Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

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II. KAPITEL
Verschärfung der inneren Konflikte unter Wilhelm II.

Am 9. März 1888 starb Kaiser Wilhelm I. Er war ohne Zweifel ein bedeutender Mann. Er verstand das Bismarcksche System vollkommen und hatte die Einsicht, trotz seines starken dynastischen Selbstbewußtseins den Reichskanzler regieren zu lassen. Bis zu seinem neunzigsten Lebensjahr verfolgte er die politischen Vorgänge und bildete sich stets ein selbständiges Urteil. Den ernstesten Konflikt mit Bismarck hatte er 1879, als der Kanzler sich von Rußland abwenden und das Bündnis mit Österreich zur Grundlage seiner Außenpolitik machen wollte. Daß Wilhelm I. um keinen Preis die Verbindung mit Rußland zerreißen wollte, macht seinem politischen Urteil alle Ehre. Die militärischen und altpreußischen Traditionen hatten auf ihn starken Einfluß. Aber er machte doch alle Zugeständnisse an bürgerliche und moderne Verhältnisse, die Bismarck für erforderlich hielt. In Einzeldingen zeigte der alte Herr manche Wunderlichkeit, aber in wesentlichen Fragen ließ er sich durch höfische und familiäre Einflüsterungen niemals beeinflussen.

Durch die Verfassung von 1871 war der deutsche Kaiser der mächtigste Mann der Welt geworden. Seine Macht nach innen und außen war so groß, daß sie Schrecken und Mißtrauen erwecken mußte. Der deutsche Kaiser diente seiner Sache am besten, wenn er möglichst seine ungeheuere Macht nicht merken ließ. In diesem Sinne wirkte die einfache und schlichte Art Wilhelms I. Man empfand ihn nicht als militärischen Gewaltherrscher, sondern als den ersten Beamten des Reichs, und das Ausland vertraute seiner friedlichen Gesinnung. Wilhelm I. hat im Sinne der Politik Bismarcks nicht nur drei Kriege geführt, sondern auch im Innern oft rücksichtslos durchgegriffen. Gerade weil er keine Puppe war, sondern ein Mann mit selbständigem Urteil, trägt er vor der Geschichte die volle Verantwortung für die Härten der Konfliktszeit, des Kulturkampfes und des Sozialistengesetzes. Aber er handelte schweigend und hat niemals seine Gegner durch renommistische Reden bedroht oder verletzt. Unter Wilhelm II. war es umgekehrt. Er legte durch pomphafte und prahlerische Reden die ganze Kaisermacht bloß. Darauf folgten aber keine Handlungen. So machte er sich lächerlich und zerstörte das Prestige, das mit der stärksten Machtstellung der Welt verbunden war. Die kurze Regierung Kaiser Friedrichs brachte keine wesentliche Veränderung. Wenn Friedrich auch als Kronprinz persönlich dem liberalen Bürgertum näherstand als sein Vater, so war er doch ein überzeugter Anhänger des Bismarckschen Systems, und er hätte bei längerer Regierung schwerlich etwas daran geändert.

Am 15. Juni 1888 trat Wilhelm II. seine Regierung an. Staatsrechtlich dauerte seine Regierung von 1888 bis 1918. In Wirklichkeit muß man am Anfang und am Ende je zwei Jahre abziehen. Von 1888 bis 1890 regierte im Namen Wilhelms II. der Fürst Bismarck und von 1916 bis 1918 der General Ludendorff. Die eigentliche Zeit der Selbstherrschaft Wilhelms II. reicht also nur von 1890 bis 1916. Wilhelm II. fühlte sich von Anfang an berufen, selbst die Linie der Reichspolitik zu bestimmen. Da er sich von Bismarck nicht beeinflussen lassen wollte, mußte der Reichskanzler entweder zum Werkzeug des kaiserlichen Willens herabsinken oder aber den Kampf gegen den Kaiser aufnehmen. Bismarck entschied sich für das letztere und ist schnell unterlegen.

Warum war Bismarck nicht imstande, seine Stellung, die er dreißig Jahre lang mit beispiellosem Erfolg behauptet hatte, gegen einen jungen Mann zu verteidigen, der außer dem königlichen Namen nichts aufzuweisen hatte? Warum schickte nicht Bismarck den widerspenstigen Herrscher fort, genau so, wie es ein Jahrtausend zuvor der Reichskanzler Pippin mit dem Merowingerkönig gemacht hatte? Des Rätsels Lösung ergibt sich aus den Verhältnissen der preußischen Armee. Das preußische Offizierskorps hatte zwar dem Fürsten Bismarck unendlich viel zu danken. Aber es fühlte sich nicht dem Kanzler, sondern nur dem König zum Gehorsam verpflichtet. Bismarck hatte sich nie bemüht, auf den militärischen Apparat direkten Einfluß zu gewinnen. Die preußische Armee war ein Staat im Staate und wurde vom König unter Vermittlung des Militärkabinetts und des Generalstabs, ohne Berücksichtigung der zivilen Regierung, geführt. Die Ressorteifersucht der Generäle wachte eifrig darüber, daß bei ihnen kein Zivilist, auch nicht Bismarck, Einfluß erhielt1. Solange Wilhelm I. lebte, war dieser Zustand für Bismarck keine Gefahr. Denn mit Hilfe des königlichen Befehls stand die Armee stets seiner Politik zur Verfügung. Sobald aber ein Herrscher da war, der gegen Bismarck auftrat, hatte er die Armee gegen den Reichskanzler unbedingt hinter sich. Hätte Bismarck die kommandierenden Generäle auf seiner Seite gehabt, so wäre das Kräfteverhältnis anders gewesen. Da hätte er den Kaiser absetzen können. Aber so hatte Wilhelm II. alle reale Macht in seiner Hand.

Diese Entwicklung der Dinge war zwar für Bismarck persönlich sehr unangenehm, aber man kann nicht sagen, daß sie dem Geiste der Reichsverfassung widersprach. Ob der Kaiser den Reichskanzler beherrschte oder umgekehrt, war schließlich gleichgültig. Unerläßlich war nur, daß einer von beiden die starke Regierungsgewalt verkörperte. Wilhelms II. Wille, sein eigener Kanzler zu sein, hätte schon allein über kurz oder lang den Konflikt mit Bismarck gebracht. Aber dazu kamen grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in der Führung der Innen- und Außenpolitik2.

Es war der Stöcker-Gruppe gelungen, schon in den Jahren vor seiner Thronbesteigung an den Prinzen Wilhelm heranzukommen und ihm ihre Ideen beizubringen. Wilhelm II. war durch das unaufhaltsame Wachsen der Sozialdemokratie ebenfalls erschreckt. Aber er lehnte die Gewaltpläne Bismarcks gegen die Sozialdemokraten ab und wünschte statt dessen eine gesteigerte Sozialpolitik und eine Reichsregierung im Sinne Stöckers. Zu den Führern im Stöcker-Kreise gehörte damals der Generalstabschef Graf Waldersee, der den Krieg mit Frankreich und Rußland für unvermeidlich hielt. Im Sinne Waldersees verwarf Wilhelm II. die Bestrebungen Bismarcks, mit Rußland im Vertragsverhältnis zu bleiben. Statt dessen wollte er, wenigstens in den Anfängen seiner Regierung, im engen Bündnis mit Österreich, vielleicht auch mit England, den Verteidigungskrieg gegen Rußland und Frankreich vorbereiten. Bismarck lehnte innen- und außenpolitisch die Linie Wilhelms II. ab und wurde entlassen.

Wilhelm II. hat sich seit 1890 intensiv mit den Fragen der deutschen Außenpolitik beschäftigt und in allem Wesentlichen ihren Kurs bestimmt. Ebenso hat er wenigstens in den großen Linien die Innenpolitik Deutschlands festgelegt. An Fleiß zur Erledigung der Regierungsgeschäfte fehlte es Wilhelm II. nicht. Aber seine Sachkenntnis war gering, und die nervösen Schwankungen und Störungen, denen er unterworfen war, machten jeden stetigen Kurs unmöglich. Wilhelm II. vertrug zwar in Einzelfragen den Widerspruch seiner Minister, aber er duldete niemand, der konsequent ein bestimmtes System in der Innen- und Außenpolitik verfolgte. Seine eigene Launenhaftigkeit wurde noch durch die vielfachen höfischen Einflüsse gesteigert, denen er ausgesetzt war. So hat Deutschland eigentlich von 1890 bis 1916 überhaupt keine Regierung gehabt, sondern es wurden zufällig und prinzipienlos die laufenden Geschäfte erledigt.

Auch unter Wilhelm II. ist in manchen Ressorts solide Arbeit geleistet worden, was in einzelnen Gesetzeswerken zutage trat. Aber es war niemand da, der die Gesamtsituation Deutschlands erfaßte und auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitete. So schuf das System Wilhelms II. ein politisches Chaos. Nur der Zufall, daß Deutschland bis 1914 ein ernsthafter Krieg erspart blieb, hat den Zusammenbruch so lange hinausgeschoben.

Daß die Regierung Wilhelms II. ein solches Unheil über Deutschland brachte, ist aber weniger die persönliche Schuld des Kaisers als die Folge der Verfassung von 1871. In konstitutionellen Monarchien hat die Persönlichkeit des Regenten keine entscheidende Bedeutung. Aber auch absolute Monarchien haben schwere Krisen unter der Regierung von durchaus unzulänglichen Persönlichkeiten überstanden. Man denke an Österreich und Rußland in der napoleonischen Zeit. Kaiser Franz von Österreich und Alexander I. von Rußland waren wirklich keine Männer, die ihrem Staat eine besondere Stütze bieten konnten. Österreichs Situation war 1809 nach der Schlacht bei Wagram ungefähr ebenso hoffnungslos wie die Preußen-Deutschlands im Herbst 1918. Ebenso ernst war die Lage Rußlands 1812, als Napoleon in Moskau stand. Trotzdem bestand damals weder in Österreich noch in Rußland eine Revolutionsstimmung. Auch absolute Monarchien können sehr stabil sein, wenn sie der traditionelle Ausdruck der wirtschaftlich und gesellschaftlich herrschenden Schicht sind.

Der Absolutismus war im alten Österreich, wie im alten Rußland, die Herrschaftsform der dort regierenden Aristokratie. Der Kaiser war zwar formal allmächtig. In Wirklichkeit mußte er die traditionell festgelegte Innen- und Außenpolitik seines Reiches weiterführen. War er nicht imstande, das selbst zu tun, so fanden sich Ratgeber, die ihm als Minister im Sinne der Tradition beistanden. Sabotierte er aber und lähmte er die Staatsgeschäfte durch seine Launen, so wurde er von der Aristokratie abgesetzt, wie Peter III. und Paul von Rußland. Jedoch dachte dort niemand an eine Verfassungsänderung. Sondern an Stelle des alten trat ein neuer »absoluter« Monarch, der, durch das Schicksal seines Vorgängers belehrt, die traditionelle Politik fortsetzte. So war es möglich, daß auch absolute Monarchien jahrhundertelang eine konsequente Politik verfolgten, ohne durch die Person unzulänglicher Herrscher behindert zu werden.

Das Bismarcksche Deutschland war weder ein konstitutioneller Staat noch eine absolute Monarchie mit fester Tradition. Die Kräfte, auf denen das Reich beruhte, hatten keine organische Verbindung. Bismarcks Prinzipien waren nicht im entferntesten den herrschenden Schichten in Fleisch und Blut übergegangen. Der Ausgleich zwischen dem preußischen Militäradel und den übrigen im Reiche wirksamen Kräften lag ausschließlich in der Hand des Regenten. In diesem Sinn war das Reich Bismarcks eine bonapartistische Schöpfung, und sein Wohl und Wehe hing in weitem Umfang von der Person des Herrschers ab, mochte dies nun der regierende Kaiser oder ein regierender Reichskanzler sein. Bismarck hat nach seinem Sturz die Fehler Wilhelms II. rücksichtslos kritisiert. Aber er trägt dennoch für sie die Mitverantwortung. Denn die Verfassung, die das Schicksal Deutschlands in die Hand Wilhelms II. legte, war Bismarcks Werk.

 

Unter Wilhelm II. verstärkte der preußische Großgrundbesitz seine Verbindung mit den evangelischen Bauernmassen des Reichs: Der »Bund der Landwirte« wurde zu einer politischen Großmacht. Versuche, ein kleinbäuerliches Konkurrenzunternehmen gegen den »Bund der Landwirte« ins Leben zu rufen, hatten keinen nennenswerten Erfolg. Das evangelische Dorf blieb bis zum Weltkrieg unter konservativer Herrschaft, wenn auch ein Teil der Landarbeiter bei der geheimen Reichstagswahl einen »roten« Stimmzettel abgab. Seitdem Bismarcks schwere Hand von ihnen genommen war, konnte niemand mehr die preußischen Konservativen zu Zugeständnissen an Bürger und Arbeiter zwingen. Unbedingt verteidigten sie ihre Privilegien in Armee und Verwaltung. Die Zoll- und Steuerpolitik mußte nach ihren Wünschen gestaltet werden. Als besonders kostbarer konservativer Besitz galt jetzt das preußische Dreiklassenwahlrecht, an dem nicht gerüttelt werden durfte. Wilhelm II. hatte weder die Kraft noch den Willen, irgendwo den preußisch-aristokratischen Einfluß zurückzudrängen. Die preußischen Konservativen waren durchaus nicht mit allen Handlungen des Kaisers einverstanden. Urteilsfähige Konservative hatten ihre Sorgen über manche Züge des persönlichen Regiments und besonders über die kaiserliche Außenpolitik. Aber die Konservativen dachten an keine Verfassungsreform, um die Macht des Kaisers einzuschränken. Sie waren der Ansicht, daß jede Veränderung der Verfassungsverhältnisse ihre Position schwächen würde, und so ließen sie alles beim alten.

Das liberale Bürgertum nahm an wirtschaftlicher Macht unter Wilhelm II. ständig zu. Aber sein parlamentarischer Einfluß ging zurück. Im preußischen Landtag herrschten die Agrarier. Bei den Reichstagswahlen fielen die großstädtischen und industriellen Bezirke in steigendem Maße den Sozialdemokraten zu. Die liberalen Parteien behaupteten mit Mühe und Not eine Anzahl Mandate, vor allem aus kleinstädtischen Bezirken. Eine Parlamentarisierung Deutschlands hätte in erster Linie den Übergang der Macht von den Agrarkonservativen zu den bürgerlichen Liberalen bringen müssen. Aber die Schwäche der Liberalen im Reichstag, wo sie meistens kaum ein Viertel der Sitze hatten, machte den Gedanken der parlamentarischen Regierung damals noch aussichtsloser, als er schon an sich war.

Der Einfluß des Bürgertums auf die Reichspolitik vollzog sich infolgedessen gar nicht durch das Parlament, sondern durch persönliche Bearbeitung des Kaisers. Wilhelm II. war persönlich zu den Führern von Industrie und Handel sehr entgegenkommend. Er zog sie an seinen Hof und gab ihnen Adel und Titel. Wenn eine große Firma in geschickter Weise ihre Auslandsinteressen beim Kaiser vertrat, konnte sie alles erreichen. Wilhelm II. war jederzeit bereit, die Autorität des Reichs für das Geschäft einer jeden großen Firma einzusetzen. Das bekannteste Beispiel ist die Beeinflussung der Reichspolitik durch das Bagdadbahn-Geschäft der Deutschen Bank. Wilhelm II. war hier wie auf allen Gebieten völlig planlos. Das Verhängnis für das Reich, das aus solchen Einzelunternehmungen und entsprechenden politischen Aktionen hervorgehen konnte, bedachte er nicht.

Der persönliche Einfluß, den Männer wie Ballin beim Kaiser hatten, konnte aber die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß das Bürgertum als Klasse in der deutschen Politik keine Macht hatte. Deutschland wurde unter Wilhelm II. konservativ-agrarisch regiert, und das Bürgertum stand daneben. Die nationalliberalen Industriellen bewahrten freilich die aus der Bismarck-Zeit ererbte Loyalität. Um 1890 hatte es so ausgesehen, als beabsichtige der Kaiser einen entschlossenen sozialpolitischen Kurs auch gegen die Industrie. Aber als Wilhelm II. sah, daß er mit seinen Reden und mit kleinen Geschenken die Sozialdemokraten nicht gewinnen konnte, schlug seine Stimmung rasch um. Es wurde unter Wilhelm II. nicht mehr Sozialpolitik getrieben, als die Industrie ertrug. So blieben die Nationalliberalen eine feste Stütze der Regierung im Reichstag. Sie traten für die Flotten- und Kolonialpolitik ein und bildeten zusammen mit Konservativen und Zentrum die Mehrheit für die Schutzzölle. Die Fabrikanten sahen in der starken Regierungsgewalt einen willkommenen Schutz gegen die Arbeiter. Die »freisinnige« Kaufmannschaft hatte keine so scharfe Kampfstellung gegen die Arbeiter, und sie lehnte nach wie vor die Schutzzölle ab. Trotzdem war der Oppositionswille der »Freisinnigen« im Reichstag gering, und wenn die Regierung sich darum bemühte, konnte sie auch die freisinnigen Stimmen haben, zumal nach dem Tode Eugen Richters.

Trotzdem wäre es verfehlt, die Stimmung des deutschen Bürgertums in der wilhelminischen Zeit nur nach der Haltung der liberalen Parlamentarier zu beurteilen. Zwar war das Bürgertum im ganzen durchaus verfassungstreu, und niemand strebte eine gewaltsame Umwälzung an. Es wirkte sich immer noch aus, wie in der Bismarck-Zeit der politische Machtwille des Bürgertums gebrochen worden war. Aber die Mißstimmung über das herrschende System trat doch bei den verschiedensten Gelegenheiten zutage.

In den Jahren 1890 bis 95 häuften sich die Huldigungen für Bismarck, und zwar vor allem aus den Kreisen des Bürgertums und der akademisch gebildeten Schichten. Der preußische Adel hielt sich gegenüber Bismarck viel mehr zurück. Die Bismarck-Begeisterung war vielfach nur der Ausbruch der Reichstreue und nationalen Stimmung. Aber dabei war doch ein starker Unterton bürgerlicher Opposition gegen Wilhelm II. Bismarck selbst suchte die Opposition mit allen Mitteln zu schüren und benutzte dazu ihm nahestehende Zeitungen und Journalisten. Wäre das Parlament damals der wirkliche Ausdruck der Stimmung des Bürgertums gewesen, so wäre eine starke Bismarcksche Oppositionspartei im Reichstag eingezogen. Aber davon war keine Spur. Zwar haben die Nationalliberalen eines hannoverschen Kreises den alten Fürsten Bismarck in den Reichstag gewählt. Er nahm das Mandat an, übte es aber nicht aus. Ebenso erhielt Bismarcks Sohn, Fürst Herbert Bismarck, ein Reichstagsmandat3. Eine organisierte Bismarck-Partei entstand nicht.

Der glänzendste Vertreter der Bismarckschen Gedanken wurde Maximilian Harden, der Herausgeber der »Zukunft«. Er verband die rücksichtslose Kritik an Wilhelm II., seinem Hof und seinen Ratgebern mit dem weltpolitischen Machtwillen des Großbürgertums. So war Harden, ganz im Sinne Bismarcks, zugleich der Todfeind des Kaisers und der Sozialdemokraten. Harden hat sich aus naheliegenden Gründen nicht formell zu einer deutschen Republik bekannt. Aber die ständige ungeheuer erfolgreiche Diskreditierung des Kaisers und seines Freundeskreises mußte allmählich republikanische Stimmungen erzeugen. Man kann sich fragen, wer der Vorläufer der heutigen deutschen Republik in der wilhelminischen Zeit gewesen ist. Den Anspruch darauf hätte in erster Linie Maximilian Harden, in viel geringerem Maße Erzberger, und gar nicht Karl Liebknecht.

Ein wichtiger Träger der bürgerlichen Opposition unter Wilhelm II. war ferner die großstädtische Kaufmannschaft, vor allem in Berlin. Die Mißstimmung über die »Junker«herrschaft in Staat und Heer traf sich mit dem Ärger und Spott über die kulturelle Rückständigkeit des herrschenden Systems. Wilhelms II. lächerlicher Krieg gegen die moderne Kunst, gegen das naturalistische Drama und gegen die Sezession, trieb das Berliner Bürgertum um so entschiedener zu Hauptmann und Liebermann. Dem modernen Bürgertum war die Berliner „Siegesallee“ genauso unerträglich wie der die Stadt kommandierende Polizeipräsident. Die am Hofe Wilhelms II. herrschende protestantische Orthodoxie machte einige Versuche, um im Bunde mit dem Zentrum den Einfluß der Kirche in der Schule zu stärken und die sogenannte »unzüchtige« Literatur und Kunst zu treffen. Der moderne Flügel des Bürgertums leistete solchen Vorstößen entrüsteten Widerstand und ging dabei, wie im Kampfe gegen die »Lex Heinze«, mit den Sozialdemokraten zusammen.

Der großstädtische bürgerliche Oppositionsgeist fand seinen besonderen Ausdruck in Organen wie dem »Berliner Tageblatt« und dem »Simplizissimus«. Diese Kreise strebten eine Reform des Deutschen Reiches etwa im Sinne, englischer Verfassungszustände an. Das Bündnis zwischen dem linken Bürgertum und der Sozialdemokratie beschränkte sich nicht auf das kulturelle Gebiet, wo die junge Schriftstellergeneration im Geiste der »Weber« die soziale Frage behandelte, sondern man glaubte auch politisch zur Niederkämpfung des halbabsolutistischen, aristokratischen Systems ein großes Stück Weges mit der Sozialdemokratie zusammengehen zu können.

Die großstädtische, stark kulturell gefärbte, bürgerliche Opposition kam ebenfalls im Parlament kaum zum Ausdruck. Denn die freisinnigen Reichstagsabgeordneten vertraten meistens mittel- und kleinstädtische Kreise und Stimmungen4. Die freisinnigen Abgeordneten der wilhelminischen Zeit kamen in der Regel aus Niederschlesien, Württemberg, Oldenburg, Danzig, Nordhausen usw., während Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München fast nur durch Sozialdemokraten vertreten wurden. Trotzdem übte die große linksliberale Presse einen Druck auf die Freisinnige Partei aus, der mindestens Wahlbündnisse zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen erleichterte. Die Freunde einer solchen Linkskoalition sahen ihr Vorbild in Baden, wo die Landtagswahlen ein Zusammengehen der Liberalen aller Richtungen mit den Sozialdemokraten brachten, wodurch Zentrum und Konservative in die Minderheit gedrängt wurden.

Für sich allein genommen, war die Kraft der linksliberalen Opposition gering, zumal da die Industrie mit der Regierung ging. Die politische Bedeutung der Linksliberalen lag nur in der Möglichkeit des Zusammenwirkens mit der Sozialdemokratie. Wenn das Millionenheer der Sozialdemokraten in einer kritischen Situation auch noch die »öffentliche Meinung« des Bürgertums zur Seite hatte, war die Regierung zwar noch nicht besiegt, aber sie brauchte, um sich halten zu können, das Zentrum.

Je stärker unter Wilhelm II. die Sozialdemokratie wuchs, um so mehr steigerte sich die Wichtigkeit des Zentrums als des Züngleins an der Waage. Das galt nicht nur für das Stimmenverhältnis im Reichstag, wo bis 1907 eine stabile Regierungsmehrheit ohne das Zentrum nicht möglich war, sondern noch viel mehr von den Kräfteverhältnissen draußen im Lande. Wenn die Millionenmassen des Zentrums und der Sozialdemokratie, gestützt von den Sympathien des oppositionellen Bürgertums, gemeinsam in den Kampf gegen die Regierung traten, entstand eine revolutionäre Situation. Die Bismarckschen Bedenken, die Existenz des Deutschen Reichs auf das Zentrum aufzubauen, bestanden für Wilhelm II. nicht. So wurde das Zentrum ungefähr von 1895 bis 1906 die Hauptstütze der kaiserlichen Regierung5. Die Zentrumsführer standen in diesen Jahren in enger Fühlung mit dem Reichskanzler. Hohenlohe und Bülow besprachen mit der Zentrumsführung die wichtigsten Gesetzesvorlagen. Man erzählte den Abgeordneten auch einiges von der Außenpolitik.

Trotzdem wäre es ganz falsch, in diesem Verhältnis der führenden Reichstagsfraktion zur Regierung einen Schritt zur Parlamentarisierung Deutschlands zu sehen. Erstens durfte der Reichstag niemals an die Kommandogewalt des Kaisers rühren. Zweitens blieb die Außenpolitik Deutschlands, trotz der gelegentlichen Information der Abgeordneten, völlig in der Hand des Kaisers und des Reichskanzlers. Es ist bezeichnend, daß der Reichstag 1914 von den gesamten diplomatischen Verhandlungen zwischen dem Mord in Sarajewo und den Kriegserklärungen keinerlei Kenntnis erhielt6. Selbst die führenden Abgeordneten wußten nicht mehr als das, was in den Zeitungen stand. Unter solchen Verhältnissen war selbst von einer teilweisen Parlamentarisierung Deutschlands keine Rede.

Der Einfluß des Zentrums im Reichstag war viel größer als das Gewicht der Zentrumswähler im Lande. Das Zentrum hatte damals die katholische Minderheit der Landwirtschaft und die christlich organisierte Minderheit der Industriearbeiter hinter sich. Das Bürgertum war nur spärlich im Zentrum vertreten. Die politische Forderung der Parlamentarisierung Deutschlands bedeutete in Wirklichkeit nicht so sehr die Verschiebung der Macht vom Kaiser zum Reichstag, sondern von der preußischen Aristokratie zum deutschen Bürgertum. Wenn aber das Zentrum in den Jahren von 1895 bis 1906 und nachher von 1909 bis 1914 zusammen mit den Konservativen im Reichstag die Regierungsmehrheit bildete, wurde durch diese im Wesen antibürgerliche Kombination die Parlamentarisierung nur gehindert.

 

Die führende Gruppe des Zentrums unter Wilhelm II. hat eine Parlamentarisierung Deutschlands gar nicht gewollt. Der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der Katholischen Kirche, der unter Bismarck zustande gekommen war, trug jetzt seine Früchte. Der Kreis hoher katholischer Staatsbeamter, der unter Wilhelm II. das Zentrum führte, war gegenüber den bestehenden Zuständen durchaus konservativ gestimmt. Dieselbe Staatsauffassung hatte zum Teil die hohe katholische Geistlichkeit. In Männern wie den Abgeordneten Spahn und von Hertling und Kardinal Kopp traf sich die nationalkonservative Grundüberzeugung mit der Auffassung, daß das bestehende Deutsche Reich die bestmögliche Situation für den deutschen Katholizismus biete. Wie weit war man da von der Stimmung der Zentrumsführung in der Kulturkampfzeit entfernt!

Die konservative Zentrumsgruppe konnte sich unter Wilhelm II. in normalen Zeiten auf die agrarischen Interessen der Zentrumsanhänger stützen. Aber schon der katholische Bauer Süddeutschlands war auch jetzt, bei aller vaterländischen Gesinnung, durchaus nicht an die Existenz des Hohenzollern-Kaisertums gebunden. Dasselbe galt noch stärker von den christlichen Arbeitern. Unter der Regierung Wilhelms II. war die Sozialdemokratie auch in den katholischen Gegenden in siegreichem Vordringen. Vor Kriegsausbruch war in Städten wie München, Köln, Düsseldorf, Mainz bereits die große Mehrheit der Arbeiter sozialdemokratisch. Stärkeren Widerstand gegen die Sozialdemokratie leisteten der christliche Bergarbeiterverband im Ruhrgebiet sowie die christlichen Arbeiterorganisationen im Bezirk von Mönchengladbach. Seitdem das Zentrum die Mitverantwortung für den agrarkonservativen Kurs der Reichspolitik zu tragen hatte, wurde seine Position unter den Arbeitern immer mehr erschüttert. Die oberschlesischen Bergarbeiter liefen in denselben Jahren meistens zur radikal-polnischen Partei über.

Der scharfe Konkurrenzkampf mit den Sozialdemokraten und den freien Gewerkschaften nötigte die christlichen Organisationen, das Trennende gegenüber den Sozialdemokraten stark zu betonen. Aber der gemeinsame Gegensatz zum Unternehmertum und zur preußischen Staatsgewalt führte den sozialdemokratischen und den christlichen Arbeiter wieder zusammen. Charakteristisch ist es, daß der Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, den die Sozialdemokratie führte, bei den christlichen Arbeitern volle Zustimmung fand7. Das Zentrum als Partei war durch das preußische Wahlsystem nicht geschädigt. Mit Hilf e seiner Wähler aus dem ländlichen und städtischen Mittelstand konnte das Zentrum prozentual im preußischen Landtag ebenso stark auftreten wie im Reichstag. Aber die Entrechtung des Arbeiterwählers in der dritten Abteilung empfand der christliche Arbeiter ebenso stark wie der Sozialdemokrat.

Der Oppositionsgeist der christlichen Arbeiter fand seinen Ausdruck in einem linken Flügel der Zentrumspartei, dessen jüngere Führer die Taktik der altkonservativen Parteispitze nicht billigten. Der aktivste und einflußreichste Mann im linken Zentrum wurde Matthias Erzberger. Er hat zwar in entscheidenden Fragen falsch geurteilt und wunderliche Schwankungen in seiner politischen Haltung durchgemacht. Aber Erzberger hatte dabei eine beispiellose Gabe, die Aktualität einer Situation zu empfinden und dann aus der Situation herauszuholen, was nur irgendwie möglich war. Es hätte Erzbergers Art nicht entsprochen, einen konsequenten Kampf auf lange Sicht gegen das preußische System zu führen. Im Gegenteil, er hat manchmal mit dem alten System und gerade mit seinen militärischen leitenden Persönlichkeiten harmonisch zusammengearbeitet. Aber kritische Situationen rissen ihn sofort, daß er dann zu den furchtbarsten Angriffen gegen die herrschende Ordnung befähigt war. Seine ungewöhnliche Aktivität sichert ihm den führenden Platz unter den Männern der deutschen bürgerlichen Revolution. Von dem linken Zentrumsflügel gilt dasselbe wie von der linksbürgerlichen Opposition: An sich bedeutungslos, wurde er ein lebensgefährlicher Feind des alten Systems, sobald er mit der Sozialdemokratie zusammenging.

Die Sozialdemokratie ist unter Wilhelm II. von eineinhalb zu viereinviertel Millionen Wählerstimmen gestiegen8. Zur Zeit des Kriegsausbruchs folgte ein Drittel des deutschen Volkes den Parolen des sozialdemokratischen Parteivorstandes. Seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes hat Wilhelm II. es nicht mehr gewagt, die Sozialdemokratie gewaltsam zu unterdrücken. Zwar haben die Gerichte immer wieder sozialdemokratische Führer und Arbeiter wegen Majestätsbeleidigung, Landfriedensbruchs usw. ins Gefängnis geschickt. Aber im ganzen vollzog sich der Ausbau der sozialdemokratischen Organisation ohne Störung durch die Staatsgewalt. Die sozialdemokratischen Vereine und Zeitungen, dazu das mächtige System der freien Gewerkschaften, umspannten ganz Deutschland. So war der sozialdemokratische Parteivorstand die heimliche Gegenregierung und August Bebel auf der Höhe seines Einflusses eine Art von Gegenkaiser. Auf der anderen Seite hielt sich aber die Sozialdemokratie im Rahmen der Gesetze. Seitdem sie durch Aufhebung des Ausnahmegesetzes die politische Bewegungsfreiheit erlangt hatte, wollte sie erst recht nur durch legale Propaganda ihre Anhängerschaft vermehren.

Das war durchaus kein Verzicht auf Revolution und Machtübernahme. Wenn das deutsche Kaisertum und die preußische Regierung sich nicht mehr stark genug fühlten, um ihren Todfeind niederzuwerfen, wäre es eine Dummheit gewesen, wenn die Sozialdemokraten vorzeitig den Entscheidungskampf heraufbeschworen und damit ein neues deutsches Seitenstück zur Kommune-Niederlage geschaffen hätten. Friedrich Engels, der einzige Staatsmann von Format, den die Sozialdemokratie in den neunziger Jahren besaß, hat die Situation in vollkommener Klarheit erfaßt9. Ein Straßenkampf der Arbeiter gegen die intakte preußische Armee wäre bei der modernen Waffentechnik hoffnungslos. Aber wenn die Sozialdemokratie in dem Tempo der Wahlen von 1887, 1890, 1893 weiter wuchs, drang sie in gleichem Umfang in die Armee ein. Auch bei friedlicher Weiterentwicklung der Partei mußte der Moment kommen, in dem es so viele sozialdemokratische Soldaten gab, daß die Truppe nicht mehr gegen die Arbeiter eingesetzt werden konnte. Kam es aber zum Krieg, dann würde Deutschland in derselben Lage sein wie Frankreich 1793. Dann würden auf den Trümmern des alten Systems die Arbeiter die Macht übernehmen, und dann würde das Arbeiter-Deutschland genauso siegreich den Zarismus und seine Verbündeten zurückwerfen, wie damals Frankreich das verbündete monarchische Europa schlug.

Friedrich Engels kommt an politischem Realismus und rücksichtslosem Machtwillen Bismarck gleich. Aber so wenig wie Wilhelm II. und seine Ratgeber im Geiste Bismarcks regierten, ebensowenig waren die Gedanken von Engels Gemeingut der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Deutschlands. Die Arbeiter kamen zur Sozialdemokratie in erster Linie, um ihre gedrückte wirtschaftliche Lage zu bessern. In der Tat gelang es unter Wilhelm II. dem zähen Kampf der Gewerkschaften, die Lebenshaltung des deutschen Proletariats zu heben. Was die Regierung an sozialpolitischen Zugeständnissen machte, wurde auch nur durch den Druck der Sozialdemokratie abgerungen. Die Arbeiter verstanden ferner den Zusammenhang zwischen der Macht der Unternehmer und der militärisch-politischen Staatsgewalt. Sie kämpften gegen den preußischen »Militarismus« und gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht. Aber ein ernster politischer Machtwille war doch in den Massen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft nicht vorhanden. Das Proletariat ist eben geistig von dem Bürgertum seines Landes viel abhängiger, als man es manchmal zugeben möchte: Der russische revolutionäre Sozialismus des 20. Jahrhunderts hätte sich ohne die hundertjährige revolutionäre Tradition der bürgerlichen russischen Intelligenz nie entfalten können. Wenn die englische Arbeiterschaft heute imstande ist, über alle politischen Fragen so klar und präzis zu urteilen, so dankt sie das dem politischen Vorbild des englischen Bürgertums seit Jahrhunderten.