Buch lesen: «Handbuch des Strafrechts», Seite 4

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14. Abschnitt: Medizinstrafrecht

Detlev Sternberg-Lieben

§ 52 Ärztliche Heilbehandlung und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit

A. Vorbemerkung1 – 9

I. Verrechtlichung der Arzt-Patienten-Beziehung1 – 3

II. Arzt-Ethik und Arzt-Strafrecht4

III. Unterschiedliche Sichtweise von Ärzten und Juristen5

IV. Arzt-Patienten-Verhältnis6

V. Eingrenzung7 – 9

1. Ärztliche Tätigkeitsfelder7

2. Weitere Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes8, 9

B. Ärztliche Heilbehandlung und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit10 – 148

I. Verfehlung des ärztlichen Standards10 – 111

1. Bewertungsmaßstab (Facharztstandard)12 – 40

a) Facharztstandard13 – 26

aa) Leitlinien und Standard15 – 23

(1) Sondernormen15

(2) Haftungsrecht und medizinischer Standard16, 17

(3) Leitlinien-Verstoß und Standard-Verfehlung18

(4) Indizielle Funktion von Richt- oder Leitlinien19, 20

(5) EU-Richtlinien21

(6) Erkenntnisverschaffungspflicht22

(7) Fazit23

bb) Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Richt- und Leitlinienersteller24

cc) Compliance-Vorgaben25, 26

b) Therapiefreiheit27 – 34

aa) Grundsatz der Therapiefreiheit27 – 30

bb) Sog. Außenseitermethoden31

cc) Nicht-Anwendung sog. Außenseitermethoden32

dd) Fernbehandlung und Digitalisierung33, 34

c) Beurteilungszeitpunkt35

d) Dynamik des Standards36

e) Fortbildungspflicht37

f) Differenzierung des anzuwendenden Standards38, 39

g) Einwilligung des Patienten40

2. Facharztstandard und ökonomische Zwänge41 – 70

a) Rationierung und Priorisierung42, 43

b) Vorgegebene Knappheit44

c) Kausalität und Zurechnung45 – 47

d) Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung48

e) Behandlungsschranken und Relativität des Standards49 – 53

f) Gleichklang von Sozialversicherungsrecht und Strafrecht54, 55

g) Fehlende Finanzierung bei SGB-Ausschluss einer Maßnahme56 – 67

aa) Keine Behandlungsübernahme57 – 59

bb) Behandlungsbeendigung60, 61

cc) Suboptimale Behandlung ohne Einwilligung des Patienten62

dd) Suboptimale Behandlung mit Einwilligung des Patienten63

ee) Verdeckte Rationierung durch ärztliche Indikation64 – 67

h) Fehlende strafrechtliche Haftungsbeschränkung in sonstigen Fällen68

i) Verantwortlichkeit der Krankenhausleitung69

j) Keine Strafbarkeit der auf Makro- bzw. Mezzo-Ebene Handelnden70

3. Abweichungen vom Standard71 – 78

a) Standardüberschreitendes Individualvermögen71

b) Sonderwissen72

c) Vereinbarte Standardunter- sowie -überschreitung73

d) Ärztliche Eingriffe ohne Indikation74 – 77

e) Kontraindizierte ärztliche Eingriffe78

4. Behandlungsfehler79 – 83

a) Vermeidung von Zuschreibungsfehlern80

b) Beispiele ärztlicher Behandlungsfehler81

c) Diagnosefehler82

d) Mangelhafte therapeutische Aufklärung83

5. Arbeitsteilung und Vertrauensgrundsatz84 – 101

a) Einschränkung der Fahrlässigkeitsverantwortlichkeit durch den Vertrauensgrundsatz85, 86

b) Grenzen des Vertrauensgrundsatzes87, 88

aa) Erkennbares Fehlverhalten Dritter87

bb) Eigenes „verkehrswidriges“ Verhalten88

c) Horizontale Arbeitsteilung89 – 92

d) Vertikale Arbeitsteilung93 – 101

aa) Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des Anweisenden (Delegierender)94 – 98

(1) Leitungsverantwortlichkeit94

(2) Überwachungspflichten95

(3) Realisierung der Gefahrenquelle96

(4) Zusätzliche Pflichtwidrigkeit des Angewiesenen97, 98

bb) Fahrlässigkeitsstrafbarkeit der Angewiesenen (Delegat)99 – 101

6. Verantwortlichkeit von Leitungszuständigen (Organisationsfehler)102 – 111

a) Anfängeroperation104

b) Bereitschaftsdienst im Krankenhaus105, 106

c) Chefarzt-Verantwortlichkeit107

d) Organisationsverschulden patientenferner Entscheider108, 109

e) Qualitätssicherung und Risikomanagement110, 111

II. Einschränkung ärztlicher Fahrlässigkeitsstrafbarkeit112 – 118

1. Vorschläge de lege ferenda113

2. Vorschläge zur gegenwärtigen Rechtslage114

3. Weiterführende Überlegungen115 – 118

III. Ausblick: Entsprechende Restriktion strafbewehrter ärztlicher Aufklärungspflichten119 – 134

1. Hypothetische Einwilligung im Zivilverfahren119, 120

2. Hypothetische Einwilligung im Strafverfahren121 – 127

a) Übernahme dieser Rechtsfigur121

b) Bedenken122 – 127

aa) Grundsätzliche Problematik123

bb) Kein Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens124

cc) Unterschiedliche Beweisanforderungen125

dd) Missachtung des Patienten126

ee) § 630h Abs. 2 S. 2 BGB127

3. Restriktion der ärztlichen Aufklärungslast128 – 134

a) Lösungsansätze130

b) Eigener Vorschlag131 – 134

aa) Rechtsgutsbezug der Einwilligung132

bb) Arglistige Täuschung133

cc) Gravierender Aufklärungsmangel134

IV. Risiko-Einwilligung135 – 138

1. Bewusst eingegangene Risikosituation136

2. Willentliche Rechtsgutspreisgabe137

3. Anderweitige Lösungsoptionen138

V. Fahrlässige Tätigkeitsübernahme139 – 148

1. Unterscheidungen140, 141

2. Annahme strafbarer Übernahmefahrlässigkeit142, 143

3. Verantwortungsbereiche144

4. Fortbildungsanforderungen145

5. Keine Parallelisierung zur Versuchsstrafbarkeit146

6. Anfänger-Operation als Beispiel für Übernahmefahrlässigkeit147

7. Fazit148

C. Weitere Voraussetzungen ärztlicher Fahrlässigkeitsstrafbarkeit149 – 185

I. Aktives Tun oder Unterlassen als Anknüpfungspunkt149 – 151

1. Grundsätzliche Abgrenzungsproblematik149

2. Abgrenzung im arztstrafrechtlichen Bereich150, 151

II. Kausalität und Zurechnung152 – 167

1. Pflichtwidrigkeitszusammenhang153 – 156

a) Grundvoraussetzung154

b) Praxis-Probleme155

c) Fehlen des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges156

2. Schutzbereich der verletzten Sorgfaltspflicht157 – 167

a) Zeitliche Differenz des Erfolgseintritts158, 159

b) Dazwischentreten Dritter160 – 162

c) Folgeschäden163

d) Schockschäden164

e) Selbstgefährdung des Patienten165 – 167

III. Objektive Vorhersehbarkeit des Verletzungserfolgs168, 169

IV. Rechtswidrigkeit und Schuld170 – 185

1. Rechtfertigungsgründe (insbesondere Pflichtenkollision)170 – 176

a) Risiko-Einwilligung170

b) Rechtfertigende Pflichtenkollision beim Unterlassungsdelikt171 – 176

aa) Erfüllung der höherwertigen Pflicht172

bb) Kollision gleichwertiger Pflichten173, 174

cc) Kollision ungleichartiger Pflichten175

dd) Zusammentreffen von Handlungspflicht und Unterlassungspflicht176

2. Schuldvorwurf177 – 185

a) Subjektive Pflichtwidrigkeit178 – 180

aa) Einzelfälle179

bb) Fahrlässige Tätigkeitsübernahme180

b) Subjektive Vorhersehbarkeit181, 182

c) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens183 – 185

aa) Allgemeines Regulativ184

bb) Unzumutbarkeit bei Unterlassungsdelikten185

D. Nachbemerkung186 – 204

I. Behandlungsfehler und Vorsatzdelikt186 – 194

1. Fehlen des Vorsatzes186

2. Eventualvorsatz187, 188

3. Rechtspraktische Problematik189 – 192

a) Arztstrafrechtliche Verfahren190

b) Indizien191, 192

4. Vorsätzliche Körperverletzung durch Unterlassen193

5. Körperverletzungsvorsatz bei unwirksamer Einwilligung194

II. Strafverfahrensrechtliche Konsequenzen des § 630c Abs. 2 S. 3 BGB195 – 204

1. Reichweite der Vorschrift196

2. Gesetzeswortlaut und Gesetzesmaterialien197 – 199

3. Ratio legis200, 201

4. Berücksichtigung hypothetischer Ermittlungsverläufe202

5. Weiterreichende Wirkung203

6. § 135a Abs. 3 S. 1 SGB V204

Ausgewählte Literatur

A. Vorbemerkung

I. Verrechtlichung der Arzt-Patienten-Beziehung

1

Ärztliches Handeln entzog sich angesichts des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patienten zunächst dem objektivierenden Zugriff des Rechts. Infolge einer zunehmend naturwissenschaftlich-rational ausgerichteten Medizin geriet dieser ursprünglich tabuisierte Bereich in den Fokus staatlicher Reaktionen, nicht zuletzt durch die bekannte Entscheidung des Reichsgerichts in Strafsachen vom 31. Mai 1894, in der ärztliche Heileingriffe als tatbestandsmäßige Körperverletzung im Sinne des Strafgesetzbuches gewertet wurden.[1] Diese rechtliche Umgrenzung ärztlicher Tätigkeit wird vom Ansatz her nicht mehr bestritten, folgt sie doch im Rechtsstaat des Grundgesetzes aus den von der Verfassung vorgegebenen staatlichen Schutzpflichten für die Grundrechtsgüter Menschenwürde, Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit.[2] Somit ist auch die heilbehandelnde ärztliche Tätigkeit einer nichtärztlichen Außenkontrolle zu unterwerfen.[3] Wenn staatlich gesetztes Recht ein wesentliches Mittel zur Reduktion sozialer Komplexität darstellt, kann es – in richtiger Dosierung – auf dem Gebiet der Heilbehandlung das für die Arzt-Patienten-Beziehung unerlässliche Vertrauen stabilisieren.[4] Positiv ist auch die – in den allgemein zu konstatierenden Schwund absoluter, unangreifbarer Autoritäten einzuordnende – Entmystifizierung der ärztlichen Profession einzuschätzen. Ob allerdings auf dem Gebiet der strafrechtlichen Erfassung ärztlicher Heilbehandlung nicht eine letztlich patientenschädliche Überdosierung (straf)rechtliche Regulation vorliegt,[5] ist eine noch offene Frage.

2

Gründe für die zunehmende Verrechtlichung (primär im zivilrechtlichen Haftungsrecht, dann aber hieran anschließend auch im Strafrecht) sind sicherlich die durch Fortschritte der Medizin nicht nur gesteigerten Heilungschancen, sondern auch die hiermit einhergehenden gesteigerten Handlungsrisiken einer aggressiven, technikunterstützten Heilbehandlung.[6] Des Weiteren birgt die vom medizinischen Fortschritt erzwungene Arbeitsteilung und Spezialisierung, die dem behandelnden Arzt einen nur sektoralen Blickwinkel eröffnet, die Gefahr patientenschädlicher Kommunikationsstörungen. Wird der naturwissenschaftliche Ansatz der Medizin bei der Behandlung überbetont, so gerät die personale Dimension des Arzt-Patienten-Verhältnisses ins Hintertreffen. Der Patient wird nicht mehr als notleidender Mensch in Behandlung, sondern eher als bloße Informationsquelle für sachgerechtes ärztliches Verhalten missverstanden. Die personale Dimension im Arzt-Patienten-Verhältnis ist aber nicht nur durch etwa übersteigerte Machbarkeitsvorstellungen des Arztes, sondern auch durch hiermit einhergehende Erwartungen seines Patienten bedroht: Sieht dieser die Wiederherstellung seiner Gesundheit als käufliches (und von ihm teuer bezahltes) Gut an, so liegt es nahe, beim Verfehlen des angestrebten Behandlungserfolges statt von einem Unglück von Unrecht zu sprechen.[7]

3

Mit dieser zunehmenden Verrechtlichung der Arzt-Patienten-Beziehung ist aber die Gefahr verbunden, dass der Arzt in einer aus seiner Sicht nur noch von Rechtsvorgaben beherrschten Welt die ihn ursprünglich allein verpflichtende Kraft außerrechtlicher arztethischer Maßgaben und die hierdurch konstituierte individuelle Verantwortung völlig hintanstellt und sich nur noch auf den ethischen Minimalkonsens des formalen Rechts zurückzieht.[8] Aus einer im Übermaß verrechtlichten Medizin droht dann rasch eine defensive Medizin zu werden,[9] in der entweder zur Aussparung von Risiken zu wenig getan würde oder umgekehrt im Versuch, alle potentiellen Risiken abzuklären, Diagnostik im Übermaß stattfände.[10] Beides ginge letztlich zu Lasten des Patienten, denn was er durch (straf)rechtliche Einhegung auf der einen Seite gewönne, würde sich dann gegen ihn kehren, wenn überzogene (straf)rechtliche Anforderungen dem Arzt nahelegten, sich primär an seinen ja durchaus legitimen Bedürfnissen der Sicherheit vor (auch straf)rechtlicher Verfolgung zu orientieren. Hiermit wäre ein Verblassen der Regulierungskraft arztethischer Vorgaben verbunden. Das Recht ist aber auf diese ethische Unterstützung angewiesen, und nicht nur deshalb, weil vernünftig gesetztes Recht auch hier eine Freiheitssphäre schafft, in der sittliche Entscheidungen überhaupt erst getroffen werden können. Gerade das Strafrecht bedarf einer entsprechenden moralisch-ethischen Unterstützung, um überhaupt Wirksamkeit entfalten zu können. Auch würde die Rechtsordnung sich selbst überfordern, wollte sie für alle denkbaren Einzelfälle mit ihren je verschiedenen Entscheidungssituationen konkrete Handlungsvorgaben vorsehen. So hat Schreiber zurecht darauf hingewiesen, dass „Konflikte und Aporien ärztlicher Tätigkeit … der Jurist ohne Rückgriff auf den Sinn des ärztlichen Berufs und dessen Ethos nicht entscheiden (kann).“[11] Ohne diese vom Arzt verinnerlichte ethische Fundierung rechtlicher Vorgaben wäre sein Handeln eher als eine mehr oder weniger widerstrebend praktizierte Anpassung an einen ihm fremd erscheinenden Normbefehl zur Abwendung von Sanktionsgefahren zu begreifen. Für den Schutz der hochwertigen Rechtsgüter des Patienten ist aber eine positive Respektierung seiner schutzbedürftigen Belange allemal wirkmächtiger.

II. Arzt-Ethik und Arzt-Strafrecht

4

Bei der ärztlichen Heilbehandlung überschneiden sich Ethik und Recht,[12] da das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten weit mehr ist als eine juristische Vertragsbeziehung.[13] Auch das Bundesverfassungsgericht[14] betont in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1979 die gemeinsame Schnittmenge der zwei sich schneidenden Kreise von Recht und Ethik. Auch soll nicht die unentbehrliche Ergänzungsfunktion medizinischer Ethik bestritten werden, ohne die letztlich das Recht seine steuernde Wirkung nicht oder zumindest nur eingeschränkt entfalten könnte. Aber es ist originäre Funktion der Rechtsordnung als der für alle Bürger gemeinsamen Friedensordnung, die Grenzen zulässigen Verhaltens zu bestimmen, sofern Rechte Dritter betroffen sind. Folglich ist auch im Arzt-Patienten-Verhältnis staatlich gesetztes und angewandtes Recht unerlässlich. Auch dann, wenn man angesichts des Rückgriffs des (Straf-)rechts auf ethisch bedeutsame Sachgehalte wie die Rechtsgüter Leben und Gesundheit ein beziehungsloses Nebeneinander von Recht und Ethik ablehnt, so bildet doch nur das staatlich gesetzte Recht angesichts der Pluralität der Lebensverhältnisse und der höchstpersönlichen Entwürfe eines guten Lebens einzig die noch allen Bürgern gemeinsame Handlungsanleitung.[15] Wenn auch die Basis rechtsgüterschützenden Strafrechts im ethisch-moralischen Bereich anzusiedeln ist (Verbrechen als sozialethisch unerträgliche Tat, die Tadel verdient), so handelt es sich bei der Strafrechtsanwendung vorliegend eben nicht um die Umsetzung arztethischer Vorgaben, sondern um die Anwendung von der Gemeinschaft positiv gesetzten Rechts. Werden ethische Regeln in die Rechtsordnung übernommen, so verlieren ethische Postulate durch diese Einkleidung in die Form des Rechts zwar nicht ihre ethische Rückbezüglichkeit. Sie werden aber zu Teilen der Rechtsordnung,[16] die als für alle Bürger gemeinsame Friedensordnung dann aus sich heraus auszulegen ist.[17] Abschließend sei bemerkt, dass allgemein gesprochen doch eher davon ausgegangen werden kann, dass letztlich die medizinische Steuerung des Rechts (etwa durch dessen unerlässliches Anknüpfen im haftungsrechtlichen Rekurs auf ärztliche Leitlinien) größer ist als umgekehrt die rechtliche Feinsteuerung ärztlicher Praxis.

III. Unterschiedliche Sichtweise von Ärzten und Juristen

5

In diesem Zusammenhang darf auch eine bei der Heilbehandlung zutage tretende unterschiedliche Sichtweise nicht außer Betracht gelassen werden:[18] Der Mediziner knüpft an den hilfsbedürftigen Patienten an und richtet seinen Blick in die Zukunft; zu ihrer positiven Gestaltung ist er bereit, Risiken einzugehen. Demgegenüber ist der Blick des Juristen eher auf Minimierung von Risiken, auf Steuerung und Kontrolle gerichtet. Da er im Konfliktfalle, also bei dem Fehlschlag ärztlichen Bemühens, den Blick auf Kausalverläufe der Vergangenheit richtet, tritt der Jurist dem Arzt als normorientierter Dogmatiker gegenüber, während sich der Arzt als seinsorientierter Empiriker begreift.[19] Ärztliche Binnensteuerung und (straf)rechtliche Regulierung stehen aber nicht unverbunden nebeneinander, da sich bei der juristischen Beurteilung ärztlicher Tätigkeit faktische und normative Elemente verschlingen (Schreiber), wie dies ja auch vom Todeszeitpunkt als Ende strafrechtlichen Lebensschutzes her bekannt ist.[20] Dies ändert aber nichts daran, dass für die nachfolgend zu beurteilenden Rechtsfragen primär juristische Maßstäbe zu gelten haben. Da der Patient Fehler des Arztes und seiner Hilfspersonen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen rechtzeitig erkennen und selbst Gegenmaßnahmen treffen kann,[21] hat das (Straf)Recht zum Schutze des Patienten eigene Maßstäbe zu setzen, die von denen der ärztlichen Profession ggf. abweichen können.[22] Hiervon unberührt bleibt die Notwendigkeit, dass die rechtliche Beurteilung von den medizinischen Möglichkeiten auszugehen[23] und gerade auch zum Wohle des Patienten die Vielfältigkeit ärztlicher Entscheidungsoptionen durch Einräumen eines Beurteilungs-und Entscheidungsspielraums zu respektieren hat.[24] Entscheidungsabläufe außerhalb der eigentlichen ärztlichen Behandlungstätigkeit, also insbesondere organisatorische Fragen (etwa i.Z.m. arbeitsteiligem Vorgehen) sind hingegen einer eigenständigen rechtlichen Bewertung eher zugänglich.[25]

IV. Arzt-Patienten-Verhältnis

6

Dieses hat sich bislang einer gesetzgeberischen Feinsteuerung entzogen, so dass eine Vielzahl zu klärender Fragen notwendiger Weise der Rechtsprechung zur Entscheidung zugeschoben wird. Die primär von der Zivil-Rechtsprechung richterrechtlich entwickelten, eine gewisse Orientierungssicherheit vermittelnden Vorgaben drängen sich als primäres Orientierungskriterium auch für die strafrechtliche Beurteilung ärztlicher Heilbehandlung auf. Hieran hat sich auch durch das Patientenrechtegesetz aus dem Jahre 2013 nichts geändert, da in den §§ 630a ff. BGB lediglich die ohnehin richterrechtlich festgeschriebenen Voraussetzungen ärztlicher Haftung namentlich i.Z.m. Verstößen gegen Aufklärungspflichten (§ 630e BGB) Aufnahme fanden, ohne dass hierdurch neue Wegweisungen erfolgten.

V. Eingrenzung

1. Ärztliche Tätigkeitsfelder

7

Die nachfolgende Untersuchung nimmt ein wichtiges Handlungsfeld in den Blick, in dem die rechtliche Regulierung ärztlicher Tätigkeit Bedeutung erlangt, nämlich die strafrechtliche Reaktion auf ärztliche Behandlungsfehler als Verfehlung des medizinischen Standards (Rn. 10 ff.). Es ist aber auch eine zunehmende Erweiterung ärztlicher Tätigkeitsfelder – also über das Verhüten, Erkennen, Heilen oder Lindern von Krankheiten,[26] Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden hinaus – auszumachen, von der wunscherfüllenden Medizin (bspw. Organlebendspende, Wunsch-Sectio, die sog. Gefälligkeitssterilisation oder Schönheitsoperation) bis hin zu Maßnahmen, die die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit des Menschen steigern sollen (sog. Enhancement wie etwa Doping i.w.S.). Allen diesen Verfahrensweisen ist gemeinsam, dass sie sich jenseits (auch weit verstandener) ärztlicher Indikation an einem Begehren des Patienten und nicht seiner Heilbedürftigkeit ausrichten.[27] Sie sollen aber angesichts fließender Übergänge zwischen Heilbehandlung und Nichtheilbehandlung[28] unter Rn. 74 ff. abrundend in die Betrachtung einbezogen werden.