Buch lesen: «Grundkurs Psychologie für die Soziale Arbeit», Seite 4

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Piaget umschrieb die ersten zwei Lebensjahre als sensumotorisches Stadium, in dem die kognitiven Grundlagen für die sensorischen und motorischen Handlungen – die sensumotorischen Schemata – gelegt werden. Dazu zählen z.B. das Saugschema und die Exploration mit dem Mund. Jean Piaget fand auch heraus, dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter – er schätzte es bei acht Monaten – keine Objektpermanenz haben. Sie gehen also davon aus, dass ein Gegenstand – z.B. ein Ball –, der aus ihrem Blickfeld verschwindet, dann auch nicht mehr existiert. Nach heutigen Erkenntnissen weiß man allerdings, dass Piaget die kognitiven Fähigkeiten jüngerer Kinder deutlich unterschätzte, dass sich die Fähigkeit zur Objektpermanenz deutlich früher einstellt und prozesshaft verläuft, als Piaget dieses angenommen hatte (Sodian 2012).

Bereits im Säuglingsalter können kulturübergreifend sieben bis zehn Basisemotionen beobachtet werden. Dazu zählen Freude, Angst, Trauer, Wut, Ekel, Verachtung, Überraschung, Interesse, Scham und Schuld (Izard 1999, Dornes 2012). Im Film „Alles steht Kopf“, der vom Emotionsforscher Dacher Keltner mitentwickelt wurde, wird sichtbar, wie sehr Gefühle die Weltwahrnehmung dominieren und bei gleichzeitigem Auftreten auch verwirren können. Emotionen sind immer von physiologischen Reaktionen und kognitiven Bewertungen begleitet, wobei manchmal die Emotion der Kognition vorausgeht und manchmal umgekehrt die Kognition die Emotion bestimmt (Myers 2014). Auf dieser Basis arbeitet beispielsweise die kognitive Verhaltenstherapie mit depressiven Menschen, in dem sie mit ihren Klienten positive Umdeutungen von chronisch als negativ erlebten Situationen übt (s. Kapitel 6.3). Säuglinge und Kleinkinder sind noch nicht in der Lage, negative Emotionen kognitiv zu beeinflussen, und sind ihren Bedürfnissen und Gefühlen daher – anders als Erwachsene – ausgeliefert. Sie brauchen in der Regel Unterstützung bei ihrer Emotions- und Spannungsregulation.

Besonders evident wird dies bei sogenannten Trotzanfällen. Trotzanfälle, die in der Regel im dritten und vierten Lebensjahr auftreten, resultieren entwicklungspsychologisch betrachtet aus einer faktischen Diskrepanz zwischen dem wachsenden Autonomieanspruch des Kindes auf der einen und seinen im Vergleich dazu noch nicht ausreichenden Fähigkeiten auf der anderen Seite. Das Kind kann weder alles, noch darf es alles. Infolgedessen ist es häufig frustriert und drückt in Trotzanfällen seine Wut und seinen Ärger aus. Ebenso kann Trotzverhalten entstehen, wenn das Kind sich schämt und diese Scham nicht aushalten kann (Wurmser 1998). Trotzanfälle können aber auch dann auftreten, wenn sich das Kind gar nicht in Interaktion befindet. Beispielsweise kann es darum gehen, dass ein Kind sich zwischen zwei Spielzeugen oder Aktivitäten nicht entscheiden kann und der entstehende Motivkonflikt zu einer totalen Handlungsblockade führt.

„Mit dem Ich als erlebtem Zentrum des Wollens und der Möglichkeit, sich Handlungsalternativen vorzustellen, entsteht also die Notwendigkeit, interne Motivkonflikte zu managen. Das Kind muss also als nächstes lernen, dass Selbst-Wollen-Können nicht bedeutet, alles gleichzeitig wollen zu können“ (Bischof-Köhler 2011, 160).

Diese Fähigkeit erwirbt das Kind aber meist erst nach dem vierten Lebensjahr. In den Trotzanfällen verbirgt sich manchmal auch eine interaktive Machtthematik; das Kind möchte in diesem Alter seine Bezugspersonen herausfordern. In der Regel wird dieser Aspekt aber von den erwachsenen Interaktionspartnern überschätzt, die strafend oder ignorierend auf das trotzige Verhalten reagieren. Dieses resultiert oftmals aus der gefühlten Ohnmacht, die sich vom Kind auf den Erwachsenen überträgt. Auch die Mutter kann nichts daran ändern, dass ihr zweijähriger Sohn noch nicht in der Lage ist, die Schleife am Schuh zu binden, und sie kann ihn in dieser Situation nicht zufriedenstellen.

„‚Nein‘ und ‚Selbermachen-Wollen‘ ist die Devise; diese Phase führt unausweichlich zum Zusammenprall mit den grenzsetzenden Erwachsenen, aber auch zur narzisstischen Kränkung, dass die Geschicklichkeit noch fehlt, um gewisse Handlungen fehlerfrei durchzuführen […] eine existenziell wichtige Aufgabe […] ist, dem Kind die Erfahrung zu vermitteln, dass es eine aversive Position einnehmen kann und dass in der Folge die Gemeinsamkeit gefahrlos wiederherstellbar ist“ (Ornstein/Rass 2014, 30f.).

Der Umgang mit diesem Phänomen ist insbesondere bei der Elternarbeit, wie auch in der direkten sozialpädagogischen Arbeit mit kleinen Kindern, enorm reflexionsbedürftig, weil Trotzreaktionen wie wenig andere Phänomene, autoritäre, machtdemonstrierende und z.T. auch gewalttätige Impulse in uns selbst oder bei den betroffenen Eltern hervorrufen (Brisch 2015). Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr resultieren viele Kinderschutzfälle daraus, dass Eltern mit ohnmächtiger Wut auf das, von ihnen als bösartig und ungehorsam interpretierte Verhalten ihrer Kinder reagieren.

Eine sozialpädagogische Aufgabe könnte in dieser Situation beispielsweise sein, die an der Interaktion beteiligten Menschen darin zu stützen, die Ohnmacht auf beiden Seiten – auf Seiten des Kindes, etwas nicht zu können, und auf Seite der Erwachsenen, nicht helfen zu können, – auszuhalten und eher in die Trost-, denn in die Bestrafungsreaktion zu gehen. Dazu bedarf es allerdings auf Seiten der SozialarbeiterInnen, gelegentlich einen – freundlichen – Blick auf die eigenen trotzigen Seiten zu werfen (Bräutigam 2016).

2.6 Entwicklung der Kindheit

„Kindsein war: hinfallen, im Tunnel schreien, ins Badewasser pinkeln, Läuse haben, nicht auf Gehwegplatten mit Sprung treten, Brille kriegen, schaukeln und kotzen, nicht den Boden berühren!, Brottasche schleudern, Muttervaterkind spielen, Scherben sammeln, Schlüssel verlieren, aus der Zahnlücke Blut saugen, Puppe operieren, der Katze das Laufen auf zwei Beinen beibringen […] “ (Budde 2010).

In Bezug auf die kognitive Entwicklung beginnt laut Piaget etwa nach Abschluss des zweiten Lebensjahrs das sog. präoperatorische Stadium, das in etwa bis zum siebten Lebensjahr anhält (Sodian 2012). Es bilden sich auf Menschen und auf Gegenstände bezogen stabile mentale Repräsentationen. Die Kinder sind nicht mehr nur auf das Hier und Jetzt bezogen, sondern es entsteht langsam eine Repräsentation von Vergangenheit und Zukunft und die Vorstellungskraft nimmt zu. Nach wie vor sind bestimmte logische Operationen, z.B. Reversibilität, noch nicht möglich. In sozialer Hinsicht spricht Piaget von Egozentrismus, der auch noch bei Vorschulkindern herrsche. Kinder in diesem Alter seien noch nicht in der Lage, aus der Perspektive eines Dritten zu sehen (Myers 2014). Auch hier unterschätzte Piaget jedoch die kindlichen Fähigkeiten (s. Kapitel 2.6.1 :das Maxi-Paradigma).

Es folgt mit Eintritt des Schulalters – so Piaget – das konkretoperatorische Stadium, das mit der Entwicklung von Zahl- und Zeitbegriffen einhergeht. Die logischen Operationen von Verknüpfungen, wie z.B. Addition und Reversibilität (9 + 5 = 14 und 14 – 9 = 5), werden möglich.

In Bezug auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung können Kinder im Alter zwischen zweieinhalb und fünf Jahren beobachtbare Züge des Selbst konstruieren (ich habe blaue Augen, bin kitzlig und mag Eierkuchen). Diese Selbstbeschreibungen stehen aber weitgehend unverbunden nebeneinander. Kinder entwickeln bereits ab dem 3. Lebensjahr eine soziale Identität, d.h., ein Gefühl für „ihre Gruppe“, und favorisieren diese. Bereits mit vier Jahren entwickeln Kinder einen differenzierten Zeitbegriff und sind in gewisser Hinsicht in der Lage vorausschauend zu denken. Ab dem sechsten Lebensjahr können Merkmale der Selbstbeschreibung miteinander verknüpft werden. Das Kind kann sich und andere mit Hilfe von Gegensatzpaaren beschreiben (Mathilde hat grüne Augen und ich blaue, Mattis kann gut rennen und ich gut zeichnen). Der egozentrische Standpunkt verringert sich noch weiter und der Standpunkt anderer beginnt wirksam zu werden. Das Kind vermag sich nun vorzustellen, was ein Anderer über einen Dritten oder es selbst denkt. Kinder verfügen in etwa ab diesem Zeitpunkt über ein differenziertes und relativ stabiles Selbstkonzept, das mit zunehmendem Alter immer realistischer wird. Ebenso gewinnen Freunde an Bedeutung, auch wenn Freundschaft noch eher zweckorientiert ist – man braucht jemanden zum Spielen und jemanden, der einem hilft und dem man vertrauen kann (Heidbrink 2013).

Ab dem neunten Lebensjahr können Eigenschaften beschrieben werden, die hinter einzelnen Verhaltensweisen stehen und die Vereinbarkeit gegensätzlicher Eigenschaften wird möglich (ich bin eigentlich kein wütender Mensch, aber in bestimmten Situationen raste ich aus). Ab ungefähr zehn Jahren können Kinder ihre eigene Perspektive mit der Anderer vergleichen. Sie können die Perspektive einer dritten Person einnehmen und auf dieser Grundlage die Ansichten von zwei weiteren Personen bewerten (Kray/Schaefer 2015).

In Bezug auf die sozioemotionale Entwicklung sind Kontrollüberzeugungen und das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit von besonderer Bedeutung. In dem sehr interessanten und vielzitierten Marshmallow-Experiment von Mischel (2015) waren manche vierjährige Kinder in der Lage, auf eine Belohnung zu warten, wenn sie durch das Warten eine attraktivere und größere Belohnung bekamen, als wenn sie sie gleich erhielten. Diese Kinder waren offenbar bereits in der Lage, sich vorzustellen, das Gewünschte später nachzuholen; der Aufschub war somit leichter. In späteren Langzeitstudien wurde deutlich, dass die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub ein wesentlicher Prädiktor für späteren Schul- und beruflichen Erfolg darstellte (Shoda et al. 1995). Die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub hat übrigens auch etwas mit Bindungssicherheit zu: bindungssichere Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Bedürfnisse verlässlich und mit aushaltbaren Zeitverschiebungen erfüllt werden.

In den folgenden beiden Abschnitten werden exemplarisch zwei weitere Funktionen bzw. Fähigkeiten beschrieben, die bei der sozioemotionalen Entwicklung im Kindesalter und im Kontext der Sozialen Arbeit eine herausragende Rolle spielen.

2.6.1 Theory of mind und die Entwicklung von Mentalisierung

Die Psychologen David Premack und Guy Wodruff (1978) haben den Begriff der Theory of mind (Theorie über mentale Zustände) geprägt. Dieser bezeichnet die Fähigkeit, innere Zustände anderer Menschen erkennen zu können. Zwei- bis Dreijährige wissen zwar, z.B. dass jemand anderes etwas sehen kann, was sie selbst gerade nicht sehen, oder dass man vorgestellte Bonbons nicht essen kann. Sie wissen aber in der Regel bis zum vierten Lebensjahr noch nicht, dass Überzeugungen zu Sachverhalten nur Annahmen sind, die den realen Tatbestand treffen oder auch verfehlen können.

Wimmer und Perner (1983) führten dazu ein Experiment durch, das heute als Maxi- oder auch als das Schokoladen Paradigma beschrieben wird. Sie zeigten Kindern eine Bildergeschichte, in der Maxi Schokolade in eine Schublade legt und dann zum Spielplatz geht. Während Maxi auf dem Spielplatz ist, legt ihre Mutter die Schokolade in eine andere Schublade. Die Kinder wurden nun gefragt, in welcher Schublade Maxi die Schokolade nun suchen würde. Dreijährige Kinder antworten, in der Regel, dass Maxi die Schokolade in der Schublade sucht, in die die Mutter sie hineingetan hat – sie werden somit als naive Realisten bezeichnet und erliegen dem „false belief“. Erst mit vier Jahren antworten die Kinder, dass Maxi die Schokolade in der Schublade suchen würde, in die sie sie hineingelegt habe, weil sie ja nicht wissen könne, dass die Mutter sie weggelegt hat (Sodian 2012).

Vor dem vierten Lebensjahr ist somit noch keine Perspektivübernahme möglich. Kinder können sich in den anderen zwar hineinversetzen, verstehen diesen aber gemäß von ihrem eigenen Erleben. Ab vier Jahren ist eine einfache Perspektivübernahme möglich, die Subjektivität der Perspektiven wird bewusst und es entsteht die Idee, dass der andere etwas anderes denken könnte, als man selbst.

Sicher gebundene Kinder sind aufgrund der oben beschriebenen markierten Spiegelungserfahrungen (s. Kapitel 2.3.3) durch ihre feinfühligen Bezugspersonen ab etwa vier Jahren in der Lage, ihre eigenen Gefühlszustände von denen ihres Gegenübers zu differenzieren und somit „mentalisieren“ zu können.

„Mentalisieren heißt, sich auf die inneren Zustände in sich selbst und im anderen zu beziehen“ (Brockmann/Kirsch 2010, 279).

Das Mentalisierungskonzept wurde von dem britischen Psychologen und Psychoanalytiker Peter Fonagy et al. (2004) entwickelt und ist über die mentalisierungsbasierte Psychotherapie mittlerweile auch ein relevantes Konzept in der Sozialen Arbeit (Kirsch 2016). Die Fähigkeit zur Mentalisierung, d.h. also die eigenen inneren Befindlichkeiten von denen des Gegenübers differenzieren zu können, ermöglicht zwischenmenschliches Verständnis und eine daraus resultierende Handlungsfähigkeit. Sie erleichtert zudem aus sozialarbeiterischer Perspektive in den meisten Fällen die Beziehungsaufnahme zum Klienten.

Im Falle von dem bereits geschilderten Fallbeispiel von Max und seinen Eltern bestand beispielsweise ein Großteil der familientherapeutischen Arbeit, mit den Eltern und Max zu üben, Gefühle als solche zu identifizieren – also beispielsweise zwischen Wut, Traurigkeit, Verlassenheit und Enttäuschung zu unterscheiden – und diese dann nach und nach in Sprache zu bringen. In einem zweiten Schritt ging es dann darum, diese Gefühle beim Gegenüber wahrzunehmen und ebenfalls benennen, d.h. „mentalisieren“ zu können.

Dies könnte in der oben beschriebenen Situation konkret bedeuten, dass Max Mutter in der Lage wäre, zu Max zu sagen: „Max, ich bin wütend, weil Du Dich nicht anziehen willst, und möchte deshalb rausgehen. Ich bekomme aber mit, dass es Dir Angst macht, wenn ich Dein Zimmer verlasse“. Und Max könnte sagen: „Ich habe Angst, dass ich nicht wieder nach Hause kommen darf. Ich bekomme mit, dass Du vor mir Angst hast, wenn ich Dinge kaputt mache oder Dich beschimpfe.“

Viele der Klienten, mit denen SozialarbeiterInnen zu tun haben, sind nur sehr begrenzt in der Lage zu mentalisieren, zum einen aufgrund von biographischen bindungsbezogenen Erfahrungen, und zum anderen weil die Mentalisierungsfähigkeit generell in Stresssituationen beschränkt und eingeengt ist. Ein gutes Beispiel dafür sind Sorgerechtsstreitigkeiten prinzipiell gut reflektierter Elternteile, die in dieser Situation aufgrund trennungsbedingter Verletzungen wenig bis gar nicht in der Lage sind, die Gefühlszustände ihres Ex-Partners oder auch der gemeinsamen Kinder zu mentalisieren. Für SozialarbeiterInnen ist es somit eine grundlegende Aufgabe und Anforderung, ihre KlientInnen in ihren Mentalisierungsfähigkeiten zu stützen, da diese der Reflexion und Emotionsregulation dienen.

2.6.2 Die Entwicklung von Empathie

Empathie ist ein in der Sozialen Arbeit viel benutzter und z.T. recht strapazierter Begriff. Empathie ist „irgendwie wichtig“. Nicht selten bezeichnen sich Studierende der Sozialen Arbeit oder auch der Psychologie gern zu Beginn ihres Studiums als sehr sensibel bzw. empathisch und meinen damit, dass sie oft darunter leiden, wenn es anderen schlecht geht.

Was aber meint Empathie genau und wie entwickelt sich diese? Empathie beschreibt die Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage oder auch der Intention eines anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleiben das wahrgenommene Gefühl oder Intention dem anderen zugehörig. Empathie ist also gleichbedeutend mit Einfühlung oder Mitempfindung, unterscheidet sich aber von Mitgefühl.

Empathie ist laut Bischof-Köhler (2011) generell zu unterscheiden von der Perspektivübernahme einerseits und dem Begriff der Gefühlsansteckung andererseits. Die Perspektivübernahme meint einen Erkenntnisakt, bei dem die subjektive Verfassung des anderen rein rational erschlossen wird, ohne dass eigenes Mitempfinden daran beteiligt sein muss.

Bei der Gefühlsansteckung ergreift die Stimmung des anderen dagegen vom Beobachter selbst Besitz und wird dabei zu seinem eigenen Gefühl, ohne dass ihm der andere als dessen Auslöser bewusst wird. Wenn also Menschen beschreiben, dass sie immer so sehr darunter leiden, wenn es anderen schlecht geht, beschreiben sie häufig das Phänomen der Gefühlsansteckung, was bedeutet, dass die bei anderen beobachteten Gefühle eigene Emotionen triggern, d.h. auslösen. Somit nehmen sie vor allem ihre eigenen Emotionen wahr und nicht die der anderen. Die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen Gefühlsansteckung und Empathie ist eines der wesentlichen Lernziele in der Ausbildung von SozialarbeiterInnen.

Nach Feshbach (1978) gibt es zwei kognitive und eine emotionale Voraussetzung für Empathie: Die kognitiven Fähigkeiten bestehen darin, affektive Zustände anderer zu erkennen und zu benennen und Perspektivübernahme zu betreiben. Hinzukommen muss die emotionale Erlebnisfähigkeit, um das beobachtete Gefühl teilen zu können. Laut Hoffman (1982) geht die Ausformung von Empathie folgendermaßen vonstatten: Die globale Empathie, die mit Gefühlsansteckung gleichzusetzen ist, tritt bereits bei Neugeborenen auf, die sich vom Schreien der anderen Babys anstecken lassen. Es folgt eine Phase der egozentrischen Empathie, d.h., die Annahmen über die Gefühle des anderen sind ganz nach der Maßgabe der eigenen Bedürfnisse geprägt. So bringt ein dreijähriges Kind einem Kind, das gerade hingefallen ist, zum Trost das eigene Lieblingsspielzeug, weil es noch nicht in der Lage ist zu begreifen, dass das hingefallene Kind vielleicht ein ganz anderes Lieblingsspielzeug hat. Etwa mit vier Jahren tritt die Empathie für den anderen ein. Es entsteht ein Bewusstsein darüber, dass die Verfassung des anderen von der eigenen unabhängig ist. Als wesentliche Einflüsse auf die Empathieentwicklung gelten die familiäre Sozialisation, ein warmherziger und emotional beteiligter Erziehungsstil und die elterliche Feinfühligkeit, insbesondere eine prompte Reaktion auf kindliche Bedürfnisse und Anteilnahme an dessen Nöten und Verletzungen. Auch die Sensibilisierung von und für Schuldgefühle wirkt sich positiv auf die Empathieentwicklung aus (Bischof-Köhler 2011).

Die Fähigkeit zur Empathie, zur Perspektivübernahme und zur Mentalisierung basieren auf einer sicheren Bindung, die sich in den ersten Lebensjahren entwickelt. Alle diese drei Fähigkeiten sind als zentral für sozialarbeiterische Arbeit mit KlientInnen anzusehen, von denen viele in der Ausbildung genau dieser Kompetenzen benachteiligt sind.

2.7 Entwicklung der Jugend

„Wer außer mir wird später diese Briefe lesen? Wer außer mir wird mich trösten? Ich habe so oft Trost nötig. Ich bin so häufig nicht stark genug und versage öfter, als dass ich den Anforderungen genüge. Ich weiß es und versuche immer wieder, jeden Tag aufs Neue, mich zu bessern.

Ich werde unterschiedlich behandelt. Den einen Tag ist Anne so vernünftig und darf alles wissen und am nächsten höre ich wieder, dass Anne noch ein kleines dummes Schaf ist, das nichts weiß und nur glaubt, Wunder was aus Büchern gelernt zu haben! Ich bin nicht mehr das Baby und das Hätschelkind, das immer ausgelacht werden darf. Ich habe meine eigenen Ideale, Vorstellungen und Pläne, aber ich kann sie noch nicht in Worte fassen.“ (aus dem Tagebuch der Anne Frank, 30.10.1943, 143)

Anne Frank ist, als sie Obiges schreibt, 14 Jahre alt. Mit 15 zitiert sie selbst aus einem Buch, welches sie offenbar sehr beeindruckt hatte, dass die Jugend einsamer als das Alter sei. Das Jugendalter gilt als eine subjektiv oftmals sehr anstrengend empfundene Phase der Transformation, die u.a. eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Körperbild und Körperidealen, mit der eigenen Identität, dem Umbau der sozialen Beziehungen und der Entwicklung eines partnerschaftlichen Bindungsverhaltens beinhaltet (Oerter/Dreher 2008).

„Wie jede Lebensphase ist Jugend nicht allein durch die körperliche Entwicklung definiert, sondern zugleich durch kulturelle, wirtschaftliche, soziale und ökologische Faktoren beeinflusst“(Hurrelmann/Quenzel 2016, 9).

Bereits Corey (1947) nennt fünf zentrale Entwicklungsaufgaben, die die Jugendlichen zu bewältigen haben. Dazu zählen die Annahme der körperlichen Veränderungen, die Loslösung von den Eltern, die Gestaltung von Peerbeziehungen und die Integration sexueller Bedürfnisse, die Entwicklung eines neuen Wertesystems und die Gewinnung einer sozialen sowie beruflichen Identität. Laut Piaget ist die Jugendphase in kognitiver Hinsicht vom Eintritt in das formal-operatorische Stadium gekennzeichnet. Nun sind beispielsweise hypothetische oder theoretische Herangehensweisen an Problemstellungen möglich.

In einem Elterngespräch klagt die Mutter einer vierzehnjährigen Jugendlichen über Folgendes: Marie will sich nichts mehr von mir sagen oder vorschreiben lassen, jeder kleinste Kommentar von mir wird als Einmischung oder Übergriff erlebt. Also lasse ich sie weitgehend in Ruhe und habe sie neulich auch nicht gefragt, ob sie mit mir Plätzchen backen will. Da war sie dann total enttäuscht und hat stundenlang auf ihrem Zimmer geheult.

Die Entwicklungsphase Adoleszenz fordert, wie in diesem Beispiel ersichtlich wird, von den Jugendlichen ebenso wie von ihrer nächsten Umgebung einen Umgang mit oftmals sehr rasch wechselnden und diametral entgegengesetzten Bedürfnissen nach vollkommener Zugehörigkeit sowie totaler Autonomie (Bräutigam 2011).

„Jugendliche sind Grenzgänger – gewissermaßen ‚borderliners‘ –, die sich im Niemandsland zwischen fremd verantworteten Leben der Kindheit und der eigenständigen Verantwortung des Erwachsenendaseins befinden und sich darin zurechtzufinden versuchen. Dieser Zustand des Übergangs verlangt es, so viel Ungewissheit und Konfliktgeladenheit auszuhalten und so viel Lernfähigkeit und Anpassungsvermögen zu erbringen, wie wohl in keinem anderen Stadium der menschlichen Entwicklung“ (Ludewig, 2001, 165).

Jugendliche sind wie bereits beschrieben in vielfacher Weise Transformationsprozessen ausgesetzt, die nicht selten zu Krisen führen. Zu diesen zählen in erster Linie Identitäts-, Selbstwert-, Beziehungs- und Autoritätskrisen (Resch 1999). Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf die im Körper verankerte Identität der/ des Jugendlichen gelegt werden (Lemma 2016). Daraus können internalisierende Formen der Problemverarbeitung, z.B. Depressionen oder Essstörungen, oder auch externalisierende Formen, wie Störungen des Sozialverhaltens oder übermäßiger Alkohol und Drogenkonsum, resultieren (Seiffge-Krenke 2015).

Nach Erik Erikson (1950/2005) ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität das entscheidende Merkmal der Adoleszenz. Dabei geht es darum, ein Gefühl für die Einheitlichkeit und Unverwechselbarkeit der eigenen Person über unterschiedliche Kontexte hinweg zu erlangen. James Marcia hat dieses Konzept weiterentwickelt und weiter differenziert (Marcia 1980, Mey 1999). Er unterscheidet zwischen einer diffusen Identität, einer erarbeiteten, einer kritischen und einer übernommenen Identität. In Bezug auf jugendliche KlientInnen könnte das heißen, dass Jugendliche mit einer diffusen Identität extrem unsicher über ihre Haltung und Einstellung zu Themen wie Arbeit, politische Einstellung etc. sind, während Jugendliche mit einer erarbeiteten Identität sich bereits einen eigenen Standpunkt erarbeitet haben. Jugendliche mit einer kritischen Identität erleben sich vor allem in Abgrenzung, während Jugendliche mit einer übernommenen Identität oftmals einfach die elterlichen Werte übernehmen.

Inzwischen besteht nahezu allgemeiner Konsens darüber, dass von einer verlängerten Adoleszenz, die durchaus bis in die späten 20er gehen kann, gesprochen werden darf (Seiffge-Krenke 2012) und dass die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen nicht länger ein Vorrecht Jugendlicher ist. Dabei ist im sozialarbeiterischen Umgang mit Jugendlichen eine gute Reflexion der eigenen Adoleszenz notwendig, weil diese Phase oftmals mit besonderen Kränkungserfahrungen verbunden ist. Im Umgang mit Jugendlichen können diese Kränkungserfahrungen leicht getriggert werden und zu emotionalen, nicht reflektierten Reaktionen wie extrem autoritär/abgrenzendem oder eher anbiederndem/gleichmachendem Verhalten gegenüber den Jugendlichen führen.

2.8 Entwicklung des mittleren und höheren Erwachsenenalters

„Man altert langsam: Zuerst altert die Lust am Leben und an den Menschen, weißt du, allmählich wird alles so wirklich, du verstehst die Bedeutung von allem, alles wiederholt sich auf beängstigend langweilige Art […] Und mit einem mal beginnt die Seele zu altern: Denn der Körper mag alt geworden sein, die Seele aber hat noch ihre Sehnsüchte, ihre Erinnerungen, noch sucht sie, noch freut sie sich, noch sehnt sie sich nach Freude. Und wenn die Sehnsucht nach Freude vergeht, bleiben nur noch die Erinnerungen oder die Eitelkeit; und dann ist man wirklich alt, endgültig“ (Márai 1942, 199f.).

Die Entwicklung des mittleren Erwachsenenalters ist ein noch recht junges Forschungsgebiet (Freund/Nikitin 2012). In diesem Rahmen sollen daher zumindest einige Hinweise zu Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen des Erwachsenenalters beschrieben werden. Die Bestimmung dieser Lebensphase erfolgt in erster Linie über die Markierung wichtiger Entwicklungsthemen, wie z.B. berufliche und familiäre Entwicklung. Dabei ist insbesondere auf den Begriff der „Sandwich-Generation“ zu verweisen; dieser meint, dass Menschen in den mittleren Jahren in der Regel zwischen zwei Generationen stehen und oftmals vielfältige Verpflichtungen gegenüber ihren eigenen Kindern und ihren alternden Eltern haben.

„Dies kann zu einer zeitlichen und auch emotionalen Belastung führen: Die vorangehende Generation – also die eigenen Eltern, können in dieser Lebensphase pflegebedürftig werden und emotionale wie auch instrumentelle soziale Unterstützung benötigen, während die eigenen Kinder noch zu Hause wohnen und sowohl materielle wie auch zeitliche und emotionale Ressourcen in Anspruch nehmen“ (Freund/Nikitin 2012, 265).

Das höhere Erwachsenenalter bezeichnet in etwa den Altersbereich von 65 bis 80 Jahren. Menschen, die älter als 80 Jahre alt sind, werden auch als hochaltrig bezeichnet. In diesen Altersphasen müssen sich Menschen zwangsweise, neben dem Funktionserhalt, auch mit der Regulation von Verlusterfahrungen – z.B. Verlust der motorischen und manchmal auch kognitiven Beweglichkeit – auseinandersetzen. In Bezug auf die intellektuelle Entwicklung gilt ein sogenanntes Zweikomponentenmodell der intellektuellen Entwicklung (Baltes 2011, Baltes et al. 1999, Lindenberger/Staudinger 2012), die zwischen alterungsanfälligen und alterungsresistenten Fähigkeiten differenzieren. Zu den alterungsanfälligen Fähigkeiten zählen die Merkfähigkeit, das räumliche Vorstellungsvermögen sowie die Aufnahme und Verarbeitung neuer Informationen. Als alterungsresistent gelten interessanterweise das Kopfrechnen, verbale Fähigkeiten und die Verfügung von Wissensbeständen. Lindenberger und Staudinger (2012) weisen darauf hin, dass mit dem Alter der Bedarf an Kultur wächst; dabei meint Kultur:

„[…] alle psychischen, sozialen, materiellen und wissensbasierten Ressourcen, die die Menschheit im Laufe ihrer historischen Entwicklung produziert hat. Ein Buch fällt in diesem Sinne ebenso unter den Begriff Kultur wie die Krankenversicherung.“ (Lindenberger/Staudinger 2012, 285).

Um die in diesem Altersabschnitt anstehenden Entwicklungsaufgaben – die Häufigkeit nicht kontrollierbarer Verlustereignisse sowie eine Verkleinerung des Aktionsradius – einigermaßen gut bewältigen zu können, ist ein flexibler Umgang mit sich selbst gesteckten Zielen notwendig. Dieser fällt älteren Menschen aber nicht immer leicht. Oft brauchen sie hierbei eine freundliche und an ihren Stärken orientierte Unterstützung.


Bischof-Köhler, D. (2011): Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, theory of mind. 1. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Rass, E. (2012): Bindung und Sicherheit im Lebenslauf. Psychodynamische Entwicklungspsychologie. 2. Aufl. Klett Cotta, Stuttgart

Schneider, W., Lindenberger, U. (2012): Entwicklungspsychologie. 7. vollst. überarb. Aufl. Beltz, Weinheim

Wicki, W. (2015): Entwicklungspsychologie. 2. akt. u. erw. Aufl. Ernst Reinhardt, München/Basel

Was meint der Begriff Entwicklungsaufgaben? Diskutieren Sie, ob und welche Entwicklungsaufgaben bestimmten Lebensaltern zugerechnet werden können.

Benennen Sie zwei unterschiedliche Entwicklungsmodelle sowie die wesentlichen Merkmale moderner Entwicklungspsychologie.

Charakterisieren Sie die unterschiedlichen Bindungsstile und begründen Sie, ob, und wenn wodurch sich diese im Laufe eines Lebens verändern können.

Beschreiben Sie relevante Risiken für die frühkindliche Entwicklung rund um Schwangerschaft und Geburt, und diskutieren Sie, wie Sie als Fachkräfte der Sozialen Arbeit darauf einwirken können.

In welchen vier Stadien vollzieht sich die Entwicklung des Selbst?

Differenzieren Sie Gefühlsansteckung von Empathie.

Diskutieren Sie das Identitätskonzept von James E. Marcia, und überlegen Sie, ob und wie dieses den sozialarbeiterischen Umgang mit Jugendlichen sinnvoll beeinflussen kann.

Inwiefern können Fachkräfte der Sozialen Arbeit ältere Menschen angesichts eingetretener oder drohender Funktionsverluste unterstützen?

Der kostenlose Auszug ist beendet.