Jahrgang 1936 – weiblich

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Als ich mit nassen Haaren und triefendem Kleid den Wiesenweg entlang und dann das kleine Straßenstück bis zu unserem Haus zurückging, war mir, als würde ich Spießruten laufen, obwohl kein Mensch auf der Straße war. Zornestränen liefen mir übers Gesicht. Zornestränen über mich selbst! Ich glaubte, jeder Mensch müsse mir ansehen, welch ungeheuerliche Dummheit ich da vorgehabt hatte. Auf den Sportplatz rennen, Fritz zur Rede stellen, die beiden Mitschülerinnen beschimpfen! Wie konnte ich nur! Wie schrecklich hätte ich mich blamiert, wenn der Fluss mich nicht aufgehalten hätte! Die Scham drang mir bis ins Mark.

Zuhause angekommen wechselte ich die Kleider und schloss mich im Kinderzimmer ein. Noch waren die anderen nicht von der Schule zurück. Ich holte ein sauberes Heft aus meinem Ranzen und schrieb mit meinem lecken Füllfederhalter, der nach jedem Gebrauch Tintenflecken auf Zeige- und Mittelfinger zurückließ, mit möglichst sauberen Buchstaben folgendes Gelöbnis in mein Heft:

»Nie mehr werde ich Fritz ansehen. Ich werde mich zur Seite drehen, wenn er mich anschaut. Nie mehr werde ich im Religionsunterricht vor ihm sitzen und ich werde niemals mehr eine Radtour mit ihm machen. Ich werde nicht mehr mit ihm spielen. Ich werde so tun, als gäbe es Fritz Weidler nicht«.

Es fiel mir unendlich schwer, mein Gelöbnis einzuhalten und Fritzens freundlichen Attacken zu widerstehen. Fritz suchte bei jeder Gelegenheit Blickkontakt, versuchte, mir kleine Geschenke und Bücher aus den Beständen seiner Tante zuzustecken, und bei dem täglichen Klassenraumwechsel boxte er mich liebevoll. Obwohl es mir das Herz zerriss, blieb ich standhaft. Ich sah ihn nicht, redete nicht mit ihm, ich ließ mich auf nichts ein. Ein ganzes Jahr lang bestrafte ich mich und hielt durch. Dann musste ich Künzelsau verlassen und zum Vater nach Stuttgart ziehen. Und sah Fritz nur noch selten. Gelegentlich an den Wochenenden. Erst jetzt sprach ich wieder mit ihm und in den großen Ferien nach meinem Auszug aus Künzelsau verabredete ich mich mit ihm zu einem Fahrradausflug.

Noch nie zuvor hatten wir einen Fahrradausflug zu zweit gemacht. Zum ersten Mal nur wir beide. Fritz und ich. So viel ich erinnere, wollten wir die Stuppacher Maria von Matthias Grünewald besuchen, die etwa 20 km von Künzelsau entfernt in einer kleinen Kapelle zu Hause war. Aber wir kamen nicht bis zur Kapelle. Auf halbem Weg packten wir in einer Waldlichtung nahe an der Straße unsere mitgebrachten Wurst- und Käsebrote aus, zogen die Cola- und für Fritz eine Bierflasche aus dem Rucksack und lagerten uns zum Picknick. Das Picknick artete jedoch in eine wilde Rauferei aus, da Fritz versuchte, mich zu küssen und ich mich mit der ganzen Entschlusskraft meiner 14 Jahre dagegen wehrte. Meine Freundin Hanne und ich, wir hatten doch geschworen, uns erst von dem Manne küssen zu lassen, den wir auch heiraten würden. Und ob ich Fritz heiraten wollte, darüber war ich mir noch nicht im Klaren. Aber der Abwehrkampf fiel mir schwer. Zum ersten Mal spürte ich die Kraft sexuellen Begehrens meinen ganzen Körper wie einen Rausch durchfluten und durfte ihm doch nicht nachgeben.

Ob wir die Stuppacher Madonna bei diesem Ausflug dann doch noch irgendwie erreicht haben, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass sich in der darauffolgenden Nacht wilde Albträume und traumatische Schuldgefühle wie Felsbrocken auf meine Brust legten. Mich nicht schlafen ließen und mich noch in den Tag hinein verfolgten. Trotzdem zog ich Ende Juli mit Fritz und Uli, dem jüngeren Bruder von Fritzens Freund Klaus, und mit meinem Bruder Jochen auf hochgepackten Fahrrädern und ausgerüstet mit Schlafsäcken und Zelt, mit Kochgeschirr und Gaskocher zu viert in die Schweiz. Die Reise war wunderschön. Erotisch aufgeladen, aber ungefährlich. Im Zelt schlief ich außen neben meinem kleinen Bruder und die gemeinsamen Unternehmungen, Zeltplätze aussuchen, Zelt aufbauen, irgendetwas Essbares für uns vier in dem großen Kochtopf zusammenbrauen, in fremden Seen baden, in Sandalen auf hohe Berge zu steigen – den Pilatus zum Beispiel und die „Jungfrau“ –, all das gehörte zum zauberhaften Schlussakt meiner Kindheit.

Denn unsere Reise endete auf dem „Tonacker“. Onkel Gusti und Tante Liseli, denen der Tonacker gehörte, hatten nach dem Krieg mehrmals unterernährte Kinder aus verschiedenen europäischen Ländern aufgenommen und auf ihrem Bauernhof hochgepäppelt. Durch die Vermittlung einer Freundin meiner inzwischen verstorbenen Tante Gertrud war ich 1949, als zwölfjähriges an chronischer Bronchitis leidendes Kind auf den Tonacker gekommen. Und hatte mich dort drei herrliche Monate lang verwöhnen lassen. Mit gutem Essen, mit nicht entrahmter Frischmilch direkt aus dem Stall, mit Bergen von Schokolade, die es in Deutschland noch nicht gab und die mir von allen Tanten und Onkeln und Freundinnen, die auf den Tonacker zu Besuch kamen, so reichlich zugesteckt wurden, dass ich Vorräte davon aufsparen und mit nach Hause bringen konnte. Verwöhnt worden war ich aber nicht nur mit Nahrhaftem, sondern auch mit Zuwendung und Liebe. Denn nicht nur Tante Liseli und Onkel Gusti, auch die im Altenteil auf dem Hof lebenden Großeltern und Erna, die Magd, waren so liebevoll und freundlich zu mir gewesen, dass ich niemals Heimweh bekam. Und jetzt den Wunsch hatte, meine Pflegeeltern von damals wieder zu besuchen.


Mit Jochen u. Fritz am Bodensee,1953.

Nach einem Tag Pause auf dem „Tonacker“ fuhren Fritz und Uli nach Deutschland zurück. Ich blieb mit meinem Bruder für eine weitere Woche zu Gast auf dem Tonacker. Onkel Gusti und Tante Liseli hatten zu dieser Zeit einen Knecht aus Deutschland eingestellt, Dieter, dessen Vater Altphilologe und Rektor des Herrenberger Gymnasiums war, der aber selbst Bauer werden wollte. Dieter war ein aufgeweckter junger Mann, mittelgroß und mit sonnengebräunten Armen, fröhlichen braunen Augen und leichtgelocktem Haar, das seinen runden Kopf wie eine braune Kappe umschloss. Dieter fand offenbar Gefallen an mir. Ich half ihm im Stall, fuhr neben ihm auf dem Kutschbock und bei Tisch lachten und scherzten wir beide auf Schwäbisch, unserer gemeinsamen Muttersprache. Eines Nachmittags versuchte Dieter mich am Ausgang der Scheune von hinten mit seinen kräftigen Armen zu fassen und zu küssen. Ich entwand mich ihm schnell; aber der kurze Moment, in dem er mich im Arm gehalten und an sich gezogen hatte, ließ mich brennen. Dieter war ein gestandener Mann. Seine Wärme ergriff meine Seele. Ich verliebte mich in Dieter.

Am Sonntag lud mich Dieter zu meinem allerersten Rendezvous ein, zu einer Kahnfahrt auf dem nahe gelegenen Zürchersee und anschließend zu Eis und Kuchen im Terrassencafé über dem Wasser. Unsere Unterhaltung verlief anfangs etwas stockend, dann aber sprachen wir über meine Radtour, über meine albernen Klassenkameradinnen in Stuttgart und über das Leben in der Stadt. Und Dieter erklärte mir, warum er Bauer werden wolle. Wir sprachen über alles, was es zwischen einem erwachsenen Mann und einem 15jährigen Mädchen zu sprechen gab. Einem jungen Mädchen, das dem jungen Mann gefiel, das aber offensichtlich völlig unerfahren und als „Pflegetochter“ des Chefs ohnehin tabu war. Dieter machte keinen weiteren Versuch, mich zu berühren, aber das war auch nicht nötig. Sobald ich mir darüber klar geworden war, dass ich diesen jungen Mann liebte, der mir jetzt ganz ohne Stallgeruch, glattrasiert und in frisch gestärktem Sonntagshemd gegenübersaß, hatte ich in meinem Jungmädchenherzen beschlossen, ihn, wenn ich älter wäre, zu heiraten und mit ihm einen Bauernhof zu betreiben. Ich war mir meiner Sache so sicher, dass ich es nicht für nötig hielt, jetzt mit ihm darüber zu sprechen. In drei Jahren, wenn ich mit der Schule fertig wäre, würde ich wiederkommen. Dass ich seinetwegen ein Jahr später nach Amerika fahren würde, ahnte ich nicht.


3Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts, Deduktion der Ehe, in: Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte Bd. 3, S. 304ff. Da eine Frau, davon geht Fichte aus, keinen Geschlechtstrieb besitzt und sich ihrem Mann daher aus Liebe hingibt, gibt sie, die an sich gleiche Rechte wie jeder Mensch hat, mit der Verheiratung nicht nur ihren Namen, sondern auch alle ihre bürgerlichen Rechte auf. Denn „Liebe“ bedeutet die vollständige Unterwerfung unter den Willen, die Rechte und die Interessen des geliebten Menschen.

4Das im Kaiserreich 1880 erlassene Gesetz, das besagte, dass Beamtinnen bei Heirat den Beruf aufgeben müssen, wurde zwar dem Grundsatze nach am 11. August 1919 durch die Weimarer Verfassung aufgehoben. Es dauerte jedoch noch mehr als 30 Jahre bis der Verfassungsgrundsatz in ganz Deutschland durch das den Ländern vorbehaltene Beamtenrecht umgesetzt wurde und Beamtinnen nach der Heirat selber entscheiden konnten, ob sie weiterhin als Beamtinnen berufstätig sein wollten, oder nicht.

5Julie hatte sich in einen der Untermieter meiner Großmutter verliebt, einen Gerichtsreferendar ohne Stelle und Einkommen. Sie musste jedoch den Bewerber heiraten, den ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, weil er schon verbeamtet war und gut verdiente.

6Nicht-Angriffspakt zwischen Deutschland und Japan.

7Napola stand für Nationalpolitische Erziehung-bzw. Lehranstalt und bezeichnete die über ganz Deutschland verteilten Elite-Internatsschulen für Jungen, die für den nationalsozialistischen Führungsnachwuchs ausgewählt worden waren.

Was Mann! Zieh nicht den Hut so in die Stirn!

Gib Leiden Worte!

Schmerz, der nicht frei spricht,

 

flüstert im Herzen bis es bricht.

(Shakespeare: Macbeth)

Kapitel II: Jugend

1. Mein Vater

Mein Vater wurde am 7. Oktober 1900 geboren. Als meine Großeltern im Jahre 1950, da war ich 13 Jahre alt, ihre goldene Hochzeit feierten, fing ich an zu rechnen. Die Feier war Ende Juni und dass eine normale Schwangerschaft neun Monate dauert, wusste auch ich schon. Da mein Vater kein „Frühchen“ gewesen war, hatten die Großeltern wohl heiraten müssen! Und das im Jahre 1900! Später erfuhr ich, dass mein geliebter Opa als junger Mann und Polizeiamtsanwärter eines Praktikums wegen Ende des 19. Jahrhunderts ein halbes Jahr lang bei der renommierten Bäcker-Familie Fröschle in Stuttgart zur Untermiete wohnte. Pauline Fröschle, meine spätere Großmutter, die Tochter des Hauses, spielte Klavier, liebte die Musik und wollte Sängerin werden. Einer der wenigen Berufe, die für Frauen zugelassen waren, da Altstimmen und auch Soprane anderweitig schwer zu bekommen waren. Als das Praktikum zu Ende war und mein späterer Großvater Ernst Schweizer wieder ins heimatliche Heilbronn zurückgekehrt war, entdeckte Paulines Vater bestürzende Veränderung an seiner begabten Tochter, reiste nach Heilbronn und stellte den Ex-Untermieter zur Rede. Es müsse schnellstmöglich geheiratet werden.


Ernst Schweizer, 1953.

Obwohl der Knabe, der am 7. Oktober 1900 geboren wurde, gesund war und, wie sich herausstellte, viel von dem künstlerischen Talent seiner Mutter geerbt hatte, verfolgte ihn der „Makel“ seiner Geburt lebenslang. Es schien, als ob ihm seine Mutter nicht verzeihen konnte, dass sie seinetwegen gezwungen wurde zu heiraten und auf ihre Sängerinnen-Karriere zu verzichten. Sein jüngerer Bruder Karl, der seiner eigenen Einschätzung nach weniger begabt war als sein älterer Bruder, war und blieb der Liebling der Mutter.

Dass mein Vater sein Leben lang das „Bankert“ blieb und in der Familie seines Bruders als solches über ihn gesprochen wurde, hat sein Wesen nicht unerheblich geprägt. Während sich Karl, mittelgroß und stämmig, mit markigem Quadrats Kopf und von den Eltern der Kurze genannt, zu einem zielstrebigen und durchsetzungsfähigen Manager entwickelte – er brachte es auch nach 1945 ziemlich schnell wieder nach oben, zum Stadtbaurat der Stadt Stuttgart, – war mein Vater, der Lange, eher zögernd, sensibel und unentschlossen. Im Jahre 1950, nachdem mein Vater zum Landrat des Kreises Heidenheim gewählt worden war, focht ein unterlegener Gegenkandidat die Wahl mit dem Argument an, mein Vater sei PG8, Mitglied der nationalsozialistischen Partei, gewesen. Statt zu kämpfen, wie sein Bruder ihm riet, verzichtete mein Vater auf das Amt. Er trat freiwillig zurück. Karl hat ihm das als unentschuldbare Schwäche ausgelegt und nie verziehen.


Mein Vater und sein Bruder Karl.

Dass Karl der Liebling unserer Großmutter war, wirkte sich u.a. dahingehend aus, dass meine Oma noch nach dem Tod meines Großvaters – sie starb ein knappes Jahr nach ihm – alle ihrer Meinung nach kostbaren Einrichtungsgegenstände ihrer Wohnung mit einem Aufkleber »Für Karl« versah und das einzige Wertobjekt, welches meine Großeltern besaßen, ein Grundstück am Rande von Stuttgart, an Karl vermachte, der doch Architekt war und es bebauen könnte. Was zum endgültigen Bruch zwischen den Brüdern führte. Mein Vater focht das Testament an, bekam Recht und die Brüder sprachen nie mehr ein Wort miteinander. Eine Einigung über das Erbe gab es erst nach dem Tod der beiden Streithähne in der nächsten Generation. Karls Sohn, mein Vetter Uli, einigte sich mit meiner Mutter und das Grundstück, bzw. sein Verkaufserlös wurde geteilt.

Als mein Vater 1946 aus dem Krieg zurückkam, war er ein gebrochener Mann. Die Zeit der Gefangenschaft, ein ganzes Jahr bei Wind und Wetter auf freiem Feld, später dann mit notdürftiger Bedeckung durch geflickte Zelte und offene Holzschuppen, die Hungerrationen aus Brot und Wassersuppe, und schließlich die Notoperation unter bedenklichen Umständen hatten den 45Jährigen in einen kranken Mann verwandelt.

Die Notoperation war im französischen Gefangenenlager erfolgt. Der Schmerz im Arm hatte etwa ein halbes Jahr nach seiner Einlieferung dort begonnen. Mein Vater biss die Zähne zusammen und schwieg. Angesichts des Zusammenbruchs aller menschlicher Bezüge und des Untergangs seiner Welt waren körperliche Schmerzen nicht von Belang. Er wusste nicht, ob seine Frau und die Kinder am Leben waren, und den Kontakt zu seiner langjährigen Freundin und Geliebten Agathe hatte er schon vor Monaten verloren, als er im letzten Abschnitt dieses aussichtslosen Krieges einer Kompanie zugeordnet wurde und in Südfrankreich gegen die Invasionstruppen der Westmächte seinen allerersten Kampfeinsatz antrat.

Mein Vater ignorierte die Schmerzen und fuhr fort, mit dem keilförmigen, etwa handtellergroßen Stein den Rand einer der Blechdosen zu bearbeiten, in der er täglich seine Suppe zugeteilt bekam. Der Stein war sein kostbarster Besitz. Er hatte lange gesucht, bis er einen fand, der nach Größe und Härte und vor allem wegen seiner etwas abgeflachten Rundung oben und der scharfen Kante an der Unterseite dazu geeignet war, Metall zu bearbeiten. Aus den rohen Büchsen unterschiedlichster Größe, die die Gefangenen täglich erhielten, schlug mein Vater mit seinem Stein bauchige Vasen und Becher, flache oder gewölbte Teller und schmale Rahmen für die Familienfotos seiner Mitgefangenen. Stundenlang saß er am oberen Ende seiner Luftmatratze, seinem Quartier in diesem Camp, und versah die neu geformten Gefäße mit feinen Ornamenten oder schnitzte zierliche Kleinplastiken aus Holz.

Die Schmerzen im Arm brannten immer heftiger. Rote Striemen zogen sich vom Handgelenk in Richtung Ellenbogen. Aber erst als seine Finger den Stein nicht mehr halten konnten und die Striemen am Arm die Farbe wechselten, schlug er Alarm.

Phlegmone, Blutvergiftung im fortgeschrittenen Stadium!

In einem nur mit dem notwendigsten ausgestatteten Zelt, dem so genannten „Lazarettzelt“ war alles improvisiert. Ein Feldbett diente als Operationstisch, die Lampen bezogen Strom aus einem vor dem Zelt platzierten Generator und die wenigen Instrumente und Medikamente, die für die Gefangenen zur Verfügung standen, waren in offenen Regalen untergebracht. Mein Vater wurde auf dem Feldbett festgeschnallt und einer der drei Gefangenen-Ärzte, die sich um ihn kümmerten, drückte ihm einen in Äther getränkten Wattebausch auf die Nase.

»Die Vergiftung reicht schon fast bis zu den Lymphdrüsen. Die Gefahr einer Sepsis ist zu groß. Unter den gegebenen Bedingungen müssen wir den Arm amputieren.«

Vaters Geist hatte sich bereits in wolkige Höhen entfernt, weit weg von dieser schäbigen Umgebung, und war im Begriff sich im schützenden Schoß eines unbekannten Wesens niederzulassen, als ihn dieser Satz gerade noch erreichte.

»Noi, bitte ned! So lasset mer doch mei Ärmle!«

konnte er noch sagen, dann schwand ihm das Bewusstsein.

Seit er beim Theater war, hatte mein Vater größten Wert auf korrekte Aussprache gelegt. Er selbst sprach lupenreines Hochdeutsch und wir Kinder bekamen 0,50 Pfennig Belohnung, wenn wir bei den sonntäglichen Spaziergängen akzentfreies Deutsch sprachen. Reines Hochdeutsch, das war er seinen Schauspielern schuldig. Aber jetzt, im Narkose-Halbschlaf, auf dem Abflug in eine problemfreie Traumwelt, hatten die erworbenen Fähigkeiten des erwachsenen Mannes keine Macht mehr über ihn. Die Bitte, ihm seinen Arm zu lassen, verließ den Mund meines Vaters in breitestem Schwäbisch.

Der sprachliche Ausrutscher rettete meinem Vater die körperliche Unversehrtheit. Der behandelnde Chirurg war selbst ein Schwabe. Die kindliche Bitte dieses unbekannten Landsmannes rührte ihn. Unter Zuhilfenahme aller erreichbaren Hilfsmittel und Medikamente entfernte er das infizierte Gewebe und schaffte es danach, das Fieber und die Entzündung unter Kontrolle zu bringen.

Seit Ende 1939, als mein Vater bei Kriegsbeginn nach Prag versetzt worden war, um den tschechischen Rundfunk zu germanisieren, lebten meine Eltern räumlich getrennt. Das Prager Engagement endete allerdings bereits im Jahr darauf, da mein Vater nicht bereit war, sämtliche Sendungen in tschechischer Sprache aus dem Programm zu nehmen, wie die Partei von ihm verlangte, und er seine Stelle in Prag kündigte. Er meldete sich bei der Wehrmacht und ging als Presseoffizier nach Berlin. Berlin lag zwar nicht so weit von Kassel entfernt wie Prag, aber die innere Entfernung meiner Eltern erhielt neuen Auftrieb. In seinem ersten Berliner Jahr hatte mein Vater Agathe von Menken kennengelernt, eine Journalistin und studierte Germanistin, mit der ihn bald nicht nur die Liebe zum Theater, die gemeinsame Lektüre und der offene Austausch über die politische Entwicklung in Deutschland verband.

Wir drei Kinder waren inzwischen geboren, meine Mutter hatte in Kassel einen eng verbundenen Freundeskreis und mein Vater besuchte uns regelmäßig an Wochenenden. Außerdem war er fest entschlossen, seine Ehe und seine Familie niemals zu verlassen. Aber die Wochenendbesuche und der feste Vorsatz meines Vaters konnten nicht verhindern, dass die Entfremdung zwischen meinen Eltern weiterwuchs. Irgendwann gestand mein Vater meiner Mutter sein Verhältnis zu Frau von Menken, irgendwann danach wurde er nach Paris versetzt, der Krieg geriet dann irgendwann in sein Endstadion und mein Vater verlor den Kontakt zu allen seinen Lieben. Und irgendwann im Juni 1946 traf er auf dem Weg zu seinen Eltern in der Stuttgarter Stitzenburgstraße auf seine Mutter, die ihn nicht erkannte.

Abgemagert und gesundheitlich angeschlagen war mein Vater 1946 aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden und hatte sich – wegen der Zerschlagung der Ufa, für die er vor dem Krieg gearbeitet hatte, ohne berufliche Perspektive – bei seinen Eltern in Stuttgart einquartiert. Hier, in der Großstadt, war die Chance Arbeit zu finden nicht ganz aussichtslos. Als promovierter Literaturwissenschaftler mit Managementerfahrung fand er schließlich eine Anstellung beim Hilfswerk der evangelischen Kirche, die ihn mit dem Auftrag betreute, eine Rundfunksendung zu kreieren, die Spenden für karitative Zwecke einbringen sollte. Frohes Raten, gute Taten, die von meinem Vater entwickelte wöchentliche Radiosendung, wurde im süddeutschen Raum ein großer Erfolg; ihr Konzept wurde später vom Fernsehen als Südfunklotterie übernommen. In Vaters Büro, einem Stockwerk unter unserer späteren Wohnung in der Stafflenbergstraße 20, betrieb mein Vater noch zwei weitere Zweiggeschäfte. Als Leiter der ICL, der International Christian Leadership Deutschland leitete er ein Netzwerk Christlicher Unternehmer, die sich regelmäßig zu Vorträgen, Workshops und Konferenzen trafen und als Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise, der ADK, verwaltete er Mittel, die Konrad Adenauer aus seinem Reptilienfond für politische Bildungsarbeit zur freien Verfügung hatte und die offiziell zur Aufklärung über den Kommunismus, insgeheim aber auch für Wahlkampfhilfen gegen die Sozialdemokratie eingesetzt wurden.

Auch der Kontakt zu Agathe von Menken war inzwischen wiederhergestellt. Sie hatte sich in der Schweiz niedergelassen und ihre Kontakte erlaubten es ihr, meinem Vater eine Anstellung als Regisseur am Züricher Theater anzubieten. Seine Freundin besuchte ihn in Stuttgart, wo er inzwischen ein eigenes Zimmer angemietet hatte und er besuchte sie in Zürich. Im Wechsel zu seinen Besuchen bei der Familie in Künzelsau. Wenn mein Vater, den ich wie einen fernen Gott verehrte, übers Wochenende zur Familie nach Künzelsau kam, erschloss sich mir eine andere Welt. Eine Welt voller Geschichten, Gespräche und Ideen, die bei meiner Mutter und in unserem kleinen Städtchen sonst nicht vorkamen.

Mein Vater war zwar mit allen seinen Gliedmaßen aus der Gefangenschaft zurückgekommen, aber seine Gesundheit hatte schwer gelitten. Anfang 1950 erlitt er einen Herzinfarkt und ein Jahr später einen zweiten. Es war schwer zu entscheiden, ob seine gesundheitliche Schwäche ihm den Entschluss, seine langjährige Freundin und Geliebte aufzugeben, leichter gemacht oder sogar nahegelegt hatte, oder aber ob nicht vielmehr die schier unerträgliche Spannung eines Lebens zwischen Familie und Geliebter sich auf den Zustand seines Herzens geschlagen und ihn krankgemacht hatte.

Denn meine Mutter bestand jetzt darauf, dass sich mein Vater entscheiden müsse. Entweder die Beziehung zu seiner Freundin beenden, oder aber die Scheidung veranlassen. Ein Leben ohne Agathe konnte sich Ernst Schweizer aber noch immer nicht vorstellen. Doch wenn er seine Familie verließ, würde Gott ihn strafen, seine Eltern würden ihn verstoßen und der Verlust seiner Kinder würde ihm das Herz brechen.

 

Den zweiten Herzinfarkt verstand mein Vater als einen Fingerzeig Gottes. Drei Jahre lang hatte er zwischen Zürich und Stuttgart, zwischen Stuttgart und Künzelsau gependelt. Hin und her gerissen zwischen Agathe, in der seine Seele ruhte, und Hilde, der Mutter seiner Kinder, die er unvermindert schätzte und die seine Kinder so tapfer durch die Kriegsjahre gebracht hatte. Meine Mutter hatte ihm ein Ultimatum gestellt – am Ende des Jahres 1950 würde sie die Scheidung einreichen. Und hatte dann das Ultimatum um ein Jahr verlängert, als der Künzelsauer Stadtpfarrer in der Weihnachtspredigt das Weinstockgleichnis aus dem Lukasevangelium zitierte: »Herr, gib ihm noch ein Jahr Zeit«.

Diese Worte, glaubte meine Mutter, waren an sie gerichtet.

Ein Leben ohne Agathe! Seit mehr als 12 Jahren war sie seine Partnerin, seine Schwester, seine Geliebte, sein Ein und Alles. Dennoch entschied sich mein Vater für uns. Er eröffnete seiner Freundin, dass seine Familie, sobald seine Frau in Stuttgart eine Stelle gefunden hätte, zu ihm nach Stuttgart ziehen würde. Dass die Beziehung zwischen ihnen aber schon jetzt beendet werden müsse, da er das Zimmer, in welchem die beiden ihr gemeinsames Leben in Stuttgart geführt hatten, kündigen werde, um ab Schuljahresbeginn mit seiner Tochter in der Wohnung seiner Eltern zu wohnen.

Nachdem sich mein Vater entschieden hatte, brachte ihm der Gedanke an mich, seine Tochter, offenbar eine gewisse Linderung. Dass ich demnächst bei ihm wohnen würde, war ein zwar schwacher, aber verlässlicher Pflock, an dem er sein Lebensseil neu festmachen wollte.

Schon als kleines Mädchen hatte ich das Empfinden, dass mein Vater mir gegenüber ganz besondere Zärtlichkeit empfand. Jeder von uns drei Geschwistern hatte etwas Besonderes. Peter war der älteste und hatte dementsprechende Privilegien, Jochen war der jüngste und wurde besonders geliebt und geschont und ich war das einzige Mädchen, dem, zumindest mein Vater, eine besondere Zuwendung entgegenbrachte. Als Erstgeborenem oblag es meinem Bruder Peter, die Tradition der Familie fortzuführen. Seine schulische Entwicklung begleitete der Vater mit größter Aufmerksamkeit. Aus ihm sollte etwas werden. Aber weder Peter noch der jüngere Jochen, der der Liebling der Mutter war, hingen, wie mir schien, so sehr an Vaters Lippen wie ich, wenn er von Prag oder Paris erzählte, oder wenn er Geschichten vorlas.

Von der Freundin des Vaters erfuhr ich erst im zweiten Jahr meines Aufenthaltes in Stuttgart. Seltsamerweise erschütterte mich diese Neuigkeit kaum. Eine als leichtlebig bekannte Hausbewohnerin – sie war das, was man damals ein „Ami- Liebchen“ nannte – kam eines Tages auf hochhackigen Pantöffelchen und in einem seidenen, mit großen bunten Blumen geschmückten Morgenmantel im Hausflur auf mich zu und fragte, ob ich denn nicht wüsste, dass mein Vater schon seit langem eine Freundin habe. Ohne zu zögern bezog ich Partei für den Vater. Was hatte mir diese „Schlampe“ zu erzählen! Ich war inzwischen 15 Jahre alt, aber solch ein Wort hatte ich noch nie benutzt. Nicht einmal – wie jetzt – in Gedanken.

Obwohl ich zu dieser Zeit schon sehr unter dem Vater litt, verstand ich ihn. Ich hatte schon öfters bemerkt, dass mein Vater und meine Mutter nicht die gleiche Sprache sprachen. Etwas, was für den Vater sehr wichtig schien, von dem ich allerdings nie genau herausfinden konnte, was es denn sei, fehlte ihm beim Zusammensein mit meiner Mutter. Wenn mein Vater beim Nachmittagskaffee von einer Begebenheit erzählte, die ihn belastete oder amüsierte, von einem sonderbar verlaufenen Telefonat oder einem unangenehmen Gespräch mit einem Geschäftspartner, schien meine Mutter gar nicht zu verstehen, worum es ging. Sie gab, wie ich meinte, völlig unpassende Kommentare, die den Vater, wenn er das Gespräch nicht mit unübersehbaren Zeichen der Resignation abbrach, zu einer ironischen Bemerkung verleitete. Diese wiederum nahm meine Mutter ohne gekränkt zu sein hin – so jedenfalls empfand ich es – weil sie die subtil-aggressive Botschaft, die in ihr enthalten war, gar nicht erreichte.

Mit dem Vater sprach ich nicht über die Freundin. Auch nicht Jahre später, als ich die Schule längst hinter mir hatte und die Familie wieder zusammenwohnte. Nie hätte ich es gewagt, ihn auf ein so heikles Thema anzusprechen. Und außerdem war die Atmosphäre zuhause ohnehin schwer belastet. Zu der Zeit, im Jahre 1956, ein gutes Jahr nach meiner Rückkehr aus Amerika, wohnte die Familie in einer schönen und geräumigen Altbauwohnung, einen Stock über dem Büro des Vaters. Vor zwei Jahren hatte Mutter eine Anstellung in einem kirchlichen Mädchengymnasium bekommen. Aber das Zusammenleben mit dem Vater erwies sich als schwieriger, als meine Mutter wohl gedacht hatte. Ernst Schweizer hatte nie mit Kindern zusammengelebt. Aus der Ferne hatte er sie sehr geliebt und hatte jetzt das Glück seines Lebens für sie aufgegeben. Und außerdem war er gesundheitlich angeschlagen. Konnte er da, als Vater der Familie, nicht ein Minimum an Respekt erwarten! Meine Mutter kam dem Vater so gut sie konnte entgegen, erlaubte sich keine Kritik und ging auf seine Wünsche ein. Sofern sie sie verstand. Im Übrigen war sie mit ihren vielen beruflichen und häuslichen Pflichten mehr als ausgelastet. Aber obwohl sich meine Mutter aus den immer häufiger stattfindenden lautstarken Auseinandersetzungen zwischen ihrem Mann und uns Kindern heraushielt, machte der Vater ihr Vorwürfe wegen unseres Verhaltens. Wir drei Geschwister – zum Zeitpunkt der Familienzusammenführung hatte selbst Jochen, der jüngste, den Höhepunkt der Pubertät längst erreicht –, waren einen Vater nicht gewöhnt und sahen überhaupt nicht ein, warum wir uns jetzt einer patriarchalen Autorität unterwerfen sollten. Dass sich mein jüngerer Bruder, als er kurz vor dem Abitur stand, morgens von seiner Freundin im Sportwagen zur Schule fahren ließ, dass der ältere die Frechheit besaß, den Vater zu bitten, ihm bei der Stellensuche für eine geschiedene junge Frau zu helfen, die er während eines Auswärtssemester in Berlin kennen und lieben gelernt hatte und die jetzt in seiner Nähe nach Arbeit suchte, und dass ich, seine einzige Tochter, die ihm doch so wesensverwandt war, Autoren wie Benn und Brecht, zu ihrer Lieblingslektüre erkor –: das alles brachte ihn in Rage, die bei seinem Nachwuchs auf keinerlei Verständnis stieß. Wenn seine Kinder selbst durch den Hinweis auf seine gefährdete Gesundheit nicht dazu zu bewegen waren, auf Freundinnen oder Lieblingsautoren zu verzichten, drohte er, dass sie an seinem baldigen Tod schuldig sein würden.

Auch mit den Brüdern hatte ich kein Wort über die Freundin des Vaters verloren. Das sollte mein Geheimnis bleiben. Bis an jenem Tag in meinen ersten Semesterferien. Einem Sonntag. Der Vater hatte zum Aufbruch geblasen. Er hatte beschlossen, zwei alte Freundinnen zu besuchen, die meine Eltern schon aus ihrer Zeit als Verlobte kannten. Ich solle die Eltern begleiten, weigerte mich aber beharrlich, dem Befehl des Vaters zu folgen. Der Vater wollte mich dabeihaben, weil die beiden alten Damen ein Konto angelegt hatten, welches im Fall seines Todes mein Studium absichern sollte. Aber ich wusste nichts von der fürsorglichen Tat der Tanten, ich wusste nur, dass ich den ganzen Sonntag brauchte, um Toynbees „Breakdown of Civilizations“ zu Ende zu lesen. Ein Werk, das mich faszinierte und über das ich demnächst ein Referat halten musste. In der Woche stand ich um ½ 6 Uhr auf, um als Werkstudentin bei Bosch eine geisttötende Tätigkeit zu verrichten und war abends so müde, dass ich beim besten Willen keine wissenschaftlichen Bücher mehr lesen konnte. Also musste das jetzt, am Sonntag, geschehen. Ich lag mit meinem Buch vor der Nase ausgestreckt auf dem Sofa und rührte mich nicht.