Jahrgang 1936 – weiblich

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Als mein Vater wieder draußen war, schauten mich meine beiden Brüder mit bösen Blicken an und wandten sich von mir ab. Dass es mir so sehr leidtat und dass ich mich bei ihnen entschuldigte, änderte nichts daran.

3.Tübingen (1943)

In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943, als Kassel, unter anderem der Henschel-Werke wegen, in Schutt und Asche gelegt wurde, brannte auch unser Haus in der Weinbergstraße bis auf die Grundmauern ab. Eine Phosphorbombe hatte es getroffen und alles Brennbare vernichtet. Auch meinen Puppenwagen mit meinen geliebten Puppen. Mein Vater, der einen solchen Angriff auf Kassel vorausgehen hatte, hatte dafür gesorgt, dass wir nach den Sommerferien 1943, die wir bei meiner Tante Gertrud in Tübingen verbrachten, nicht nach Kassel zurückgekehrt waren.

In Tübingen wurde ich eingeschult. Etwas spät, wie ich fand, aber da ich im November geboren war, nahm man mich 1942 mit nur fünfeinhalb Jahren trotz meines dringenden Wunsches und eines Besuchs in der Kasseler Schule, an den ich mich gut erinnern kann, nicht an. Der Schulanfang in Tübingen stellte sich für mich dann allerdings als beschwerlich heraus. Stand ich doch unter der Fuchtel von insgesamt drei Lehrern: in der Schule unter der absoluten Autorität von Herr Lange; zuhause unter der meiner Mutter und Tante Gertruds, die beide von Beruf Lehrerin waren. Immer wieder wischten Mutter und Tante die Schiefertafel aus, auf der ich die vom Lehrer am Anfang jeder Zeile vorgeschriebenen Buchstaben „OH MAMA“ und „HALLO OMA“ feinsäuberlich bis zum Ende der Zeile hingeschrieben hatte. Immer wieder, den ganzen Nachmittag, hatte ich versucht, diese verflixten Buchstaben gerade und gleichmäßig auf die Tafel zu bringen. Immer wieder kam Tante Gertrud oder Mama mit dem feuchten Schwamm und wischte alles aus. Bis endlich die ungefähr siebte vollgeschriebene Tafel Gnade bei ihnen fand. Voller Stolz präsentierte ich am nächsten Morgen mein Werk Herrn Lange, als dieser die Reihen abschritt und jede Tafel eingehend begutachtete. Ich saß in der Fensterreihe auf der letzten Bank und freute mich auf sein Lob. Doch Herr Lange schaute nur kurz auf meine Tafel, schüttelte den Kopf, nahm eine dicke rote Kreide aus der Tasche und vernichtete die Freude über mein Meisterwerk mit einem dicken Strich.


Bärbel geht zur Schule.

Tante Gertrud hatte eine große Wohnung und Platz für uns alle, aber keinerlei Verständnis für Kinder. Außerdem war sie krank und ertrug keinen Lärm. Nachdem unser Haus abgebrannt und eine Rückkehr nach Kassel daher unmöglich geworden war, eine dauerhafte Bleibe von Tante Gertrud jedoch nicht gebilligt wurde, mussten wir aus ihrer Wohnung verschwinden. Wohnungen gab es aber keine, und in Tübingen schon gar nicht. Also wohin? Mein kleiner Bruder wurde zu unserem Onkel Karl, der in Eger, im Sudetenland, eine angesehene Staatsstelle innehatte, verfrachtet. Das Kindergeschrei am Bahnhof, als der fünfjährige Jochen allein einer fremden Person übergeben wurde, klingt mir noch heute in den Ohren. Mein älterer Bruder Peter und ich wurden getrennt bei Tübinger Freunden untergebracht, während sich unsere Mutter in ganz Württemberg auf Wohnungssuche machte.

Das halbe Jahr, für das es unsere kleine Familie in wechselnder Zusammensetzung nach Tübingen verschlagen hatte, muss eine für mich nicht sehr glückliche Zeit gewesen sein. Denn nur zwei weitere, gar nicht so glückliche Ereignisse erinnere ich aus dieser Zeit. Der eine Vorfall hatte mit der Schule zu tun. Unsere Mutter war, wie gesagt, auf Wohnungssuche im „Ländle“ unterwegs und die Wohnung von Lambrechts, bei denen ich untergebracht war, lag fast eine halbe Stunde Fußmarsch von der Schule entfernt. Zu weit für meine Blase. Die Toiletten in der Schule stanken aber so grässlich und waren in jeder Hinsicht unappetitlich, dass die Blase warten musste. In zunehmender Angst, es nicht mehr halten zu können, lief ich fast den ganzen Weg bis zum hinteren Ende der Gartenstraße in Lustenau, rannte dort die Treppe hinauf in den ersten Stock, klingelte an der Wohnungstür und entleerte meine volle Blase just in dem Moment, als Frau Lambrecht mir die Türe öffnet.

Außer diesem für mich hochpeinlichen Vorfall – die Lambrechts waren ja Fremde für mich – erinnere ich nur noch den Schmerz, der mich erfüllte, als mein Bruder Peter, der bei Freunden, die auf einer Anhöhe wohnten, untergekommen war, auf dem Weg in sein Zuhause einen Hang erklomm. Ich stand am Fuß dieses Hanges und heftete meine Augen sehnsüchtig auf den kleinen Jungen, der immer kleiner wurde und schließlich auf der Höhe als winziger Punkt hinter den Bäumen verschwand.

Und doch taucht da eine Begebenheit in meinem Gedächtnis auf, die für mich zwar auch eher peinlich war, die aber dennoch eines gewissen Witzes nicht entbehrt.

Einer der Sonntagsausflüge, die meine Mutter mit uns unternahm, ehe sie auf Wohnungssuche ging, führte uns hinauf zur Wurmlinger Kapelle. Ein kleiner Friedhof, der sich mit seinen frischen Blumengestecken wie eine Art Halsschmuck um das kleine Kirchlein legte, verleitete mich zu allerlei Fragen über Kirchen, über Friedhöfe, über das Sterben und darüber, was das alles mit Religion zu tun habe. Zum ersten Mal erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, dass es zwei verschiedene Glaubensrichtungen in Deutschland gibt, hörte etwas von „katholisch“ und „evangelisch“, und zum ersten Mal nahm sich unsere Mutter Zeit, mir alle meine Fragen zu beantworten. Denn natürlich wollte ich genau wissen, worin der Unterschied zwischen „katholisch“ und „evangelisch“ bestand. Meine Mutter erklärte es mir und sie erklärte es sicher sehr gut. Doch nichts davon erinnere ich, außer der Tatsache, die mich am meisten beeindruckte, nämlich, dass den Katholiken eine Feuerbestattung verboten war, den Angehörigen der evangelischen Kirche jedoch nicht. Als ich ein paar Tage später von Herrn Lange im Rahmen einer Erhebung von Schülerdaten gefragt wurde, ob ich evangelisch oder katholisch sei und ich mich nicht mehr an die Worte erinnern konnte, sagte ich: »ich gehöre zu denen, die nach dem Tod verbrannt werden.«

4. Künzelsau

Unter der Bedingung, dass sie ihren Beruf als Lehrerin wiederaufnehmen würde – die männlichen Lehrer waren gefallen, an der Front oder in Gefangenschaft –, ergatterte unsere Mutter tatsächlich eine für damalige Verhältnisse traumhafte Unterkunft für uns: im Lehrertrakt des Schlosses von Künzelsau. Offensichtlich hatte sie es dem Bürgermeister des Ortes angetan, denn statt sie in die schon vereinbarten zwei Dachzimmer mit Kochplatte auf dem Flur zu bringen, die ihr bei ihrem ersten Besuch angeboten worden war, führte er sie bei ihrem zweiten Besuch in Künzelsau ins Schloss.


Künzelsau,

Ölbild aus dem 19. Jhdt.

Und im Schloss ging es uns gut. Meine Mutter, wir drei Kinder und die 17-jährige Toni, die ihr Arbeitsdienstjahr in unserer Familie absolvierte und die vor Heimweh nach ihrem Dorf immer wieder in Tränen ausbrach, bewohnten zu fünft drei große Zimmer. Ein Kinderschlafzimmer, das auch Toni mit uns teilte, ein Elternschlafzimmer, das meine Mutter alleine bezog, und ein großes Wohn- und Esszimmer. Die Küche und das Bad mussten wir mit einem kinderlosen Ehepaar teilen, mit Dr. Karl Helbricht und seiner Frau Gertraude. Dr. Helbricht war Mathematiklehrer in der Napolaschule7, zu der unser Lehrertrakt gehörte. Ob in weiser Voraussicht der Dinge, die da kommen würden, oder nur, weil sie die Sprache beherrschte, jedenfalls versuchte Frau Helbricht uns Kindern Englisch beizubringen, indem sie auf alle Türen und Schränke und auf jede Menge anderer Gegenstände englischsprachige Zettel klebte, die uns den korrekten Umgang mit dem jeweiligen Gegenstand vermitteln sollten. „Please flush the toilet“stand da, oder: „Please shut the door“. Mein erster englischer Satz lautete daher:

„p l e a s e sch u t te d o r“

Das ganze Schloss war rosa angestrichen, was uns damit erklärt wurde, dass Rosa die einzige Farbe gewesen sei, die es noch gab, als es nötig wurde, das Gebäude vor dem Einzug der Napola zu verputzen. Ehe dann die kleinen Jungen in Uniform kommen konnten. Angeblich die besten ihres Jahrganges. Sie sahen wie kleine Soldaten aus und gingen, mir völlig unverständlich, immer nur neben- oder hintereinander in Reih und Glied. Man sah sie nie einzeln herumrennen oder rumtoben, nur ab und zu, von einer schreienden Stimme gezwungen, über steile, extra im Schlosshof aufgestellte Holzwände klettern oder durch Schlammpfützen kriechen.

Aber die Jungen aus der Napola gingen uns nichts an, sagte meine Mutter. Und in der Tat, wir drei Kinder lebten, sofern es das Wetter irgendwie zuließ, im Park. Der Park hinter dem Schloss, früher einmal ein groß angelegter, hochherrschaftlicher Lustgarten, war völlig heruntergekommen. Aber ein wunderbarer Spielplatz. Mit seinen gefallenen Bäumen, die tiefe Löcher im Boden hinterlassen hatten, vor denen die herausgerissenen Wurzeln wie Vorhänge hingen; mit seinen Wiesen, die nie gemäht wurden und auf denen es niemanden gab, der uns hätte verjagen können, wenn wir beim Blumenpflücken das Gras niedertrampelten; und mit seinem Wäldchen, in dem man wunderbar Verstecken spielen konnte, war er ein Paradies für Kinder. Das Schönste im Park war jedoch die Ruine eines Wohnheimes, das für noch mehr Napola Schüler gebaut werden sollte, aber niemals fertiggestellt wurde, da es kein Material mehr gab, um irgendetwas zu bauen. Das steinerne Fundament dieses Phantomgebäudes war Leonies und mein Spielhaus und das Zuhause für unsere Puppen. Leonie, die bald meine beste Freundin wurde, wohnte mit ihrer Mutter im Stockwerk über uns. Auf dem Schrottplatz vor dem Schloss fanden wir Scherben in Hülle und Fülle, die wir zusammen mit locker herumliegenden Backsteinen, abgebrochenen Ästen und lehmiger Erde zum Bau einer perfekt eingerichteten Küche benutzten.

 

Im Park gab es so viel zu tun, sodass ein einziger Tag uns nie ausreichte. Aber Mutter hatte nichts dagegen, wenn wir den ganzen Tag draußen blieben. Auch wenn an klaren Tagen manchmal Flugzeuge Wellen von Donner über den wolkenlosen Himmel schickten. Die Flugzeuge, das wusste ich, flogen zu den großen Städten, um dort Bomben abzuwerfen. Aber hier, im Park gab es keine Gefahr. Wenn der Sommerhimmel zu donnern begann und unsere Mütter uns nicht riefen, rannten Leonie und ich mit meinen Brüdern in das Waldstück des Parks und versteckten uns in einer Wurzelhöhle. Der donnernde Himmel war wohl kein gutes Zeichen. Aber das Rennen unter die Bäume und das sich Verstecken hinter den Wurzelgardinen war aufregend. Und die silbernen Flugzeuge auf dem tintenblauen Himmel sahen aus wie Schwärme von Zugvögeln, die vorzeitig nach Süden flogen.

Die einzige Gefahr im Park war Dr. Schütz.

Dr. Schütz war der Direktor der Napola Schule. Obwohl er nicht Mamas Direktor war – Mama unterrichtete an der städtischen Oberschule – hatte Mama uns strengstens eingeschärft, Herrn Dr. Schütz niemals zu ärgern. Wenn mir Dr. Schütz im Park begegnete, musste ich strammstehen, meinen rechten Arm nach oben werfen und rufen:

»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,

selbst, wenn wir gerade dabei waren, unsere Puppen schlafen zu legen. Wenn ich einmal vergaß, Dr. Schütz zu grüßen oder ihn gar nicht gesehen hatte, wusste meine Mutter das immer und schimpfte mich abends. Mama wurde dann richtig ärgerlich. Dr. Schütz war allmächtig. Alle hatten Angst vor ihm. Ich merkte es daran, dass die Leute, wenn sie mit ihm sprachen, ihre Stimme senkten. Und niemand würde es je wagen, ihn als erster anzusprechen. Außer natürlich mit dem obligatorischen Gruß

»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,

den bei ihm niemand zu einem nachlässigen »Ha hit la!« verwischte, was sonst durchaus üblich war.

Ich konnte Herrn Dr. Schütz nicht leiden.

Schon, weil Mama Angst vor ihm hatte konnte ich ihn nicht leiden. Ich wusste nicht, warum Mama Angst vor ihm hatte. Dr. Schütz, dachte ich, musste jemand sein, der Dinge geschehen lassen konnte, die anderen Leuten nicht möglich waren und die ihnen vielleicht schaden konnten. Und Dr. Schütz war nie freundlich. Er war böse. Dr. Schütz hatte mich noch niemals angesprochen, aber ich wusste, dass er böse war.

Eines Tages im April 1945 wurde ich schon mittags von meiner Mutter ins Haus gerufen. Am Nachmittag hatten Flieger den Himmel mit nicht endendem Gedröhn zerschnitten. Sie kamen jetzt jeden Tag. Mama und Toni waren bekümmerter als je. Die Luftangriffe, von denen ich geglaubt hatte, sie gehörten nur zu den Städten, trafen nun auch uns. Immer häufiger füllten die Luftschutzsirenen mit ihrem schrillen Heulen die Nacht. Mama bestand darauf, dass wir in unseren Kleidern schliefen. Wenn dann die Sirenen loslegten, mussten wir mitten in der Nacht aufstehen und mit den anderen Hausbewohnern in den Keller gehen, wo es seltene Süßigkeiten gab und Salzgebäck, das ich vorher noch nie gekostet hatte. Obwohl ich die nächtlichen Stunden im Luftschutzkeller sehr lustig fand, begann ich zu begreifen, was das bedeutete: KRIEG. Da ich eine Welt ohne Flugzeuge nicht kannte war es schwer, mir ein Leben ohne KRIEG vorzustellen. Das Wort FRIEDEN kannte ich schon, aber es blieb mir ein Fremdwort. Aber jetzt ahnte ich, dass die Flieger, und unser verbranntes Haus in Kassel, und die nächtlichen Exkursionen in den Keller etwas mit dem KRIEG zu tun hatten und dass er gefährlich war. Wie sehr gefährlich er war, sollte ich bald darauf noch selber erfahren.

Denn jetzt gab es auch Flieger, die ganz niedrig fliegen konnten und die auf der Straße Fahrzeuge und auch Menschen beschossen. Als ich eines Tages alleine eine menschenleere Straße entlangging, um Mama von ihrer Schule abzuholen, kreiste plötzlich ein solcher Tiefflieger über meinem Kopf. Und weit und breit keine Wurzelhöhle, in der ich mich verstecken konnte. Ich war zu Tode erschrocken, öffnete das nächstgelegene Gartentor und kroch in dem fremden Garten unter einen Busch. Noch nie war ich in den Garten eines fremden Hauses eingedrungen und noch nie hatte ich mich, wie jetzt, in einem fremden Garten unter so komisch stechende Zweige gequetscht. Das Flugzeug hatte mich sicher gesehen und würde nun auf mich schießen.

Das Flugzeug kreiste eine ganze Weile über mir, als überlege es, ob es sich lohnte mich zu erschießen. Dann spritzte es eine lange Reihe walnussgroßer Löcher in das Straßenpflaster vor dem Gartentor und machte sich davon.

Von dem Tag an wusste ich was KRIEG war und hasste ihn. Der Hass wurde noch größer, als zwei Wochen später Mama und Leonies Mutter einen Großteil der Lebensmittel, die sie gehortet hatten, in zwei große Waschkörbe packten und diese zusammen mit ihren insgesamt vier Kindern in das Haus von Frau Wagner verfrachteten, die meine Mutter von irgendwoher kannte und die mit ihrem Sohn am westlichen Abhang des Tals wohnte. Wir Kinder durften jetzt das Haus nicht verlassen, denn draußen strich die Schießerei fast den ganzen Tag lang über unsere Köpfe hinweg. Auf der Höhe hinter uns, auf dem Nagelsberg, saßen die Amerikaner mit schweren Geschützen und offenbar mit sehr viel Munition. An dem Abhang auf der gegenüberliegenden Seite des Tals kam immer wieder Feuer und Rauch aus dem Wald. Mama sagte uns, dass sich deutsche Truppen dort verschanzt hätten.

Wenn das Schießen um die Mittagszeit zum Stillstand kam, ließ Mama uns einen Moment in den Garten gehen. Mit einem Feldstecher konnten wir die amerikanischen Kampfkanonen sehen, die aus den Häusern weit oberhalb unseres Hauses in die Luft starrten.

Nach etwa einer Woche waren die mitgebrachten Lebensmittel aufgebraucht. Mama und Leonis Mutter mussten einen neuen Korb holen. Im Keller des Schlosses hatten sie noch Reserven. Der Weg zum Schloss führte durch das Kochertal über den Fluss. Von dort war es bis zum hinteren Parkeingang des Schlosses nicht sehr weit. Aber unsere Mütter mussten den Fluss überqueren, über den es keine Brücke gab. Nur ein Floß. Alle Brücken im Kochertal waren von den Deutschen gesprengt worden, um dem Feind den Übertritt über den Fluss zu verwehren. Als Mama und Leonies Mutter mit ihrem gefüllten Korb vom Schloss zurückkamen, hatte jemand das Floß auf die andere Seite des Flusses gezogen. Tiefflieger waren unterwegs. Ganz offensichtlich hatten sie die beiden Frauen schon ausgemacht und schossen auf sie. Dann ließen sie etwas fallen, was als lilafarbener Nebel wie eine Giftwolke den Berg hinunterrollte und die Badehütten umhüllte, unter denen sich – mein Bruder Peter hatte das mit dem Feldstecher beobachtet –, unsere Mütter versteckt hatten. Meine Seele schoss zum Fluss hinunter, kroch in die violette Wolke und versuchte, meine Mutter herauszuziehen. Aber wenn mir das gelingen würde, würden die Tiefflieger Mama sehen und totschießen. Ich schlug die Arme um den Körper und ging in den Keller, unseren Aufenthaltsort während des Tages. Ich setzte mich auf meinen Platz und begann wie in Trance mein Nachtgebet zu beten: »Lieber Herr Jesus, segne unseren Führer und mache, dass Deutschland den Krieg gewinnt. Bitte bring uns den Frieden und lass Vati gesund nach Hause kommen.«, das einzige Gebet, das ich kannte. Die anderen Kinder folgten und so saßen wir dann alle Fünf in dem dunklen Raum und wiederholten wieder und wieder die wenigen Gebete, die wir kannten.

Meine und Leonis Mutter kamen wohlbehalten zurück und nach ein paar Tagen konnten wir heim ins Schloss. Das Schießen hatte aufgehört und ich durfte wieder nach draußen gehen. Ich spazierte durch die Stadt, um mit eigenen Augen zu sehen, was die Bomben und die Gewehre angerichtet hatten. Schamlos präsentierte das Haus einer Mitschülerin sein Innenleben: zerbrochene Tische und Stühle, Schränke und Kommoden und überall Federn, die aus zerrissenen Daunendecken über kaputte Bettgestelle flogen. Und Bilder, die schief an der Wand hingen. Die Bäckerei war in der Mitte gespalten: zwei Häuser jetzt, die auseinanderklafften. Andere waren in Berge von Backsteinen verwandelt aus denen Teile von Möbeln herausragten wie abgetrennte Arme und Beine von Menschen, die lebendig begraben worden waren. Als ich auf die Hauptstraße kam, sah ich vor der Apotheke, die kein Dach mehr hatte Herrn Dr. Schütz auf mich zukommen. Es gab keine Möglichkeit ihm auszuweichen. So marschierte ich weiter, auf Beinen, die sich wie steife Stöcke anfühlten. Als ich Dr. Schütz fast erreicht hatte, flog mein rechter Arm nach oben, die Hand weit nach vorne gestreckt. Den anderen Arm hielt ich fest gegen meine Seite gedrückt:

»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«

presste ich mit kräftiger Kinderstimme hervor. Aber dann machte Dr. Schütz, der mich noch niemals zuvor angesprochen hatte, etwas ganz Außergewöhnliches: Er trat ein paar Schritte nach vorn, beugte sich zu mir herab, ergriff meinen ausgestreckten Arm und führte ihn sanft nach unten:

»Wir grüßen jetzt nicht mehr so, Bärbelchen«,

sagte er,

»warum sagst du nicht einfach „Grüß Gott, Herr Dr. Schütz?“«.

Damit ging er weiter. Wie vom Donner gerührt blieb ich auf der Straße zurück. Nach einer Weile löste sich der Kampf in meinen Muskeln, ich schlug beide Hände vors Gesicht. Ich hatte verstanden. Der Krieg war zu Ende.

Herrn Dr. Schütz begegnete ich ein paar Jahre später wieder. Als Direktor des renommierten Stuttgarter Dillmanngymnasiums, das mein Bruder Jochen besuchte.

Nachdem wir beim Eintreffen der Amerikaner aus dem Schloss, welches sich die „Amis“ als Hauptquartier erwählt hatten, rausgeschmissen worden waren, landeten wir zunächst in einer winzigen Dachkammer in einem uralten Gasthaus in der Schnurgasse. Unser Zuhause, ein winziges Kämmerchen für vier Personen, war dunkel und eng, lag aber mitten in der Stadt, dicht neben dem Rathaus. Nach nur wenigen Wochen konnten wir jedoch in zwei Zimmer plus einer Dachkammer in die KonsulÜbele-Straße umziehen. Küche und Bad teilten wir uns mit der Hauptmieterin. Mein älterer Bruder Peter und ich mussten in der Dachkammer schlafen, in der es im Sommer brütend heiß wurde. Was uns veranlasste, nachts durch die Dachluke auf das schräge Dach zu klettern, wo mich mein Bruder anhand irgendwelcher getrockneter Blätter in die Kunst des Rauchens einführte. Auf dem Dach genossen wir ungeahnte Freiheit, fühlten uns als Herren der Welt und außerhalb jeglichen elterlichen Zugriffs. Dachten wir! Wir hatten nicht bemerkt, dass im Haus schräg gegenüber eine Frau im Rollstuhl Tag für Tag, und auch abends solange es hell war, am Fenster saß und alles beobachtete, was ihre Augen erreichen konnten. Normalerweise guckte sie auf die Straße, aber eines Abends richtete sich ihr Blick nach oben. Sie sah zwei Kinder auf einem abschüssigen Dach sitzen und bekam einen Schreikrampf. Von da an war die Dachkammer nur noch heiß und stickig, kein Fenster mehr zur Freiheit.

Die Zeit in der Konsul-Übele-Straße war auch die Zeit, in der amerikanische Soldaten in offenen LKWs durch die Straßen fuhren und den Kindern, die den Autos hinterherliefen, Kaugummis und Schokolade zuwarfen. Ein Schwarm von Kindern pflegte einem solchen Lastwagen zu folgen und manche Kinder kletterten sogar auf die Ladefläche hinauf. Ich wandte mich ab. Ich fand es abstoßend und unwürdig, dass man sich wegen ein paar Süßigkeiten vor dem „Feind“ erniedrigte. Denn Feinde waren sie doch noch immer, die amerikanischen Soldaten, oder?!

In der Konsul-Übele-Straße wohnten wir nur einen Sommer. Dann fand Mutter die Wohnung im Hause von Frau Kurtz in der Alten Amrichshäuserstraße 17, wo ich den Rest meiner Kindheit verbrachte. Die Konsul-Übele-Straße blieb mir vor allem wegen der Ausflüge aufs Dach in Erinnerung. Sie war aber auch deshalb bemerkenswert, weil ich dort meine ersten eigenen Schuhe bekam. Keine, die mein Bruder Peter schon getragen hatte, sondern ein Paar ganz neue, aus Autoreifen geschnittene Sandalen, die mit dicken Schnüren zum Festbinden versehen waren. Und ich hatte dort, obwohl noch keine 10 Jahre alt, meinen ersten Anfall von Weiblichkeitswahn. Ich schob mir zwei mit Stoffresten gefüllte kugelrunde Netze, die Art Ball, mit dem wir Kinder damals spielten, unter mein enges Sommerhemd und flanierte mit falschem Busen und stolz erhobenem Kopf die ziemlich lange Konsul-Übele-Straße hinunter. Bis mir, just in dem Moment, als mir ein Junge, den ich kannte, entgegenkam, einer der Bälle aus dem Hemd rutschte und zu Boden fiel.

5. Alte Amrichshäuser Straße 17

 

Erst in der Alten Amrichshäuser Straße 17, im Haus von Frau Kurtz, fand ich mein endgültiges Zuhause. Das alte Haus mit dem Holzbalkon zur Straßenseite gehörte zu den wenigen Häusern, die in den zwanziger Jahren auf der Westseite des Flusses weit außerhalb des Stadtkerns gebaut worden waren, die aber jetzt, nachdem sich das Städtchen in alle vier Himmelsrichtungen, das Tal hinauf und hinunter, und weit auf die umliegenden Anhöhen hinauf ausgedehnt hatte, zum alten Stadtteil Künzelsaus gehörten. Frau Kurtz war eine alte Dame ohne Familie. Das Haus mit dem großen Gemüsegarten vor und dem Obstgarten hinter dem Haus war ihr ein und alles. Es war in Hanglage gebaut und bestand demzufolge auf der Vorderseite aus drei, auf der Obstgartenseite nach hinten hinaus aus nur zwei Etagen.


Alte Amrichshäuser Straße 17.

Obwohl als Einfamilienhaus erbaut, hatten jetzt, kurz nach Kriegsende, insgesamt 5 Partien im Haus von Frau Kurtz Unterkunft gefunden. Zwei Familien mit Kindern, ein Ehepaar und zwei alleinstehende ältere Damen. Eine pensionierte Bibliothekarin und Frau Kurtz selbst bewohnten im ersten Stock, der Bel Etage, die zwei vorderen Zimmer mit Balkon. Im Zimmer daneben, das nach hinten hinausging und neben einem altmodischen Bad mit Holzofenboiler und einer Küche mit Kohleherd lag, wohnte ein aus Schlesien vertriebenes Ehepaar, Herr und Frau Ascherl, die noch immer auf der Suche nach ihrem einzigen Sohn waren, der in den letzten Kriegsmonaten an die Ostfront eingezogen worden war, und von dem die Eltern seither nichts gehört hatten.

Meine Familie bewohnte im Oberstock eine Küche und dreieinhalb Zimmer: Mutters Arbeits- und Schlafzimmer, ein Wohn- und Esszimmer, ein Schlafzimmer für die Kinder und ein kleines Zimmerchen, in das gerade mal ein Bett für Rosel, die „gute Seele“ unserer Familie, und ein schmaler Schrank für ihre Kleider passten. Waschen musste man sich in der Küche. Mit Rosel waren wir fünf. Meine Mutter, mein Bruder Peter, mein Bruder Jochen, Rosel und ich. Und auch später, als mein älterer Bruder für die gymnasiale Oberstufe in die Klosterschulen des württembergischen Landexamens nach Maulbronn und Blaubeuren ins Internat geschickt wurde, waren wir wieder fünf. Nachdem ein Bett im Kinderzimmer frei wurde, kam Poldi zu uns. Meine Mutter hatte ihn, der in die erste Klasse der Oberschule ging, als Pflegekind aufgenommen.

Poldis Mutter war 1946 mit einem amerikanischen Offizier nach USA entwichen. Möglicherweise in der Annahme, dass ihr Mann, Poldis Vater, nicht mehr vom Krieg zurückkommen würde. Doch Poldis Vater kam zurück. Fast zwei Jahre später und nachdem er lange nach seiner Frau und seinen beiden Söhnen gesucht hatte. Er fand Poldi und seinen Bruder Eberhard schließlich in Hohenlohe, in einem kleinen Dorf nahe Dörrenzimmern, in der Obhut seiner Eltern. Tief getroffen vom Verrat seiner Frau kehrte der Vater auf der Suche nach einem beruflichen Neuanfang in seine Heimatstadt Dresden zurück, obwohl ihn alle Freunde und vor allem seine Eltern dringend davor gewarnt hatten, sich in das Herrschaftsgebiet der Sowjets zu begeben. Ich habe nie erfahren, was Poldis Vater im Krieg und unter der Naziherrschaft gemacht hatte – ich weiß nur, dass man, nachdem er in Dresden angekommen war, nie wieder von ihm gehört hat und dass alle Versuche, ihn zu finden, umsonst blieben. Seine Kinder lebten bei den Großeltern, und da es in ihrem Dorf keine weiterführende Schule gab, suchten und fanden sie in Künzelsau Pflegefamilien, in denen ihre beiden Enkel während der Schulzeit unterkommen konnten. Eine dieser Familien waren wir. Ich mochte Poldi sehr. Ein weiterer kleiner Bruder, der so anhänglich, so liebebedürftig und selbst so liebevoll war – das war ein großes Geschenk.

Und dann gab es natürlich Rosel. Rosel, ein Flüchtlingsmädchen aus Schlesien, war erst siebzehn Jahre alt, als sie zu uns kam. Sie blieb bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr in unserer Familie. Damals, als Rosel noch neu bei uns war, hatte sie einen Freund, den sie, wie sie mir einmal gestand, sehr liebte. Aber sie wollte so jung noch nicht heiraten. Sie musste sich doch erst eine Aussteuer zusammensparen. Der Freund wollte aber nicht warten, verließ Künzelsau und heiratete eine andere. Trotz einer ganzen Anzahl von Verehrern, die heftig um Rosel warben, konnte sie sich für keinen anderen Mann entscheiden. Und dann, nach über zehn Jahren, hielt eines Abends ein Motorrad vor der Alten Amrichshäuser Straße Nr. 17. Rosels Jugendliebe! Seine Ehe war gescheitert, ob Rosel ihm verzeihen könne. Sie konnte und zog mit ihm nach Norden. Für mich war Rosel eine warme Freundin und Trösterin gewesen. Sie blieb mir und meiner Familie bis zu ihrem Tod im Jahre 2004 eng verbunden. Für die Mutter war Rosel eine unersetzliche Hilfe. Sie brachte der „Frau Doktor“, wie Rosel meine Mutter nannte, grenzenlosen Respekt entgegen. Obwohl meine Mutter doch gar keinen Doktortitel besaß. Den Titel hatte sie, wie das zu ihrer Zeit üblich war, mit meinem Vater geheiratet.

Mit Hilfe von Rosels landwirtschaftlichen Kenntnissen wurde unser Speisezettel bald kostengünstig angereichert. Frau Kurtz hatte uns im vorderen Garten fast die Hälfte der Nutzbeete überlassen. Auf denen nun Tomaten und Salat, Kohlrabi, Bohnen und Erdbeeren angepflanzt wurden. Und auf dem schmalen, links neben dem Haus gelegenen Rasenstreifen durften wir Hühner halten. Aus alten Brettern und Holzresten zimmerte mein Bruder mithilfe von Herrn Wüster, der im Souterrain wohnte, einen Hühnerstall und umgab ein etwa fünf mal sechs m² großes Rasenstück mit einem Zaun aus Maschendraht, damites den Hühnern – zwei weißen Leghornhennen, drei schwarzen Blesshühnern und einem bunten Gockelhahn – als Auslauf dienen konnte. Im unteren Teil des Obstgartens, der hinter dem Haus bis zur Neuen Amrichshäuser Straße anstieg, konnten meine Brüder und ich Hasen halten. Jedes der Kinder hatte einen eigenen Stall mit ein oder zwei Stallhasen – Deutsche Silber, Blaue Wiener oder Angorakaninchen –, für die wir jeweils allein zuständig waren. Wir mussten die Kaninchen füttern, den Stall ausmisten und, wenn es Junge gab, für besondere Streu und besondere Nahrung sorgen. Wenn es ans Schlachten ging, was unausweichlich anstand, gab es vor allem bei mir tränenreichen Protest.

Aber meine Mutter hatte noch weitere, sehr nützliche Ressourcen für uns erschlossen. An jedem Samstag gingen sie, mein älterer Bruder Peter und später auch ich selbst in eines der umliegenden Dörfer, um dort bei den Bauern Butter und Milch und Mehl zu kaufen. Trotz der nicht ganz unbedeutenden Ernte an Gemüsen und Obst, die wir aus unserem Garten bezogen, reichte das, was man in der Stadt im Laden kaufen konnte, nicht aus, um uns alle – Mutter, Rosel, die beiden Brüder, und mich – satt zu kriegen. Und Mutter kannte die meisten Bauern aus den Dörfern der Umgebung. Sie waren alle bei ihr im Kurs gewesen. Als es nach dem Ende des Krieges in der Schule keinen Unterricht mehr gab und Mutter keine Stelle und daher auch kein Einkommen mehr hatte, bot sie Englischkurse für Erwachsene an. Allabendlich um sechs Uhr in den Räumen des Kindergartens. Alle Leute, auch die Bauern, wollten damals Englisch lernen. Vor allem die Bauern. Da jetzt die Amerikaner die Herren im Land waren, wollten sie deren Sprache wenigstens so weit beherrschen, dass sie mit ihnen reden und verhandeln konnten. Mutters Kurse waren immer überfüllt und die Bauern bezahlten mit Milch und Eiern und Mehl. Manchmal auch mit einem Schinken oder mit Würsten, wenn geschlachtet worden war. Im zweiten Jahr nach dem Krieg, ließ dann allerdings der Andrang nach. Die Bauern hatten die Angst vor den fremden Eroberern verloren; es schien nicht mehr so wichtig, deren Sprache zu können. Aber unsere Mutter behielten sie in dankbarer Erinnerung. Wir durften jederzeit kommen und uns mit den in der Stadt noch immer raren Lebensmitteln versorgen.