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Musst Du schon gehen?

- Diagnose: Glioblastom -

Dietlinde Majewski 12.9.1946 – 11.11.2010

© 2018 Bernd Majewski

Druck und Verlag: epubli GmbH

www.epubli.de ISBN:

auch als e-book erhältlich

Skulpuren: Dietlinde Majewski

Cover: Christian Majewski

Lektorat: Annette Stroux

Textkorrektur: Elke Majewski

Das Buch:

Dietlinde Majewski erkrankte mit 63 an einem schweren Gehirntumor (Glioblastom WHO IV), für den die Heilungsaussichten nahezu null sind. Die Zeit, die Erkrankten bleibt, ist in dem meisten Fällen etwa ein Jahr und denkbar wenig für alle Beteiligten, um zu begreifen, zu entscheiden, zu handeln und gemeinsam das Beste aus dieser wenigen Zeit zu machen.

Dietlinde und Bernd waren über 40 Jahre verheiratet, haben ihr gemeinsames Leben intensiv genutzt und ihre Ehe mit Haus, Reisen und Kindern sehr lebendig gestaltet. Der Zusammenhalt nahm immer eine wichtige Rolle ein und wurde durch diesen Schicksalsschlag besonders wertvoll.

Bernd gibt in diesem Buch eine Vorstellung des gemeinsamen Lebensweges und beschreibt dann tagebuchartig den Verlauf seit Dietlindes erstem durch den Krebs verursachten Anfall bis zu ihrem Tod. Die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man von einer Erkrankung wie dieser überfallen wird und sich orientieren muss, sind enorm; die Komplexität, die immer weiter zunimmt, je weiter man die medizinischen Details erfasst; die schwierige Kommunikation mit Ärzten und medizinischem Personal, bis man sich in dieser Situation zurecht gefunden und persönlich passende Ansprechpartner gefunden hat. All dies lässt einen atemlos hinter einer Entwicklung herjagen, die durch die unglaubliche Geschwindigkeit des Krankheitsverlaufes unerbittlich bestimmt wird. Hat man die eine Situation gelöst, so wartet schon die nächste Herausforderung und immer ist man mit neuen Situationen, komplizierten Fachbegriffen und Entscheidungen konfrontiert, mit denen man sich noch nie beschäftigt und von denen man nicht die leiseste Ahnung hat. Sicher, die Endlichkeit des Lebens ist gewiss, aber wäre es gut für ein glückliches Leben, sich auf jedes erdenkliche Ende vorzubereiten und bei bester Gesundheit schon mal Spezialisten kennenzulernen und Ärztehäuser ausfindig zu machen, anstatt mit den Kindern und Hund eine Alpenwanderung zu unternehmen? Auf ein solch spezielles Ereignis bereitet sich niemand freiwillig vor und so ist die Unwissenheit und Überraschung ständiger Begleiter auf diesem Weg.

Bernd Majewskis Anliegen dieses Buch zu veröffentlichen ist es, Menschen in einer ähnlichen Situation eine Vorstellung davon zu geben, was kommen kann Er möchte Inspiration bieten, diese letzten Monate mit Zusammenhalt, gemeinsamer achtsamer Zeit zu verbringen und den inneren Kompass für die anstehenden Entscheidungen so auszurichten, dass das, was menschlich wichtig ist, immer im Vordergrund steht. Die Gewichtung der Bedürfnisse und die individuellen Rollen der Familie oder der Angehörigen hat sich verschoben und Aufgaben haben sich auf verschiedene Schultern verteilt, immer im Blick das seelische Wohlergehen und die Wünsche der Erkrankten, so die Bemühungen um den Körper bald an Wichtigkeit verlieren und die Natur sich ihren Weg bahnt. Es ist ein Kampf, aber doch auch keiner. Ein Kampf mit dem Begreifen, dem schnellen Reagieren im medizinischen System und mit den eigenen Kräften, aber ein Mitgehen mit dem, was unausweichlich geschieht und sich nicht ändern lässt.

Bernd Majewski, Jahrgang 1943, ist selbständiger Kaufmann und war 40 Jahre lang mit seiner Frau Dietlinde glücklich verheiratet. Dietlinde starb 2010 an einem Hirntumor. Bernd hat zwei erwachsene Kinder. Dietlinde und Bernd reisten viel. Sie haben viele ihrer Reisen, meist mit dem VWBus, dokumentiert, begannen aber erst 2006 Reiseberichte als Bücher zu veröffentlichen. www.epubli.de. Bernd lebt in Ismaning. Er ist dort auch seit fast 40 Jahren ehrenamtlich tätig.

Eine geliebte Person wird sterben

Einer geliebten Person beim Sterben zu „helfen“, ist schwer. Es nicht zu tun, es anderen zu überlassen, ist sehr viel schwerer. Es belastet ein Leben lang.

Mit diesem Buch möchte ich den Ablauf der Ereignisse bis zum Tod meiner Frau Dietlinde beschreiben. Ich will den Versuch machen, Menschen zu helfen, mit einem derartigen Schicksalsschlag etwas besser umgehen zu können.

Ich will nichts beschönigen, sondern auf sehr persönliche und sehr subjektive Weise darlegen, wie man dafür sorgen kann, dass die oder der Kranke, trotz Widrigkeiten des deutschen Krankenhaussystems, möglichst stressfrei „gehen“ kann.

Wir alle haben Angst davor. Aber da müssen wir durch, ob wir wollen oder nicht.

Das Buch möchte auch darstellen, dass der betroffene Partner, bzw. die Familie Verantwortung übernehmen muss. Die Familie darf sich nicht wegducken und auf andere zeigen, sondern muss akzeptieren, dass die Mutter, die Frau, der Sohn oder die Tochter alle Zuwendung brauchen, derer wir fähig sind.

Wir sind als Familie damals zusammengerückt. Dieses Zusammenrücken machte es uns möglich, dass die unabdingbare Zuwendung geteilt werden konnte. Was ich gerade nicht zu leisten in der Lage war, übernahmen unser Sohn oder unsere Tochter.

Außenstehende, auch Ärzte konnten das unmöglich übernehmen. Nur wir selbst waren dazu in der Lage.

Hinschauen, akzeptieren und verantwortlich und vorausschauend zu handeln, half, viele Probleme auf dem Weg zum Tod zu lösen.

Ohne Liebe, Vertrauen und echte Partnerschaft fällt ein

solcher Schicksalsschlag noch viel schwerer.

Deshalb möchte ich auch über unsere Ehe erzählen.

Schließlich soll dieses Buch auch zeigen, dass das Leben für einen selbst weitergeht. Es gilt, Perspektiven zu erarbeiten und zu erkennen, dass zwar ein wichtiger Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist, dass aber ein Leben nach dem Tode des Familienmitglieds möglich und notwendig ist. Auch das ist man der/dem Verstorbenen schuldig.

Dietlinde und ich

1970 heirateten Dietlinde und ich. Drei Jahre zuvor hatte ich noch keine Ahnung, dass es sie gab.

Ich wohnte wieder bei meinen Eltern und studierte BWL. Die Situation zwischen mir und meinen Eltern war mehr als belastend.

Ich hatte einen Freund, Günter, mit einem unglaublich ausgleichenden Gemüt.

Für mich war das ein Labsal, so etwas gab es bei uns nicht. Im Hause Majewski herrschte Spannung. Druck. Es knisterte beständig. Man hätte Birnen damit zum Glühen bringen können.

Sobald Günter das Haus betrat, wurde es ruhig. Entspannung. Kein Stress mehr. Ausatmen. Allein durch seine Anwesenheit. Er brauchte gar nicht viel zu sagen.

Eines Tages sagte meine Mutter: „Ach, wenn er doch nur eine Schwester hätte.“

Er hatte.

Wusste ich aber nicht.

Nach dem Studium arbeitete Günter in Bremen. Ich war in Gütersloh bei Bertelsmann.

Irgendwann bekam ich einen Anruf von Günter:

„Ich möchte wieder zurück nach Stuttgart. Kannst du mir beim Umzug helfen?“

Natürlich konnte ich.

Er hatte eine kleine Wohnung im Souterrain.

Als ich die Treppe runter stieg, stand da plötzlich ein 156 cm kleines, schlankes und zierliches Persönchen vor der Eingangstür der Wohnung.

Große Augen strahlten mich an.

Geschminkt. Lange Finger mit lackierten Fingernägeln. Minirock. So gar nicht meine Welt.

„Hallo, ich bin Dietlinde.“

„Ich heiße Bernd.“

„Das ist meine Schwester. Sie kommt aus Stuttgart und hilft uns auch.“

Liebe auf den ersten Blick! Und das blieb dann auch so.

Ich war verzaubert. Und auch das blieb so.

40 Jahre lang.

Physische Schönheit ist vergänglich. Schönheit der Seele nicht.

Ich sah Sie. Nicht die Schminke.

Es folgten eineinhalb Jahre Wochenendfahrten Gütersloh - Stuttgart. Zwei Autos gingen dabei drauf. Es waren ältere Modelle.

Um die Wege abzukürzen, bewarb ich mich in Stuttgart. Aber niemand wollte mich. So zog ich mit der Plattenfirma von Gütersloh nach München.

Jetzt waren es nur noch 220 Kilometer.

Noch mal eineinhalb Jahre Freitag abends hin, Montag früh zurück.

Dietlinde war Friseurmeisterin und hatte ein eigenes Geschäft. Da das aber aus räumlichen Gründen nicht ausbaufähig war, verdiente sie gerade so viel, wie eine Angestellte. Und das bei doppelter Arbeitszeit.

Es zeigte sich bald, dass sie über ähnlich ausgleichende, beruhigende Eigenschaften verfügte, wie ihr Bruder. Allerdings mit einem Unterschied: Irgendwann war Schluss mit ihrer Geduld. Bis hierhin und nicht weiter.

Dann konnte sie beinhart werden.

Wir bezogen eine 3 Zimmerwohnung in Ismaning. Erdgeschoss.

Die Vermieter schlichen ums Haus und schauten ins Fenster. Uns war klar, dass wir das nicht lange aushalten würden. Wir wichen ins Grüne aus, sobald es irgend ging.

Während des Hochzeitsurlaubs in der Kelchsau, Österreich, verliebten wir uns die das Tal und wollten dort eine Hütte bauen.

Es gelang. Ein 200 Jahre altes Heustadl wollte zur Hütte ausgebaut werden.

Wir hatten zwar keine Ahnung, was Nut- und Federbretter sind, oder wie man einen Kamin baut, das brachte uns aber ein Schreinerfreund unter der Woche bei. Am Wochenende wurde gebaut.

Am Anfang schleppten wir die Sachen mit einem Renault 4 ran. Später dann mit einem VW Bus.

 

Der wurde auch gleich mit Schwiegervaters Hilfe ausgebaut.

Jetzt hatten wir zusätzlich eine mobile Hütte und konnten uns die schönsten Plätze aussuchen.

Dietlinde war mit der Entscheidung, Friseurin werden zu müssen, nicht glücklich. Ihre Eltern fanden, dass ein Mädchen nicht studieren müsse.

Da ich genug verdiente, konnte sie sich einen lange erwünschten künstlerischen Beruf aussuchen. Sie entschied sich, eine Töpferlehre zu machen.

Schon während ihrer Lehrzeit richteten wir eine Werkstatt in einer ehemaligen Papierfabrik ein.

Wir begannen zu reisen. Nicht irgendwohin, um dort mit den Beinen im Wasser zu planschen oder der Sonne zu frönen.

Es war pure Neugierde.

Unser Schreinerfreund arbeitete, um zu reisen. Er drehte Filme, die wir regelmäßig verschlangen.

Das wollten wir auch.

Wir waren neugierig auf alte Kulturen, neugierig auf andere Menschen, andere Länder.

Unsere Sicht der Dinge begannen sich zu ändern. Wir hinterfragten unsere Ansichten.

Wir merkten immer wieder, dass man zum Glücklichsein offensichtlich nicht einmal Geld braucht:

Etwa auf dem Marktplatz von Erzurum am Ararat.

30 Schuhputzer saßen mit blitzenden und reich verzierten Schuhbänken fröhlich plaudernd und teetrinkend rund um den Marktplatz – ohne auch nur einen einzigen Kunden zu haben.

Inmitten der Sahara bei einem kleinen Beduinenvölkchen in einer von allem abgeschiedenen Oase, die glücklich und zufrieden mit dem lebten, was dort zu haben ist.

In Südtansania, als wir von den sich selbst versorgenden Dorfbewohnern mit einer fröhlichen Herzlichkeit und unbekümmerter Offenheit begrüßt wurden.

Als wir einmal aus Persien kommend an der deutsch-österreichischen Grenze mit dem Hinweis und überaus strengem Blick aufgehalten wurden, wir hätten einen Lichtschaden, ein Scheinwerfer sei kaputt, schauten wir uns an: „ Hat der sie nicht noch alle? Ist das tatsächlich so wichtig?“

Unser Blickwinkel erweiterte sich. Wir hinterfragten immer häufiger, was in aller Welt wir so treiben.

Wir wurden demütig und lernten, mit dem zufrieden zu sein, was wir hatten.

Das war mal mehr, mal weniger. Provisionen schwanken. Aufträge auch.

Dann essen wir eben mal zwei Wochen lang Kohlsuppe. Was soll´s. Ist das denn wichtig?

Erst reisten wir mit und im Renault 4, später im VW Bus.

Wenn man im Renault 4 unterwegs ist und in diesem Auto auch noch schläft – ja, das geht wirklich - dann lernt man sich nicht nur kennen, sondern auch riechen. Wir rochen uns gern.

Beide gingen wir davon aus, dass Dietlinde keine Kinder bekommen könne. Welch ein Irrtum. Unverhofft kam Christian zur Welt. Drei Jahre später gesellte sich Elke dazu.

Jetzt begannen wir, nach einer „richtigen“ Bleibe zu suchen.

Ein altes, kaputtes Haus, das wir herrichten können, sollte es sein. Geld war ja fast keins da. Rund ums Haus sollte man gehen können.

Hochkantwohnen auf der Treppe eines 3stöckigen Reihenhauses kam nicht in Frage. Die Werkstatt im Keller, schon gar nicht. Ein Haus kaufen und 30 Jahre abbezahlen, erst recht nicht.

Unsere Suche dauerte 6 Jahre. Per Fuß, Fahrrad, Auto. Wir klapperten mit unserem Irischen Setter, Andi, die gesamte Umgebung Ismanings ab.

Wenn man 6 Jahre lang sucht, weiß man genau, was man will.

Die Gemeinde Ismanings besaß in den Isarauen ein heruntergekommenes, seit Jahren leerstehendes, altes Wasserwerk und wusste nichts damit anzufangen.

Wir schon. Und wie!

Wir vereinbarten einen 20 Jahre dauernden Mietvertrag mit Option auf Verlängerung und legten los.

Es war vereinbart, dass wir alle Kosten selbst tragen müssen. Dafür wurde so gut wie keine Miete fällig.

Das Haus war nicht bewohnbar.

Aber nicht für uns.

Nach einem halben Jahr waren wir drin. Zwar beileibe nicht fertig, aber drin.

Wann kommt es schon vor, dass ein Ehemann seine Angetraute über die Schwelle einer Schrottimmobilie trägt und beide überglücklich sind?

Zuerst war die Werkstatt im Haus selbst untergebracht. Dietlinde konnte arbeiten und sich um die Kinder kümmern. Ich düste draußen herum und verkaufte Leuten Dinge, von denen sie glaubten, sie zu brauchen. Wenn ich abends zu Hause war, kümmerte ich mich um Haus und Hof.

Auf dem Grundstück befindet sich noch ein zweites kleineres Haus. Das war noch ein funktionierendes halbautomatisches Wasserwerk.

Als in Ismaning die Ruhr ausbrach und dreitausend Menschen krank wurden, behauptete man, wir seien angeblich die Ursache. Man wollte uns sofort aus dem Haus werfen, suchte uns bundesweit mit Haftbefehl.

Wir veranstalteten gerade eine Ausstellung in Wilhelmshafen.

Sie wurde geschlossen. Die Besucher nach Hause geschickt.

Wir wurden kurzfristig verhaftet.

Völlig überzogene und unsinnige Maßnahmen.

Wir waren vorher in Israel zum Tauchen. Wegen der Hitze und der damals noch überirdisch verlaufenen Trinkwasser-leitungen, erkrankten wir an der Ruhr. Das ist dort keine große Sache. Es kam oft vor. Wir wussten das.

Ein Woche Scheißerei, Tee oder Cola trinken und fertig.

Aber die Gemeinde Ismaning hatte es „geschafft“, unsere Sickergrube – das Haus ist nicht an die Kanalisation angeschlossen – mit der Trinkwasserversorgung Ismanings kurzzuschließen.

Päng!

Schnell wurde festgestellt, dass man das Oberflächengrundwasser schon der Bauern wegen, nicht mehr trinken sollte. Der von ihnen ausgebrachte Odel sickerte damals innerhalb von einer halben Stunde ins Grundwasser.

Das halbautomatische Wasserwerk musste geschlossen werden, Ismaning baute ein neues. Und für uns eine neue Sickergrube.

Weit, weit weg von uns.

Unserem Anwalt gelang es, sich gegen die Gemeinde, alle Krankenkassen und Versicherungen zu wehren. Man wollte natürlich sofort über uns herfallen.

Als sich alles langsam wieder beruhigt hatte, konnten wir den Bürgermeister überreden, das nun leerstehende Wasserwerk-Gebäude auch noch an uns zu vermieten.

Nun begann erneut das Ausbauen. Maschinen raus. Werkstatt rein. Dietlinde hatte nun eine ca. 85 qm große Werkstatt, getrennt vom Wohnhaus.

Für Aufträge und Ausstellungen, die wir bundesweit für sie organisierten, wollte und musste sie mehr arbeiten.

Oft zog sie sich auch übers Wochenende in ihr Refugium zurück. Sie wollte, durfte nicht gestört werden.

Ich habe ihr einmal, ein einziges Mal versucht reinzureden. Das wurde so klar und deutlich fürs ganze Leben abgeschmettert, dass ich es nicht einmal gewagt habe, mich auf die Drehscheibe zu setzen.

Dieser Platz gehörte ihr allein. Punkt.

Wenn sie die Wochenenden durcharbeitete, lernte ich, mich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Kochen, waschen putzen. Alles, was Dietlinde bisher fast allein tun musste.

Dietlinde war mit ihrer Werkstatt selbständig, ich als Musikverlagskaufmann noch angestellt. Das änderte sich in den 1980er Jahren mit dem Aufkommen der Musikkassetten. Die Branche implodierte und spuckte fast die Hälfte aller Mitarbeiter auf den Arbeitsmarkt.

So auch mich.

Verlagsleiter und Prokurist.

Zwei Jahre arbeitslos.

Das mir.

Die Welt brach zusammen.

Nicht für Dietlinde. Sie schaffte es, meinem beleidigten Hirn auf sanfte aber beharrliche Weise klar zu machen, dass ich verdammt noch mal eine Familie habe und Geld ins Haus kommen müsse.

Als Dipl. Kaufmann. und/oder Verlagsleiter wollte mich niemand. Überqualifiziert. Unterqualifiziert. Nebenqualifiziert. Was auch immer.

Ich habe zwei wesentliche Talente: Ich bin musisch begabt, war aber zu faul. 3. Geige 4. Pult wäre wohl nicht befriedigend für mich gewesen und vor allem auch nicht für meinen Vater. Also setzte er mich zwischen die Stühle: Ich wurde Musikverlags-Kaufmann.

So nahm ich denn meine neue Rolle als reiner Kaufmann an, nahm das Köfferchen und wurde selbständiger Handelsvertreter.

Den künstlerischen Part in unserer Ehe überließ ich Dietlinde.

Alles auf null.

Mein erster Monatscheck: 34,60 DM.

Aber: Ich merkte schnell, dass mir das Verkaufen liegt. Also änderte sich das Einkommen bald.

Und wie! Ich arbeitete ausschließlich auf Provision. Übernahm das volle Risiko.

Dietlinde war inzwischen Keramikmeisterin. Gegen Widerstände der Lehrkräfte an der Fachschule, legte sie im Fernstudium die Meisterprüfung ab.

Ihr Meisterstück, ein Kachelofen, wärmt bis heute die Werkstatt.

Schon früh wurde uns klar, dass sich Lebensängste oder Krisen am besten abbauen lassen, wenn man sich gegenseitig hilft. Auch schon bald erkannten wir, dass ein Leben zu kurz ist, um dauernd Dinge zu tun, die man nicht mag.

So ließen sich zwar keine „Karrieren“ machen, aber, aufgrund der ständigen Suche nach Gemeinsamkeiten und täglich neu zu findenden Lebenszielen, konnten wir ein intensives Leben führen.

Als wir einen Sporttauchkurs am roten Meer geschenkt bekamen, musste eine wichtige Weiche gestellt werden.

Dietlinde konnte zwar schwimmen, hatte aber vor dem Kurs noch nie ihren Kopf unter Wasser gesteckt.

Sie war überaus neugierig auf diese fremde Welt, hatte aber panische Angst.

Eine Entscheidung musste her: Gehen wir durch diese Ängste und entdecken neue Welten, oder nicht? Wenn ja, machen wir das in jedem Fall nur gemeinsam.

Tauchen ist ein derart intensiver Sport, dass man die Erlebnisse teilen können sollte. Außerdem braucht man immer einen Partner, um aufeinander aufzupassen.

Lebensqualität auf Kosten des anderen zu genießen, kann nicht funktionieren.

Wenn das also nicht beide wollen, dann lassen wir es.

Daraus wurde unser Lebensprinzip: Wichtige Dinge im Leben nur gemeinsam zu tun.

Und: sie dann im Rahmen unsere Möglichkeiten tatsächlich auch anzugehen und nicht auf 22

„St. Nimmerlein“ zu verschieben. Manches Mal ergab sich die Umsetzung nicht sogleich, aber wir arbeiteten zielstrebig daran, Wege zu finden.

Es fanden sich Wege: immer!

Das Lebensziel-Zeitkonto blieb daher fast immer leer.

Viele Jahre flogen oder fuhren wir nun zum Tauchen ans Rote Meer. Mal mit Kindern, mal ohne. Wir übernachteten in aller Regel im ‚Million Star Hotel‘ am Strand.

Dietlinde verwandelte sich Unterwasser in einen Fisch. Ausgestreckt und ruhig zog sie ihre Bahnen. Wenn meine Luftflasche nach einer Stunde leer war, hätte sie noch ohne weiteres eine halbe dranhängen können.

Wenn ich Hektiker in 20 Metern Tiefe an einem Felsen hing, weil mein Ohrendruckausgleich nicht funktionierte, umrundete sie mich mit langen, ruhigen Flossenschlägen, ihre Arme vor der Brust verschränkt und glubschte mich aus großen Taucherbrillenaugen an: „Na, Männe, was is? Kommste wieder nicht zu Potte?“, schien sie mir zu sagen.

Als Tauchen zu einem Massensport zu werden drohte, und wir zusehen mussten, wie Massen von Anfängern auf den Korallen herumtrampelten, verabschiedeten wir uns mit einem Trip auf dem Kamel durch den Sinai.

Lagerfeuer, furzende Kamele, zwei Beduinenführer, auf heißen Steinen gebackenes Fladenbrot mit Beduinentee und dann Million Star Hotel.

Wir waren glücklich.

So gingen wir Hand in Hand unseren Lebensweg.

Wir reisten viel.

Übten unsere beruflichen Fähigkeiten aus.

Zogen die Kinder groß.

Bauten die Berghütte, richteten das heruntergekommene Wasserwerk im Grünen zum Wohnen her.

Lebten dort ab Ende 1976 und bauten daran 40 Jahre lang herum. Nicht nur am Haus, sondern auch an unseren Leben.

Was Handwerker können, konnten wir zumindest auch lernen.

Abwechslungsreiche Ernährung, körperliche Bewegung und Freude am Leben sorgten für unsere Gesundheit. Von Zipperlein abgesehen, waren wir nie wirklich krank.

Dietlinde hatte sich 1999 zwar den Hals, gebrochen, als sie vom Pferd stürzte, betrachtete dies aber nicht als Krankheit, sondern überstand die Operationen und Rekonvaleszenz mit ihrem eisernen Willen.

Ehekrisen, die natürlich auch vorkamen, wurden von uns beiden hinterfragt, immer mit dem Ziel, herauszufinden, ob man gemeinsam weitergehen möchte oder nicht.

 

Wenn ja, sollten beide Partner ihren Beitrag leisten.

Wir unterstützten uns gegenseitig dabei, erwachsen und selbständiger zu werden.

Meist war ich Ursache der Krisen. Mein Vater hat mir sein cholerisches Wesen vererbt. Zwar ist meines nicht so extrem, wie seins, aber doch ausreichend, um Ärger zu produzieren.

Dietlinde verstand es von Anfang an, mich so runter vom Baum zu holen, dass kein größeres Problem für mich, für sie, für die Kinder und sogar für Freunde und Bekannte entstand.

Zumindest zwei größere Einschnitte gab es im Laufe unserer Ehe: Dietlinde war wieder mal in Tansania, wo wir eine kirchliche Partnerschaft mit Kitandililo betreuten.

Dieses Mal blieb Dietlinde länger. Sie wollte mit den Frauen Brennöfen bauen.

Das konnte dauern, da die Damen sehr an ihren Traditionen hängen.

Ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch, konnte das aber nicht definieren. Wir hatten vorher zu wenig geredet. Lebten nebeneinander her. Zuviel Routine vielleicht?

Mein Bauchgrimmen wurde stärker.

Ich brachte unsere Kinder und unseren Hund bei Freunden unter und flog hinterher.

Telefon gab es im südlichen Teil Tansanias nicht.

Ich kam überraschend.

Und richtig: Sie überlegte tatsächlich ernsthaft, dort zu bleiben.

Sie war den ewigen Druck leid. Wollte einfach mal ihre Ruhe.

Viel Reden, viel Zuwendung, viel Weinen und die Einsicht, sich mehr Mühe füreinander geben zu wollen, half uns.

Nach ein paar Monaten hatten wir sie wieder.

Das andere Mal ergab sich, während ich Verkaufsleiter beim Brockhaus Enzyklopädie-Vertrieb in Wangen wurde. Dietlinde richtete mir das Büro ein und bekam schnell mit, dass ich anfing die Bodenhaftung zu verlieren.

Meine Leute und ich verdienten 10- 20- 30.000 Mark und mehr, wenn wir gut waren. Monatlich.

Mir, wie den meisten, stieg das zu Kopf. Ich wurde arrogant, gierig und familienuntauglich.

Wieder half Reden und Nachdenken, was uns wichtig ist.

Nun lernte ich die wichtige Lektion: Geld macht nicht glücklich.

Wir wollten uns.

Wir wollten Zufriedenheit und ein gemeinsames Leben.

Nachdem unsere Kinder aus dem Hause waren, mussten wir das Miteinander neu justieren.

Mein allmählicher Rückzug aus dem Berufsleben machte es möglich, wieder größere Reisen zu planen.

Zu Fuß über die Alpen.

Mit dem Boot die Donau runter bis zum Schwarzen Meer.

Mit dem VW Camper Europas Küsten „abwandern“.

Wir hatten wieder mehr Zeit füreinander.

Im Sommer 2009 saß das etwas ältere Ehepaar, so nannten uns die Jungspunde, die wir während der Alpenüberquerung trafen, auf einer Bank am Weiher und resümierten: Es ist unglaublich, wir lieben einander inniglich.

Alle unsere Träume und Wünsche sind in Erfüllung gegangen.

Wir haben alles in die Tat umgesetzt, was uns wichtig war.

Ein erfüllteres Leben ist fast nicht möglich. Was jetzt noch kommt, ist ein Nachschlag fürs Leben.

Dietlinde kümmerte sich verstärkt um ihre ehrenamtliche Arbeit in der Partnerschaft mit Kitandililo in Südtansania.

Ich war als Vorstand mit dem Umbau der hiesigen Musikschule beschäftigt.

Bis zum Oktober 2009.

Für uns beide völlig überraschend, weil wir keinerlei Anzeichen vorher bemerkt hatten, kam der Knall: Dietlinde erlitt „aus heiterem Himmel“ epileptische Anfälle.

Paralysiert und panisch, da wir anfänglich keine medizinische Betreuung erhielten oder die wir annehmen konnten, mussten wir schließlich einer Kopfoperation zustimmen.

Die niederschmetternde Diagnose: Glioblastom, der aggressivste Tumor, den die Menschheit kennt.