Jahrgang 1936 – weiblich

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Jahrgang 1936 – weiblich
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Barbara Schaeffer-Hegel

Jahrgang 1936 – Weiblich

Prof. Dr. Barbara Schaeffer-Hegel studierte Politikwissenschaften, Geschichte, Philosophie und Romanistik; sie verfasste zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der politischen Bildung, zur feministischen Grundlagenforschung, eine Chronik über die Entstehung der EAF, sowie einen Band mit Kurzgeschichten.

Barabara Schaeffer-Hegel

Jahrgang 1936 – Weiblich

Königshausen & Neumann

Mein Dank gilt all den Freundinnen und Freunden, die mir in schweren Zeiten beigestanden, und denjenigen, die mich bei der Abfassung meiner Lebenserinnerungen unterstützt haben, – insbesondere aber meinem Lebensgefährten und Ehemann Ulrich Hegel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2020

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier

Umschlag: skh-softics / coverart

Umschlagabbildung: Foto: Bernd Hartung

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist

ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8260-7132-4

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www.buchkatalog.de

Inhalt

Einführung

Band I Hürden beim Eintritt ins Leben

Kapitel I: Kindheit

1. Das Jahr 1936

2. Kassel

3. Tübingen (1943)

4. Künzelsau

5. Alte Amrichshäuser Straße 17

6. Schule

7. Glaube

8. Erste Liebe

Kapitel II: Jugend

1. Mein Vater

2. Im Exil

3. Das Männchen im Kopf

4. In der Fremde

5. Die Hudsons

6. Dieter

7. Nancy Hudson

8. McCarthy in der Schule

9. Nancy in der Falle

10. Siebzehnter Geburtstag

11. Lulunelle

Kapitel III: Studium

1. Im Mathe-Rausch

2. Au Pair in der Schweiz

3. Tübingen (1955)

4. Piele

5. Freiburg

6. Dr. Kramer

Kapitel IV: Asche-Phoenix-Asche

1. Ronchamp

2. Nachspiel

3. Verlobung

4. Hochzeit

5. Daniel

6. Die Tochter

7. Römerstraße

8. The Urdu City

Band II Die Entdeckung der Weiblichen Welt

Kapitel V: Münster

1. Ankunft

2. Karin

3. Anke

4. Münster

5. Planungs-Organisation-Pädagogik: P.O.P

6. Sylvester 1970

7. Zuhause in Münster und Altenberge

Kapitel VI: PH und TU – Berlin

1. Endlich Berlin

2. Rebellion an Berliner Hochschulen

3. Integration der Lehrerbildung

4. Die „Autonomen“

5. Eine Frauenbeauftragte für die TU

6. Die Konferenzen

Kapitel VII: Zu Hause in Berlin

1. Bassam

2. Die Feuerprobe

3. Anfänge einer Patchwork Familie

Kapitel VIII: Kind und Kegel in der Frobenstraße

1. Frobenstraße 33

2. Eine fast missglückte Adoption

3. Als Patchworkfamilie in die USA

4. Die Pflege meiner Mutter

5. Zypern: Eine Vergewaltigung und die Folgen

Kapitel IX: Forschungsprojekte und mehr

1. Studentenstreik an der TU

2. Projektkurse im Lehramtsstudium – PiL

3. Frauen mit Macht

4. Gastprofessur in San Diego

Kapitel X: Die Gründungen

1. Hildegard Hamm-Brücher for Präsident

2. EAF

3. Femtec GmbH

4. Krisen und Konflikte

Kapitel XI: Das Leben danach

 

1. Lieber Lesen e.V

2. Sorgenfamilien

3. Der Zauber des Alterns

Einführung

Ich habe lange gezögert, ein Buch über mich selbst und mein Leben zu schreiben. Einige wichtige, vor allem die wichtigsten beruflichen Erfahrungen meines Lebens sind unter dem Titel »Erfolgreich aus dem Nichts.« bereits im Verlag Königshausen & Neumann erschienen1. Und manche der mich besonders bewegenden Episoden, die mir selber, oder einigen meiner guten Freundinnen oder Freunden geschehen sind, habe ich als Material in die Erzählungen des Bandes »Julia und der Schattenmann«2 eingebracht. Mir, der nun 83-Jährigen, bleibt nicht mehr viel Zeit. Aber ich möchte doch meinen Kindern und Enkeln noch einiges darüber erzählen, wie eine Frau, die im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts geboren wurde und die in den fünfziger Jahren aufgewachsen ist, mit den Problemen umging, die sich ihr stellten –, Problemen, wie sie sich jungen Leuten auch heute ähnlich stellen. Die fünfziger Jahre und auch noch ein Großteil der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren nicht nur für Frauen, vor allem aber für diese, ein höchst unfreier, ein zutiefst rückwärtsgewandter, konservativer Zeitabschnitt, in dem es für die Probleme von jungen Menschen keine Möglichkeit für klärende Gespräche, keine Hilfe, keine Beratung, keine unterstützenden Lösungen gab.

Die Erzählungen über mein Leben sind im Folgenden so wahr und getreu wiedergegeben, wie die Erinnerungen, auf denen sie beruhen, sein können. Zahlreiche Briefe und Aufzeichnungen, die ich als junges Mädchen gemacht habe, dienten mir zur Überprüfung. Und die Ereignisse, die mich emotional tief getroffen haben, und die ich daher tausendmal durchlebt habe, sind so tief in meinem Gedächtnis verankert, dass sie sich mit den Jahren wohl nur unwesentlich verändert haben.

Mein Lebensbericht folgt keinem geradlinigen, chronologischen Ablauf der Ereignisse. Er betrachtet vielmehr die „Erfahrungsinseln“, die mich am tiefsten berührt, erschüttert und verändert haben. Diese Wendepunkte meines Lebens versuche ich in dem folgenden Bericht wie durch Scheinwerfer beleuchtete Ausschnitte so darzustellen, wie ich sie zu ihrer Zeit erlebt habe. Mein Bericht folgt auch keinem strikten Zeitplan, sondern inhaltlichen Zusammenhängen, die manchmal durch ein Thema, manchmal durch eine Person und deren Schicksal bestimmt sind. Er springt daher gelegentlich zwischen den Jahren; die zeitliche Orientierung versuche ich dann durch genaue Jahresangaben zu erleichtern.

Meiner Fantasie habe ich nur in ganz wenigen Ausnahmen Lauf gelassen. Das Jahr 1953/54 habe ich als Austauschschülerin in den USA verbracht – in einer Familie, deren Verhalten mir gegenüber mich in eine schwere psychische Notsituation versetzte und mich aufs tiefste verstört und verunsichert hat. Da ich mir aber geschworen hatte, den Aufenthalt in dieser Familie nicht abzubrechen, war ich der krankmachenden Situation ein ganzes Jahr lang wehrlos ausgesetzt. Zur Bewältigung der mich auch danach noch mehrere Jahre belastenden psychischen Krise musste ich unbedingt verstehen, was die Motive dieser Familie, d.h. insbesondere was die Motive der Mutter dieser Familie waren. Was hatte Mom Hudson dazu gebracht, mich so zu behandeln und was hat sie daran gehindert, diesem auch für sie wahrnehmbaren Schrecken ein vorzeitiges Ende zu setzen. Die Informationen, die ich von Mom Hudsons Mutter und auch von ihrer Schwester über sie erhalten habe, habe ich daher zusammen mit meinen eigenen Erfahrungen mit ihr zu einer Erzählung ausgebaut, die die Katastrophe, in die ich hineingeraten war, von beiden Seiten her verständlich machen soll. In den Abschnitten über Mom Hudson, aber nur dort, sind daher einige erzählerische Freiheiten eingeflossen. In den Kapiteln Dr. Kramer und Ronchamp habe ich Textmaterial verwandt, das ich in abgewandelter Form bereits in meinem Erzählband »Julia und der Schattenmann« veröffentlicht habe.

Anfang des Jahres hatte ich den ersten Teil meiner Erinnerungen aufgeschrieben und war unsicher, ob mir genügend Lebenszeit bliebe, auch noch die Jahre ab meinem 31. Lebensjahr in ebenso genauer Schilderung zu Papier zu bringen. Doch dann kam mir die Corona-Pandemie zu Hilfe. Vier Monate ländliche Quarantäne in unserer Wohnung im Allgäu gewährten mir Zeit, Ruhe und Konzentration für die Niederschrift des zweiten Teils meines Lebens.

Inzwischen hatten aber mehrere gute Freundinnen den ersten Teil meiner Erinnerungen gelesen und bestanden darauf, dass ich meinen Lebensbericht nicht nur meiner Familie überlassen dürfe. Dass ich ihn unbedingt einer breiteren Leser*innenschaft zugänglich machen müsse, da die Lebensbedingungen von Frauen meiner Generation in dem Bericht so anschaulich und lebensnah beschrieben seien. Als dann auch mein Verlag auf Anfrage spontan bereit war, mein Manuskript zu drucken, habe ich zugestimmt.

Jetzt ist also ein großer Teil meines Lebens für jedermann einsehbar, was auch für mich keine ganz leichte Entscheidung war. Trotzdem bleibt mein Lebensbericht meinen Kindern, Enkeln und Enkelinnen, meinen Nichten, Neffen, Großneffen und Großnichten gewidmet,

mit herzlichem Dank dafür, dass Ihr mein Leben so vielfältig bereichert und in der Hoffnung, dass Ihr mich auch später noch ein bisschen in Erinnerung behaltet – wenn möglich in guter, aber auch in der mit Euren eigenen Erinnerungen vermischten Prägung.

Eure Mama, Mami, Mam, Omama, Omi, O-Baba, Tante und Großtante, Eure


BarbaraMaria Rain, im August 2020


1Barbara Schaeffer-Hegel: »Erfolgreich aus dem Nichts. Die Gründungsgeschichte der EAF e.V. und der Femtec GmbH«, Würzburg 2017.

2Barbara Schaeffer Hegel: Julia und der Schattenmann. Erzählungen, Halle 2010.

Band I

Hürden beim Eintritt ins Leben

»In Wahrheit bedingt einzig Erfülltheit mit Erlebnis

das Maß einer Seele –

darum zählen in einer Lebensgeschichte

nur die gespannten Augenblicke –,

nur von ihnen aus gesehen wird sie richtig erzählt.«

(Stefan Zweig: Marie Stuart, Einleitung)

Kapitel I: Kindheit

1. Das Jahr 1936

Der 10. November 1936 war ein Dienstag.

Ich wurde morgens um 4:00 Uhr im Elisabeth Hospital in Kassel als zweites Kind und einzige Tochter des Dr. Ernst Immanuel Schweizer und seiner Frau Hilda Schweizer, geb. Schwab, geboren. Obwohl meine Mutter ihren Vornamen hasste, wurde er in der von ihr abgemilderten Form „Hilde“ der neugeborenen Barbara Christine als dritter Vorname angehängt. Eigentlich sollte meine Mutter „Paula“ heißen. Mein Großvater hatte ihr diesen im Jahre 1900 extrem altmodischen Namen aus Wut darüber verpasst, dass sein sechstes Kind nach bereits drei Töchtern schon wieder ein Mädchen war. Nach langem Drängen erreichten die älteren Schwestern meiner Mutter dann aber doch, dass ihr Vater zum Standesamt zurückkehrte und „Paula“ in „Hilda“ änderte. Mehr ging nicht.

Am Tage vor meiner Geburt hatten meine Eltern, die aus dem heimatlichen Stuttgart nach Kassel gezogen waren, eines ihrer schwäbischen Lieblingsgerichte auf dem Mittagstisch: Linsen, Spätzle und Saidewürscht, was dazu führte, dass mein Vater die am Abend einsetzenden Leibschmerzen meiner Mutter auf die Linsen zurückführte und ihr wegen ihres Speiseplans Vorwürfe machte. Es waren aber nicht die Linsen. Es war ihre Tochter Barbara, die zum errechneten Termin morgens um 4:00 Uhr als gesundes Baby auf die Welt kam.


Erste Fotos.

Ich kam zwar pünktlich, aber doch mit zehnjähriger Verspätung. Denn mein Geburtsdatum verdanke ich dem württembergischen Beamtengesetz. In Übereinstimmung mit Johann Gottlieb Fichtes (1772–1814) Geschlechterphilosophie3, nach der eine verheiratete Frau nicht Staatsbeamtin sein kann, durfte eine Beamtin, wie meine Mutter eine war als sie meinen Vater kennen und lieben lernte, noch während der Weimarer Republik nicht heiraten, es sei denn, sie würde auf ihren Beruf und auf ihren Beamtenstatus verzichten4. Frauen, so Fichte, können nicht zwei Herren zugleich dienen – dem Staat und dem Ehemann!


Meine Geburtsanzeige.

Mein Vater, promovierter Germanist, war 1923 Regisseur bei der Württembergischen Landesbühne, einem renommierten Wandertheater, und – wie viele junge Menschen heute – nur zeitlich begrenzt auf Honorarbasis angestellt. Meine Mutter hatte das Elend ihrer eigenen Mutter vor Augen und weigerte sich zu heiraten. Ihr Vater, mein Großvater mütterlicherseits, ein höherer Beamter im württembergischen Staatsdienst, war 1904 im Alter von nur 60 Jahren gestorben – wenige Jahre ehe das württembergische Beamtengesetz geändert und Beamtenwitwen eine Rente zugesprochen wurde. Ohne Beruf und ohne Einkommen stand meine Großmutter mit sechs Kindern vor dem Nichts. Sie musste den württembergischen König, bzw. die Verwaltungsdienststelle, der ihr Mann vorgestanden hatte, um Unterstützung ersuchen, was ihr unendlich schwerfiel. Dennoch erzielte sie für ihre beiden Söhne, Hugo und Gustav, Stipendien fürs Gymnasium und für das Studium an der Universität. Die beiden älteren Mädchen wurden verheiratet, meine Tante Julie gegen ihren ausdrücklichen Willen5. Für ihre beiden jüngsten Töchter, meine Mutter und ihre vier Jahre ältere Schwester Gertrud, erwirkte meine Großmutter ebenfalls Stipendien – für eine Ausbildung als Lehrerin: Mädchengymnasium mit anschließender zweijähriger Ausbildung im Lehrerinnenseminar. Auf diese Weise und durch die Vermietung mehrerer Zimmer ihrer Wohnung schaffte es meine Großmutter, sich und ihre Kinder durchzubringen. Doch als ihre Jüngste, meine Mutter, in Tübingen eine Anstellung an der dortigen Höheren Mädchenschule bekommen hatte und als Lebenszeitbeamtin gut versorgt war, waren ihre eigenen Lebenskräfte aufgezehrt. Nach mehreren erfolglosen Versuchen ertränkte sie sich 1922, gerade mal 60 Jahre alt, im Neckar.


Meine Mutter.

Gewarnt durch das Beispiel ihrer Mutter weigerte sich meine Mutter ihre Beamtinnen-Position aufzugeben, solange ihr mein Vater keine gesicherte Zukunft bieten konnte. Als wandernder Regisseur und Schauspieler mit Jahresverträgen konnte er das nicht. So lebten meine Eltern zehn Jahre lang als Verlobte zusammen, wobei sie von den Erkenntnissen der Lebensreformbewegung profitieren konnten, die in den zwanziger Jahren ausführlich über Geburtenkontrolle und Verhütungspraktiken informierte.


Großeltern, Eltern und Kinder.


Meine Mutter mit ihren 3 Kinder.

Erst als meinem Vater 1933 eine feste Anstellung als Leiter eines UFA-Lichtspielhauses angeboten wurde, kündigte meine Mutter ihre Stelle in Tübingen, heiratete und zog mit meinem Vater nach Kassel. Ein knappes Jahr später kam mein älterer Bruder Peter zur Welt.

Das Jahr 1936 war ein besonders geschichtsträchtiges Jahr. 1936 kamen weltweit – in Deutschland, in Italien, in Spanien und in gewisser Weise auch in Ostasien – die Entwicklungen zum Abschluss, die wenig später die gesamte Welt in den zweiten, den furchtbarsten Abgrund des Jahrhunderts führen würden – in den Zweiten Weltkrieg.

Das Jahr 1936 brachte u.a. die endgültige Konsolidierung der Naziherrschaft in Deutschland. Nachdem im Vorjahr 1935 die Rückführung des Saarlandes ins Deutsche Reich gelungen war und nachdem die vertragswidrige Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, ebenfalls 1935, ohne nennenswerten Widerstand der Versailler Vertragspartner hingenommen wurde, besetzte Hitlerdeutschland am 7. März 1936 das Rheinland. Ein erneuter schwerwiegender Bruch des Versailler Vertrags, mit dem sich die Mächte der Entente – Frankreich, England, Italien und die USA – durch die Überreichung von nur lauen Protestnoten abfanden. Nach der Einführung des Reichsarbeitsdienstes und der allgemeinen Wehrpflicht (beides im Jahr 1935) verpflichtete das am 1. Dezember 1936 erlassene „Gesetz über die Hitlerjugend“ neben den 15- bis 18-jährigen, der Hitlerjugend, nun auch die zehn bis 14-jährigen Jungen zum Beitritt in das Deutsche Jungvolk. 1936 kam erstmals ein kompletter Geburtenjahrgang, der Jahrgang 1926, geschlossen in die HJ. Die Mädchen wurden ab dem Alter von zehn Jahren zur Mitgliedschaft im Mädelbund, die 14 bis 16-jährigen im Bund deutscher Mädchen (BDM) genötigt. Die gesamte deutsche Jugend war ab 1936 ganztägig der Indoktrination durch Rassen- und Naziideologie ausgesetzt und wurde – unter anderem durch attraktive Sport- und Freizeitangebote – zum willigen Fußvolk des Diktators gedrillt. Ab jetzt waren Kinder und Jugendliche dem Einfluss ihrer Eltern weitgehend entzogen.

 

Nach der innenpolitischen Gleichschaltung, die alle Berufsverbände, Vereine, Genossenschaften und auch die Gewerkschaften, die Kirchen und selbst die Beamtenschaft betraf, gelang Hitler im Jahre 1936 auch die außenpolitische Festigung seiner Macht. Am 17. Juli verständigte sich das NS-Regime mit Österreich, am 25. Oktober bildeten Hitler und Mussolini die Achse Berlin-Rom, und am 25. November wurde der Antikominternpakt zwischen Japan und Deutschland6 unterzeichnet, dem im Jahr darauf auch Mussolinis Italien beitrat. Die Wiederaufrüstung Deutschlands lief trotz des vertraglichen Verbots bereits auf hohen Touren. Deutschland hatte die Ketten des Versailler Vertrags abgeschüttelt; die Festlichkeiten der Olympischen Spiele im August 1936 in Berlin besiegelten den Triumph Adolf Hitlers.

Doch das Jahr 1936 brachte der Welt auch ein Versprechen für die Zukunft: am 3. November 1936 wurde Frank Delano Roosevelt mit großer Mehrheit zum 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Roosevelt, der zweimal wiedergewählt wurde, ist bis heute der US-Präsident mit der längsten Amtszeit. Mit Churchill, dem das größte Verdienst anzurechnen ist, und auch mit Hilfe von Stalin hat Roosevelt wesentlich zur Bezwingung der nationalsozialistischen Katastrophe beigetragen. Bis zu seinem Tode am 12. April 1945 bestimmte Roosevelt entscheidend über das Schicksal der Welt und auch Deutschlands.

1936! Drei Jahren noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges! Nur diese knapp drei Jahre meines Lebens verbrachte ich in einem Frieden, den Hitler und seine nationalsozialistische Gefolgschaft zur Vorbereitung einer der größten Katastrophen der Geschichte nutzten – und wusste nichts davon. Vom Frieden nichts und nichts vom Krieg.

2. Kassel

Vom Krieg spürte ich, wie gesagt, nichts in unserem Kasseler Heim, einer großzügigen Wohnung mit Terrasse und Zugang zum Garten, mit Sandkasten und Spielwiese. Die erste Wohnung, an die ich mich erinnere, Weinbergstraße 33, lag in der Nähe der Villa Henschel in einer Sackgasse. Eine ideale Spielstraße. Wir hatten Freundinnen und Freunde in der Nachbarschaft; wir spielten auf der Straße, in unserem Garten, in den Gärten der Nachbarn und im Fürstengarten, einem kleinen Park, der nicht weit von unserem Haus gegenüber der Villa Henschel gelegen war und vielfältige Spielmöglichkeiten bot. Außer wenn ich dazu verdonnert wurde, in der Stube zu sitzen und Deckchen für Oma und Opa und für irgendwelche Tanten zu sticken, während meine Brüder draußen herumtoben durften, verbrachte ich meine ersten Lebensjahre überwiegend im Freien. Unsere Kinderfreundschaften waren eng und herzlich. Mit Elslein Roth, meiner ersten Freundin aus dem Haus auf der anderen Straßenseite, hielt ich noch Jahre nachdem wir getrennt worden waren, Verbindung, die dann leider mit dem Kriegsende und den großen Bevölkerungsverschiebungen in Deutschland abbrach.


Mein Vater mit meinem Bruder und mir.

Als Vierjährige verliebte ich mich zum ersten Mal. In den Freund meines Bruders Peter, in Hans Brandt. Einmal, als Peter, Hans und ich in unserem Sandkasten im Garten spielten und mein Bruder fand, dass ich das Spiel der Jungen störe, sollte ich aus dem Sandkasten verschwinden. Doch ich blieb wie festgenagelt auf der hölzernen Umrandung unseres Spielkastens sitzen. Erst nachdem mir Hans versprochen hatte, mich später zu heiraten, ließ ich die beiden Jungen in Ruhe. Und nachts wickelte ich mich genüsslich in eine rote Strickjacke, die Hans zu klein geworden war und die seine Großmutter, bei der er wohnte, meiner Mutter als Nachtjacke für mich abgetreten hatte.


Mein Bruder Jochen und ich.

Unsere Straße, die Weinbergstraße, führte nach etwa 100m stadteinwärts zwischen dem Fürstengarten und der den ganzen Hang einnehmenden Villa Henschel hindurch. Im Fürstengarten stand ich zum ersten Mal auf Skiern und fuhr als Fünfjährige einen sanft auslaufenden Abhang hinunter, der eine kaum wahrnehmbare Steigung aufwies, und an dessen Ende wir ein kleines Schneehügelchen aufgeworfen hatten. Immer geradeaus und ohne Stöcke aber mit der glücklichen Gewissheit, dass ich jetzt Skifahren könne. Was sich später, als ich an einem steileren Hang mit tieferem Schnee meinen Freunden meine sportlichen Fähigkeiten vorführen wollte, als jämmerliche Fehleinschätzung herausstellte.

Am Ende des Parks und der Henschel Villa mündete unsere Weinbergstraße in eine Fußgängerbrücke, die sich über eine unter ihr hindurchführende Schnellstraße spannte. Hinter der Brücke ging es an mehreren großen, Eindruck erheischenden Gebäuden vorbei, die früher einmal Marställe oder Stadtpaläste berühmter Edelleute gewesen sein mussten. An der Toreinfahrt eines dieser Paläste stand ich eines Tages, meinen kleinen Bruder, den mit den schorffrei glatten Knien, an der Hand, und starrte durch die Eisenstäbe hindurch. Sie verwehrten uns den Zugang zu einem großen, herrschaftlichen Hof. Auf dem Hof spielte eine Horde Kinder. Jagten sich, sprangen über Seile, rauften sich, und tummelte sich in einem riesigen Sandkasten, in welchem sie Kuchen backten und Burgen bauten. Ich konnte mich an der Schar der Kinder nicht satt sehen. Sie schienen so glücklich, so frei, so schwerelos zufrieden. Meine Mutter erklärte mir, dass dies ein „Kindergarten“ sei. Für Kinder nur, deren Eltern sich nicht um sie kümmern konnten oder sich nicht kümmern wollten. Aber ich wollte trotzdem da hinein. Musste dazu gehören, mit all diesen Kindern spielen, in dem wundervollen großen Hof, der mir der Vorgarten zu einem Palast zu sein schien.

Wie auch immer ich es erreichte, einige Zeit später marschierte ich morgens um 8:00 Uhr meinen kleinen Bruder an der Hand, und ein Brottäschchen um den Hals, in den Kindergarten und dort, da muss ich wohl schon fünf oder sechs gewesen sein, verliebte ich mich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben in ein weibliches Wesen.

Die schlossähnliche Villa Henschel, deren Gebäude man durch einen die Straße begleitenden, mannshohen Zaun aus Eisenstäben hindurch erspähen konnte, lag mitten in einem gepflegten Park, mitten auf einem mit Blumen und bunten Büschen geschmückten Rasen. Die Menschen, die in diesem „Schloss“ wohnten und die man nie zu sehen bekam, mussten Feen oder Zauberer sein, jedenfalls von einer so besonderen Art, dass man als normaler Mensch nicht mit Ihnen sprechen konnte. Und dann bekam ich im Kindergarten ein kleines, blondes, elfenhaft schönes Mädchen zu Gesicht, von der es hieß, dass sie hinter den Henschelschen Gitterstäben wohnte. Das Elfenmädchen mit den Goldhaaren und dem Puppengesicht trug ein samt-seidiges rotes Kleidchen mit gesmokten Stickereien am Halsausschnitt und an den Ärmeln, oder auch ein blaues, oder gelbes – jedenfalls trug sie ein Kleidchen so kostbar, wie ich es nie besitzen würde. Sie spielte und lachte und sang mit den Kindern an ihrem Tisch – meilenweit entfernt von dem Tisch an dem ich saß. Aber ich konnte ihr reizendes Gesicht sehen und jedes Mal, wenn ich sie anschaute, klopfte mir das Herz so sehr, dass ich wegsehen musste. Trotzdem musste ich immer wieder hinsehen, dieses Wundermädchen anstarren, um verwirrt und beschämt die Augen zu schließen und ein warmes Schwindelgefühl im Bauch zu spüren. Ich erinnere mich nicht, dass ich meine kleine Liebe je angesprochen hätte, auch kannte ich wohl nicht einmal ihren Namen. Ich wusste nur, dass sie seit kurzem in der Villa wohnte und wahrscheinlich die Tochter ausgebombter Verwandter war. Und dass es mich jeden Morgen wie magisch in den Kindergarten zog, um sie zu sehen.

Der Kindergarten verschaffte mir aber auch das erste noch ganz unverstandene Gefühl für Naziherrschaft und Krieg. Vom Krieg wussten wir Kinder nichts, auch als später mein Vater verschwand und nur noch gelegentlich für ein bis zwei Tage am Wochenende zu Besuch kam. Wir Kinder bemerkten seine Abwesenheit kaum, war er doch auch vorher tagsüber nie zu Hause, und wenn er abends nach Hause kam, waren wir Kinder meist schon im Bett. Meine Mutter brachte ihm um die Mittagszeit das Essen in Blechdosen, die dick in Zeitungspapier eingewickelt waren, in seinen Filmpalast. Einmal durfte ich meine Mutter bei ihrem Essensgang begleiten und stellte mich, während sie beim Vater im Büro war, in die geöffnete Tür des Kinosaals. Was ich da auf der Leinwand sah, war mir völlig unverständlich. Männer mit Gewehren und Stahlmützen auf dem Kopf, Feuer und Geschrei und martialische Marschmusik. Eine tiefe Männerstimme, der das alles sehr zu gefallen schien, überdröhnte die dahin rennenden Bilder, jubelte laut und macht mir Angst. Meine Mutter zog mich von den Bildern weg und sagte etwas von Wochenschau. Von Krieg sagte sie nichts.

Als der Krieg begann, war ich noch nicht drei Jahre alt. Zwar wussten wir Kinder noch immer nichts vom Krieg, aber was etwa zwei Jahre später an einem Tag im Kindergarten passierte, gab mir eine sehr undeutliche, aber auch sehr unangenehme Ahnung. Die Regeln im Kindergarten waren streng. Wenn die Kinder an ihren kleinen Tischen saßen und ihre Hände nicht mit Essen oder Basteln beschäftigt waren, mussten sie flach auf dem Tisch liegen. Die vier Finger auf, der Daumen unter der Tischplatte. Und wir mussten mucksmäuschenstill sein. Kein Laut durfte über unsere Lippen kommen. Eines Tages, im Sommer, spielten die Kindergartentanten – es waren drei oder vier junge Frauen – zusammen mit der Köchin und der Putzfrau verrückt. Sie drehten das Radio auf, spielten laute Musik und holten Blechdeckel aus der Küche mit denen sie den Takt schlugen und dabei laut sangen. Sie saßen auf Stühlen, die sie auf unsere Kindertischchen hochgestellt hatten, kreischten und sangen, während eine von ihnen mit einem Rohrstock bewaffnet die Kindertische entlang ging und auf jede Hand schlug, die nicht ordnungsgemäß auf dem Tisch lag und jedem Kind, das einen Laut von sich gab, den Rohrstock über den Rücken zog. Dass die Kindergartentanten einen Sieg der deutschen Wehrmacht feierten, konnte ich nicht ahnen, aber dass Erwachsene für mich keine natürlichen Autoritäten mehr waren, stand nach diesem Erlebnis fest.

Noch eine andere Erfahrung, eine im Familienkreis, hat dazu beigetragen, dass ich Erwachsene schon als Kind nicht als unfehlbar wahrnahm, sondern in ihnen schon im Vorschulalter Menschen mit Fehlern sah.

Unsere Wohnung in der Weinbergstraße bestand aus fünf Zimmern, einer Kammer, einer Küche und einem Bad. Wir Kinder wohnten im Kinderzimmer, an welches das Zimmer des jeweiligen Dienstmädchens anschloss, sodass sie uns – wir aber auch sie – des Nachts überwachen konnten. Zum Garten hin lagen das Elternschlafzimmer, das Esszimmer und das Herrenzimmer, welches für uns Kindern nur zu Weihnachten zugänglich war oder wenn Gäste kamen und wir Ihnen mit Diener und Knicks guten Tag sagen durften, ehe wir im Kinderzimmer zu verschwinden hatten. Allerdings führte der Durchgang zu einer kleinen Terrasse mit der Treppe zum Garten nur durch das Herrenzimmer. Wenn wir in den Garten wollten, aber nur dann, durften wir daher das Herrenzimmer betreten.

Als mein Vater, es muss in den ersten Kriegsjahren gewesen sein, auf Urlaub oder über ein Wochenende zu Hause war, zeigt er uns Kindern seine neueste Errungenschaft: eine Taschenuhr aus Silber, die ihm ganz offensichtlich viel bedeutete. Wir durften die Uhr ansehen, sie aber nicht berühren. Das wurde uns unter Androhung der schlimmsten Strafen strikt verboten.

Ich muss zuvor sagen, dass meine Eltern uns Kinder nicht schlugen. Ich kann mich an schlimme Schimpftiraden, an Hausund Stubenarrest und an Taschengeldentzug erinnern, aber an keine elterlichen Schläge. Umso eindrucksvoller für mich war das, was an jenem Urlaubstag passierte:

Auf dem Weg in den Garten durchquerte ich das verbotene Herrenzimmer – und sah auf Vaters Schreibtisch die neue Uhr liegen. Ich blieb stehen und schaut die Uhr an. Das glitzernde runde Schmuckstück mit der langen Kette und den Zahlen im Gesicht zog mich magisch an. Schließlich lag die Uhr auf meiner Hand, ich streichelte sie vorsichtig mit nur einem Finger und entdeckte dabei ein kleines Rädchen, das sich kinderleicht drehen ließ. Mehrmals drehte ich das niedliche Rädchen hin und her und sah, wie die Zeiger der Uhr sich langsam und lautlos in Bewegung setzten. Aber mir zitterten die Knie. Zwar waren die Eltern ausgegangen und meine Brüder spielten im Garten. Es konnte also nichts passieren. Trotzdem legte ich das kleine Wunderwerk sehr bald und sehr sorgfältig an genau die Stelle zurück, an der es vorher gelegen hatte. Die Stelle hatte ich mir genauestens gemerkt.

Stunden später spielten wir drei Kinder im Kinderzimmer. Die Eltern waren zurück, es sollte gleich Abendbrot geben. Da stürmte mein Vater ins Kinderzimmer. »Wer hat mit meiner Uhr gespielt?« schrie er und ging, vor Zorn rot im Gesicht auf meinen älteren Bruder los. »Lass ihn los, lass ihn los, ich war es!« rief ich laut dazwischen und: »Ich habe die Uhr angefasst, ich habe sie in die Hand genommen, ich war es!« Mein Vater wollte nichts hören, packte meinen Bruder, legte ihn übers Knie und schlug zu. »Ich war es, ich war es!« schrie ich immer wieder, aber mein Vater ließ nicht ab. Nachdem er den Großen hinlänglich vermöbelt hatte und dieser laut heulte, packte er sich den Kleinen und versohlte ihn ebenfalls. Mein ständiges Schreien »Ich, ich war es!« hielt ihn nicht auf und erst als letzte kriegte dann auch ich meine Tracht Prügel verabreicht.