harmlos. Das kann es also nicht sein. Auch sonst haben wir nichts gefunden. Allerdings rätseln wir noch an einer Stelle links hinter der Schläfe im Kopf. Es ist nicht klar umrissen, wie ein Tumor, aber irgendetwas ist da.“

Erst war es eine Stelle, dann zwei, jetzt drei?

Was ist das hier? Das sind doch keine seriösen Informationen.

„Sie sollten dringend der Punktierung zustimmen.“ Schon wieder.

Wir können mit all den Informationen nicht umgehen und sind beide verzweifelt.

„Darf Dietlinde aufstehen?“

„Ja, kein Problem.“

Wir gehen ein paar Schritte, fassungslos, begreifen nichts.

23. Oktober

Dietlinde geht es soweit ganz gut. Wir laufen auf der Station auf und ab.

Frau Oberärztin, so ca. 1,80 m groß, kommt uns sehr nahe. Zu nahe, so dass wir ihren Atem riechen können, und von oben herab. Es prasselt Argumente:

„Sie sollten dringend der Punktierung zustimmen.“ Wir zucken zurück.

Abstand.

Wieso bedrängt man uns so? Was soll das alles?

Wir sind völlig verwirrt.

Frau Oberärztin hört nicht zu. Ich versuche ihr zwar unsere Not zu erklären, aber sie bedrängt uns weiter.

24. Oktober

So gegen 9 Uhr bin ich im Zimmer. Auf den Tischen liegen Mundmasken. Dietlinde ist aufgeregt und wütend.

„Du musst eine Mundmaske anlegen.“

„Warum?“

„Heute Nacht ist eine verwirrte Mitpatientin aufgewacht und musste aufs Klo. Leider hat sie es nicht geschafft.

Sie hat ihren Kot überall an den Wänden verschmiert, ehe sie das Klo gefunden hat.

Wir haben geklingelt, aber es war schon zu spät. Die Nachtschwester hat die Frau wüst beschimpft, dann alles sauber gemacht.“

„Und warum soll ich jetzt einen Mundschutz tragen?“

„Wegen der Infektion. Sie hat sich einen Virus eingefangen.“

„Ihr habt doch auch keine an.

Werdet ihr nicht angesteckt?

So ein Schmarrn.“

Dietlinde und ich laufen auf der Station herum.

Wir hören, dass sich noch zwei weitere Patienten aus anderen Zimmern mit Durchfall angesteckt haben sollen.

Dietlinde muss zu Kräften kommen. Wir laufen weiter, auch in anderen Stationen herum. Als wir die Treppen runter wollen - es ist bereits mittags - ruft uns die Stationsärztin scharf zurück:

 

„Frau Majewski, Sie dürfen die Station nicht verlassen. Sie verseuchen uns ja das ganze Krankenhaus.“

Mittags wird die Station geschlossen. Alle Patienten müssen ins Bett. Die Besucher müssen raus.

Die Verteilung der Durchfallerreger hat vor ca. 12 Stunden stattgefunden. Und jetzt „schon“ Quarantäne? Sehen so Vorsichtsmaßnahmen im H. aus?

Wir zweifeln immer mehr, ob wir hier gut aufgehoben sind.

Abermals kommt Frau Oberärztin uns zu nahe:

„Was ist nun mit Ihrer Entscheidung? Ich habe vorsorglich für morgen ein Bett in der Onkologie vormerken lassen.“

Wir blicken uns an und sind einer Meinung: Nichts wie raus hier. Die wissen nicht, was sie tun.

„Nein. Bitte haben Sie Verständnis.

Wir brauchen Zeit.

Wir verstehen das alles nicht und fühlen uns völlig überrumpelt. Wir wollen nach Hause.“

Sie beginnt zu „flöten“, als würde sie Mäuse fangen wollen. Das macht uns noch sicherer. Nichts wie weg hier.

„Bitte bereiten Sie alle Papiere vor, ich hole meine Frau heute Abend ab.“

„Auf Ihre Verantwortung. Und was ist mit dem Bett?“

„Was für ein Bett?“

„Das in der Onkologie. Ich kann das nicht bis übermorgen reservieren.“

Ich fasse es nicht.

„Wir melden uns. Ganz bestimmt.“

25. Oktober

Wieder zu Hause. Wir sind voller Panik. Was ist passiert? Was sollen wir tun?

„Bin ich morgen tot?“ Dietlinde weint.

Unser Sohn Christian hilft uns, etwas zur Ruhe zu kommen. Tochter Elke hilft telefonisch. Wir brauchen dringend medizinischen Rat, den wir auch annehmen können.

Dietlinde hat Krebs.

Metastasen?

Ein Hirntumor?

Raumforderungen, Loch in den Kopf?

Dietlinde ist doch kerngesund. Bis vor ein paar Tagen jedenfalls. Und nun will man ihr dringend und sofort ein Loch in den Kopf bohren?

Wer kann uns helfen?

Die im H. ganz gewiss nicht. Der Hausarzt?

Dietlinde ist seit 8 Jahren bei einer Fachärztin für Inneres. Wir bitten um einen Termin.

„Frau Fachärztin ist auf einer Tagung. Danach ist sie in ihrer Zweitpraxis. Einen kurzfristigen Termin? Leider, leider…“

„Aber es ist dringend.“

„Tja, wie gesagt leider, leider…..“

Dietlinde hat seit einigen Jahren Probleme mit dem Autoimmunsystem ihrer Leber. Sie bekommt dafür Tabletten. Ursofalk. Da die gerade aufgebraucht sind, bittet Dietlinde um ein Rezept. „Kein Problem, kommen Sie vorbei, der Partner von Frau Fachärztin kann es ausstellen.“

So, so, sie hat also einen Partner. Wussten wir gar nicht.

Am nächsten Tag hole ich das Rezept und bringe es zur Apotheke. Man will mir andere Tabletten geben.

„Nein, bitte Ursofalk, das andere verträgt meine Frau nicht.“

„Aber das geht nicht. Wir müssen ihr das andere geben. Wenn Sie Ursofalk haben wollen, muss der Arzt das extra angeben.“

Zurück zur Arztpraxis, um das Rezept ändern zu lassen.

„Das geht nicht.“

„Warum nicht?“

„Wir haben mit der Krankenkasse eine Vereinbarung, dass das jeweils billigere Präparat mit dem gleichen Wirkstoff verschrieben werden muss.“

„Meine Frau verträgt das aber nicht. Außerdem nimmt sie schon seit Jahren Ursofalk. Sie verschreiben Tabletten, die der Patient nicht verträgt, nur weil die Krankenkasse das will? Ist Ihnen die Patientin egal?“

Ich werde laut.

Die Sprechstundenhilfe klingelt nach dem Partner der Fachärztin. Der bittet mich in sein Sprechzimmer und beginnt zu erklären. Selber Wirkstoff, Krankenkasse, Verträge…

Ich werde lauter.

„Warum versteht hier keiner, dass meine Frau die anderen nicht verträgt. Das haben wir ausgetestet. Vor Jahren schon.“

„Ja, leider…“

Ich bin fassungslos. Was sind das für Ärzte, denen die Kasse wichtiger als der Patient ist.

Zu Hause erklärt mir Dietlinde, dass sie das Problem schon seit Jahren kennt. Da sich die Frau Fachärztin immer schon geweigert hat, bringt sie das „falsche“ Rezept zur Apotheke, kauft Ursofalk und zahlt den Aufpreis selbst. (Später habe ich erfahren, dass die Fachärztin nur ein Feld auf dem Rezept hätte ankreuzen müssen, dann hätte Dietlinde schon seit Jahren Ursofalk wegen Unverträglichkeit bekommen. Problemlos!)

Wir brauchen dringend medizinischen Rat und versuchen es noch einmal bei der Hausärztin. Ich erkläre die Situation. Es ist möglicherweise tödlich, so dringend hat das Krankenhaus H. es gemacht.

„Wir brauchen Hilfe.“

„Leider…. Wir können da nichts machen.

Frau Hausärztin ist völlig überlastet. In nächster Zeit keinen Termin.“

Was ist zu tun?

Ich rufe die Krankenkasse an. Dort sind wir seit über 40 Jahren Mitglied. Man empfiehlt uns eine Neurologin in Dachau. Die sei spezialisiert für solche Dinge.

Wir sind keine Arztgänger, kennen also keine Alternative. Nun sind schon zwei Wochen vergangen und niemand ist da, der uns informieren kann.

In Dachau wartet Dietlinde 40 Minuten, dann hat sie das Gespräch. Ich warte im Halteverbot draußen. In Dachaus Innenstadt gibt es keine freien Parkplätze.

10 Minuten später ist das Gespräch beendet.

Keine Hilfe. Die Dame hat keine Ahnung, was sie ihr sagen soll, bzw. wie sie helfen könnte.

Wir haben Angst. Dringend…

Und sofort…

Am nächsten Tag rufe ich die Ärztin in Dachau an. Ob sie jemanden anderen kennt, der uns aufklären könnte? „Nein. Leider… Bitte vergessen Sie nicht, mir den Krankenschein zu schicken.“

Was sind das für Ärzte?

Ein Wutanfall hilft da nicht. Das hat Dietlinde mir schon vor langer Zeit beigebracht.

Aus lauter Verzweiflung rufe ich gute Freunde in Israel an und erzähle einfach von der Leber weg. Helfen werden sie wohl auch nicht können.

Aber doch. Sie kennen in München jemanden, der jemanden kennt, der weiß, wer helfen könnte.

Ein Prof. Dr. D. ruft am nächsten Tag bei uns an.

„Rufen Sie Frau Prof. Dr. E. an. Machen Sie einen Termin und sagen, dass ich Sie schicke.“

Prompt.

Wir bekommen umgehend einen Termin. Die Praxis von Frau Prof. Dr. E. ist in der Innenstadt.

Nur für Privatpatienten. Egal.

Ich recherchiere: Frau Prof. Dr. E. ist Chefärztin der Klinik in F. und hat für uns Zeit.

Sie schafft es in kurzer Zeit, uns die schlimmsten Ängste zu nehmen. Sie erklärt die Situation, wir beruhigen uns und begreifen allmählich, was mit Dietlinde geschehen ist.

Wir lassen ihr die Kopfbilder da, die im H. gemacht worden sind.

Anderntags haben wir schon wieder einen Termin:

„Es gibt keine Alternativen. Sie sollten in ein gutes Krankenhaus gehen und die Punktierung machen lassen. Wir müssen wissen, was da „raumfordert“, sonst kann keinerlei Therapie erfolgen.“

Sie hat uns zwar die Ängste genommen, aber im Grunde das Gleiche gesagt, wie drei Wochen vorher die im H.

Jetzt ist der Druck weg. Und so eilig sei das nun auch wieder nicht.

Na bitte.

Frau Prof. Dr. E. versucht, im Krankenhaus G. einen Termin für Dietlinde zu bekommen. Die seien die Besten.

Keine Chance.

Also ein anderes Krankenhaus R.

Da war sie vorher als Chefärztin der Neurochirurgie.

Nach vierwöchiger Irrfahrt durch die medizinischen Täler, verbunden mit tiefgreifenden Ängsten, sind wir in

der Realität angekommen.

Dietlinde bekommt einen Termin und ein Bett im R.

Sowohl Dietlinde, als auch ich haben dort schon gute bis sehr gute Erfahrungen gemacht.

In diesem Krankenhaus haben sich die Chirurgen, die Neurologen und die Strahlenärzte zu einem Kopfzentrum zusammengeschlossen.

Wir fügen uns.

Es ist wie es ist.

Das wird schon wieder.

22. und 23. November

Vorbereitung für die stationäre Aufnahme, Untersuchungen.

Neue Bilder vom Kopf. Blutabnahme. EKG.

„Kommen Sie bitte am 24.11. noch mal. Wir machen dann die Schlussuntersuchungen. Sie müssen keine Angst haben, hier werden solche Operationen täglich mehrfach durchgeführt.“

Die Ärzte des Kopfzentrums haben sich entschlossen, gleich eine richtige Operation zu machen.

„Beim Punktieren wird auch der Kopf geöffnet.

Und sollte sich herausstellen, dass man operieren kann, müsste man den Kopf noch einmal öffnen. Also warum dann nicht gleich richtig.“

Wir sehen das ein.

„Am 24.11. müssen Sie dann noch einige Formulare unterschreiben. Dann übernachten Sie und werden am nächsten Morgen operiert. „

„Kann sie über Nacht nicht noch mal nach Hause?“

„Das ist nicht möglich.“

„Bitte.“

24. November

Wir sind um 9 Uhr in der Aufnahme. Dann zur Neurochirurgie.

Man verirrt sich in diesem Fuchsbau.

Während eines Aufklärungsgesprächs werden wir über die Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt:

„Wichtig: Sie müssen unterschreiben, dass die Verantwortung bei Ihnen liegt. Wir machen, was wir können, aber die Verantwortung liegt bei Ihnen.“

Wir sind bestürzt.

Was da alles schief gehen kann.

Vom Nichtmehraufwachen bis zur totalen Blödheit fürs Leben. Mir wird übel vor Angst.

Dietlinde zittert.

Ob wir es nicht doch lassen sollen?

„Keine Sorge. Wir müssen Ihnen das zwar alles sagen, aber unsere Chirurgen machen das täglich.“

Uns wird alles genau erklärt:

„Die Kopfhaut wird von oben bis fast zum Nacken hinten ca. 25 cm aufgeschnitten und zur Seite geklappt. Dann wird ein ca. 3 cm großes Stück Knochen so herausgefräst, dass man es hinterher wieder einsetzen kann.

Wir haben 2 Stellen ziemlich weit außen gefunden. Beide Stellen können durch dieses eine Loch erreicht und die Tumore entfernt werden. Da die Stellen nahe am Sprachzentrum liegen, ist es daher möglich, dass die Sprachstörungen erst einmal größer werden. Die Knochenplatte wird zurückgesetzt und mit kleinen Schrauben fixiert. Die Schrauben bleiben drin. Die Kopfhaut wird wieder zusammengezogen und vernäht. Nach ein paar Tagen werden die Fäden gezogen und Sie haben es überstanden.“

„Nun denn, welche Alternative haben wir?“

„Keine.“

Wir rennen den ganzen Tag in diesem riesigen Labyrinth herum, von Abteilung zu Abteilung und sind abends völlig geschafft wieder zu Hause.

Noch eine Nacht im eigenen Bett.

Und dann?

Wir halten uns aneinander fest.

„Lass mich nicht allein!“

„Ich komme doch mit und bleibe da.“

„Ich habe schreckliche Angst.“

„Ich auch. Aber wir müssen wissen, was da in Deinem Kopf ist.“

„Ja, ich weiß.“

Der Operateur lässt sich nicht blicken. Ihm scheint es egal zu sein, wen er da operiert.

Uns wäre es ein Trost gewesen.

25. November

Pünktlich um 8 Uhr sind wir auf der Station. Dietlinde erhält ein Bett in einem Einzelzimmer.

Hinlegen.

Nachthemd hinten offen.

Wie gehabt.

Wir warten und haben Angst.

Nichts passiert.

„Wir brauchen noch mal Urin.“

Blut wird abgezapft.

Warten.

Eine Schwester steckt den Kopf durch die Tür:

„Vor Ihnen ist noch ein anderer dran. Es wird noch dauern.“ Warten.

Dietlinde weint.

„Das wird schon. Wirst sehen.“

„Lass mich nicht allein.“

„Ich bin hier und bleibe bei Dir.“ Warten.

Es ist schrecklich.

Mittags wird sie endlich für die OP vorbereitet.

Dem Operateur scheint es wirklich egal zu sein, wen er da operiert. Er erscheint nicht. So etwas sollte kein Arzt tun.

Wir halten uns an den Händen.

Die Spritze wird gesetzt. Dietlinde wird ruhig und dämmert bereits, während sie rausgefahren wird.

„Kommen Sie am späten Nachmittag wieder.

Hier zu warten hilft niemandem.“

Dietlinde liegt auf der Intensivstation der HNO Klinik. Woanders war kein Platz.

Man muss klingeln.

„Frau Dietlinde Majewski soll hier liegen.“

„Ja, sie schläft, aber sie ist stabil. Es ist alles gut gegangen. Keine Komplikationen.“

„Kann ich bleiben?“

„Ja, sehr gern. Sie können ihr beim Aufwachen besser helfen, als wir. Wenn sie ein ihr bekanntes Gesicht sieht, wird es leichter.“

Dietlinde hat einen dicken Verband um den Kopf. Wieder ist sie umgeben von Schläuchen, Kabeln, zischenden und piepsenden Maschinen.

 

Ein Häufchen Elend. Erbarmungswürdig.

Die Schwester ist sehr freundlich. Sie erklärt mir, dass man Dietlinde jede Stunde wecken wird, um sie ins Leben zurückzuholen. Hart. Aber wohl nötig.

„Frau Majewski.“

Sie streichelt ihre Wange.

„Aufwachen.“

Dietlinde öffnet die Augen. Völlig verständnislose Blicke. Sie schließt sie gleich wieder.

„Frau Majewski, nicht schlafen. Aufwachen.“

Das Bett wird so eingestellt, dass sie mehr sitzt als liegt. Sie blickt mich an. Kein Erkennen.

„Hallo, aufwachen. Wie heißen Sie?“ Nichts.

Eine Stunde später: „Frau Majewski. Aufwachen.“

Die Augen bleiben offen. Ich halte ihre Hand. Sie blickt

mich an. Die Hand zuckt.

„Du bist wach. Die Operation ist gut gegangen.“

„Wie heißen Sie. Sagen Sie bitte etwas.“

Dietlinde stöhnt.

„Sie heißen Dietlinde Majewski. Wie heißen Sie?“

„ Dielline Maje.. Maje…“ Immerhin.

„Erkennst Du mich. „

Die Hand zuckt wieder. „Ja“ Ein Hauch nur.

Nächste Stunde: „Frau Majewski, aufwachen. Wie heißen Sie?“ „Dietlinde Ma .. Ma…Majewski.“

Toll. Sie kommt zu sich.

Ich habe Tränen in den Augen.

„Wie viele Finger sehen Sie?“

So geht das Stunde um Stunde.

Nach vielen Weckversuchen, beginnt Dietlinde zu begreifen.

Sie blickt mich an und beginnt zu weinen.

Sie schluchzt, bebt am ganzen Körper.

„Weg…. Weg…“

„Was ist weg?“

„Weg… Weg… Alles weg…“

Nach mehrmaligen, weiteren Wecken begreife ich langsam, dass sie sich nicht erinnern kann. Dass sie die Worte nicht finden kann. Sie weiß nicht, was war und wo sie ist.

Nach jedem Wecken herzzerreißendes Weinen.

Wimmern.

Dann lässt man sie schlafen.

Dieser traumatisierende Prozess scheint normal zu sein.

Sie soll den ganzen Tag und die Nacht schlafen und dann auf die Station verlegt werden, sollte es keine Komplikationen geben.

Ich bin völlig ausgebrannt.

Auch mir fehlen die Worte.

27. November

Sie ist auf der Normalstation. Keine Komplikationen. Die Maschinen sind bis auf einen Tropf weg.

Sie schläft.

Als sie aufwacht, erkennt sie mich sofort und beginnt wieder zu weinen. Heult richtig auf.

Das ganze kleine Frauchen bebt.

„Alles weg. Weg… Ich weiß nicht, wer ich bin? Wo bin ich?“

Das ganze Bett zittert.

Sie liegt mir, bis ins Mark erschüttert, in den Armen.

Erschöpftes Schlafen. Erschütterndes Weinen.

„Oh Gott. Alles weg.“

Ich weine mit.

Essen geht nicht. Wir müssen weinen.

Die Mitpatienten sind mir egal. Ich halte sie, wiege sie.

„Weine, weine nur.“

Sie ist traumatisiert und ihre Seele ist verstört.

Abends ist sie völlig erschöpft, aber überdreht. Ich bitte um eine Tablette. Tavor wird helfen, dass sie schläft.

28. November

Ich darf erst nachmittags kommen. Untersuchungen und so.

Gegen 17 Uhr husche ich ins Zimmer.

Sie schläft.

Sie hängt noch immer am Tropf.

Auf dem Nachtkästchen liegt die Schachtel für die Medikamente. Morgens, mittags, abends.

Leer!

Wieso leer?

Schwester G. geht von Bett zu Bett.

„Bekommt meine Frau ihre Medizin durch den Tropf?“ Schwester G. schaut erstaunt.

„Wieso? Nein, das ist nur Kochsalzlösung.“

„Ja, aber die Medikamentenfächer in der Schachtel sind leer.“

G. schaut auf das Krankenblatt.

„Hier steht: Patientin nimmt ihre eigenen Medikamente.“

„Bitte, was tut sie?“

„Sehen Sie selbst. Hier steht…“ Tatsächlich.

Mir krampft sich alles zusammen. Ich packe Schwester

G. am Arm und zerre sie aus dem Zimmer.

„Sind Sie irre? Meine Frau bekommt jetzt fast seit zwei Tagen keinerlei Medikamente?“

„So wie es hier steht. Nein.“

„Kein Schmerzmittel, nichts?“

„Nein.“

„Schwester, meine Frau wurde vorgestern am Kopf

operiert. Sie ist gerade aus der Intensivstation gekommen. Sie ist geistig nicht da und sie ist nur bedingt ansprechbar, geschweige denn, dass sie selbst etwas sagen kann. Sie weiß nicht wo sie ist.

Und wenn sie wach ist, weint sie. Haben Sie mal versucht, mit ihr zu reden?“

„Nein. Ich habe erst seit heute hier Dienst.“

„Schwester, versuchen Sie zu begreifen: Wie kann eine Patientin ihre Tabletten selbst nehmen, wenn sie geistig verwirrt ist?“

„Ja, aber hier steht doch…“

„Benutzen Sie Ihren Kopf! Das ist doch Wahnsinn, was hier geschieht.“

Sie will weg. Ich halte sie auf.

„Sie gehen jetzt sofort und holen den Stationsarzt. „

„Ja, aber meine Arbeit…“

„Ihre Arbeit ist jetzt, den Stationsarzt zu holen.

Jetzt sofort!“

Ein paar Minuten später steht der Arzt vor mir. Ich erkläre die Lage. Er schüttelt den Kopf und begreift, dass da etwas völlig schiefgelaufen ist, besorgt sämtliche Medikamente, die nach einer Kopfoperation nötig sind.

Schmerzmittel, Cortison, Tabletten gegen Epilepsie.

Das Schächtelchen füllt sich.

„So und jetzt gebe ich Ihnen die einzigen Tabletten, die meine Frau mitgebracht hat. Ursofalk. Für die Leber. Die haben nun aber gar nichts mit der Operation zu tun.

Trotzdem hätte man wissen können, dass man sie vorn aus der Handtasche meiner Frau nehmen soll, denn das habe ich auf der Intensivstation der Schwester gesagt.“

Dietlinde bekommt nach 2 Tagen endlich Medikamente. Sie wird ruhiger. Das Schluchzen bleibt. Abends wieder Tavor.

Mir sagt man, dass das keine Schlaftabletten seien, sondern ein Beruhigungsmittel, dass die Psyche beeinflusst. Also Psychopharmaka.

Und immer noch kein Operateur.

Was für eine menschliche und medizinische Katastrophe, dass sich ein Patient vollständig in die Hände eines sogenannten Chirurgen begeben muss, den man nie kennengelernt hat und der sich nicht im Geringsten um den Menschen und sein Wohlergehen nach einem solch schweren Eingriff interessiert. Das „Trauma“ einer solchen Operation wäre weit weniger schlimm, gäbe es eine medizinisch-psychische Betreuung.

Aber dafür ist wohl keine Zeit.

29. November

8 Uhr. Dietlinde ist wach und trinkt Tee.

Das Medikamentenschächtelchen ist voller bunter Tabletten. Der Tropf ist noch da, aber sie will aufstehen.

Zur Toilette und zurück.

Schlafen. Weinen.

Mittags etwas Kartoffelbrei mit Gemüse.

„Machen Sie bitte den Tropf ab.“

Dauernd sind andere Pflegedienste da. Wie können die sich richtig um ihre Patienten kümmern, wenn sie sie gar nicht kennen, weil sie ständig die Stationen wechseln? „

„Dein Erinnerungsvermögen wird schon wieder kommen. Das Sprechen wird auch besser.

Du wirst sehen. Hab Geduld.“

Weinen. Schlafen.

30. November

8 Uhr. Kein Tablettenschächtelchen.

„Schwester… Wieso…?“

„Ich bin nicht zuständig.“

„Wer ist denn zuständig?“

„Der Pfleger da in blau.“

„Hallo, bitte, wo sind die Tabletten für meine Frau.“

„Wer ist Ihre Frau?“

„Frau Majewski, Zimmer 617.

„Verstohlen greift der Pfleger in seine Tasche. Er hat die Tablettenschachtel bei sich. Sie guckt aus der Seitentasche heraus. Er hüstelt:

„Ich wollte mich besonders darum kümmern und habe sie deshalb in meine Tasche gesteckt, aber dann leider vergessen. Es tut mir leid.“

Offensichtlich habe ich einen derartigen Wirbel gemacht, dass man besonders fürsorglich sein wollte. Dadurch gerät aber die Routine durcheinander. Und wenn die Routine durcheinanderkommt, passieren noch mehr Fehler.

Ich erkenne, dass hier die Rädchen nicht ineinandergreifen. Sie laufen nebeneinander. Jeder macht seine Arbeit. Ob gut oder schlecht.

Das Personal wechselt ständig, keiner weiß vom Anderen, was er tut. Keiner kennt die Patienten. Was auf dem Papier steht wird nicht hinterfragt.

Alles ist ja vorgeschrieben.

Das gesamte System funktioniert in Routinen. Die Abläufe liegen fest. Es gibt zu wenig Personal. Jeder macht das, was ihm aufgetragen wird.

Wenn ein Patient geistig eingeschränkt ist und nicht innerhalb der Routinen mithalten kann, kann er schnell in diesem System verloren gehen.

Er braucht Hilfe, um darin zu bleiben.

Wenn ich die nebeneinander herlaufenden Rädchen durch geäußerten Unmut noch weiter auseinandertreibe, geht überhaupt nichts mehr.

Also nicht schimpfen, sondern koordinieren. Ich kann das System nicht ändern.

Ich möchte, dass Dietlinde alles bekommt, was sie braucht. Das geht nur mit Freundlichkeit und Geduld. Denn bösartig ist hier keiner.

„Bemühen Sie sich nicht. Ich gebe ihr die Tabletten selbst. Aber bitte morgen wieder aufs Nachtkästchen legen.“

Er ist erleichtert und ich habe etwas gelernt.

2. Dezember

Die Visite kommt. Drei junge Assistenzärzte bauen sich vor Dietlindes Bett auf.

Ich hatte gehofft, endlich den Operateur kennen zu lernen. Er lässt sich nicht blicken. Ein jugendlicher Assistenzarzt beginnt zu dozieren.

Wichtig, wichtig: „Ja, also die Ergebnisse des Labors liegen nun vor, liebe Frau Majewski, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Es wurden keine Metastasen gefunden.

Sie hatten einen Hirntumor mit Namen Glioblastom, den wir gänzlich entfernen konnten. Es waren zwei Stellen, dicht beieinander, so dass wir die Entfernung beider Tumore gleichzeitig vornehmen konnten. Es handelt sich um ein Glioblastom der Stufe III. Damit können Sie 100 Jahre alt werden. Jetzt auf jeden Fall.“ Seine Kollegen nicken eifrig.

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