Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

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Es ist begreiflich, daß beide Gruppen der Gegner Bismarcks und seines konservativ-liberalen Kartells auf den dritten Faktor der deutschen Politik, auf das Zentrum, spekulierten. Bei den Konservativen war es die Idee des konservativ-klerikalen Blocks, die als Ersatz für das System Bismarcks vorgeschlagen wurde. Aber auch die liberale Opposition gewöhnte sich daran, im Reichstag mit dem Zentrum zusammen zu stimmen. In den achtziger Jahren konzentrierte sich im Reichstag die Opposition gegen Bismarck um die Namen Windthorst und Richter. Sollte es da nicht möglich sein, auch positiv eine Zusammenarbeit zwischen dem liberalen Bürgertum und der katholischen Partei herzustellen? Das Zentrum hatte doch im Kulturkampf den Druck des herrschenden Systems nur zu schwer gespürt. Konnte es sich nicht auch zum Parlamentarismus bekehren? War nicht auch in Deutschland ein Seitenstück zu dem Ministerium Gladstone14 möglich, das sich auf ein Bündnis der englischen Liberalen mit den katholischen Iren stützte?

Ein deutsches Ministerium Gladstone hätte auch in bestimmten, Bismarck feindlichen Hofkreisen eine Stütze gefunden. Denn die Gegner Bismarcks am Hof hatten teils liberale und teils klerikale Sympathien. Die Idee des deutschen Ministeriums Gladstone ist geschichtlich überaus interessant, denn hier finden wir die ersten Anfänge der Kombination, die dann später zur Mehrheit der Friedensresolution von 1917 und zur Weimarer Koalition von 1919 führte. Aber in den achtziger Jahren waren die Aussichten, aus der Oppositionsfront Windthorst-Richter-Sozialdemokratie ein neues deutsches Regierungssystem zu schaffen, ganz gering. Zwar war von 1881 bis 1886 eine Reichstagsmehrheit für die Opposition vorhanden. Bei einem Thronwechsel war auch vielleicht ein Ministerium denkbar, das mit dieser Reichstagsmehrheit (ohne die Sozialdemokratie) zusammengearbeitet hätte. Aber um daraus ein lebensfähiges neues System zu entwickeln, hätte man erst die Machtstellung des militärischen Adels in Preußen zerschlagen müssen, und das traute sich damals niemand zu.

Deshalb war das Zentrum damals von einer solchen Kombination nicht begeistert, und es zog noch ein friedliches Zusammengehen mit den Konservativen einer solchen revolutionären Aktion vor. Im Bürgertum war ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten der politische Machtwille ständig gesunken. Was das deutsche Bürgertum mit aller Geisteskraft und aller Opferwilligkeit von 1848 bis 1866 vergeblich erstrebt hatte, das hatten der König von Preußen und Bismarck mit einigen gewaltigen Schlägen zustande gebracht. Nun sah man seit 1871, wie Bismarck, ohne sich von den Parteipolitikern viel stören zu lassen, das Deutsche Reich ausbaute, wie die Weltgeltung Deutschlands von Jahr zu Jahr ohne neuen Krieg zunahm, wie die Wirtschaftskurve nach oben ging und wie die innerdeutschen Verhältnisse scheinbar ganz stabil wurden. So gewöhnte sich die große Mehrheit des Bürgertums, vor allem die intellektuellen und die akademischen Kreise, daran, dem eigenen politischen Urteil zu mißtrauen. Statt dessen verließ man sich darauf, daß die Regierung in Berlin schon alles richtig machen würde.

Gewiß war es richtig, daß Bismarck und Wilhelm I. als politische Persönlichkeiten mehr bedeuteten und mehr leisteten als Lasker und Eugen Richter. Aber daraus machte man das Dogma von der preußischen Unfehlbarkeit und von Preußens historischer Mission. Ungefähr seit 1880 war politisch dem deutschen Bürgertum das Rückgrat gebrochen. Aber die historische Wahrheit zwingt festzustellen, daß diese Wandlung nicht durch Gewalt und Furcht entstanden ist. Unter welchem polizeilichen Druck stand das deutsche Bürgertum von 1815 bis 1848, und doch blieb es oppositionell und selbstbewußt! Nach 1871 war der physische Druck der Regierung auf das Bürgertum minimal. Was bedeuteten die paar Majestäts- und Bismarck-Beleidigungsprozesse gegenüber den Demagogenverfolgungen des Vormärz! Aber jetzt sah man sich einer ungeheueren politischen Leistung gegenüber, die trotz mancher Schönheitsfehler die nationalen Forderungen des deutschen Bürgertums erfüllte. Vor dieser Leistung brach der Oppositionswille des Bürgertums zusammen. Diese Stimmung war es, die den Bismarckschen Nationalliberalen, weit über die Kreise der industriellen Interessen hinaus, Autorität verschaffte. Darum war die Opposition der Fortschrittler so lahm. Darum war das deutsche Ministerium Gladstone unter Bismarck nur ein Gespenst ohne Realität.

Aber diese Einstellung des deutschen Bürgertums zur kaiserlichen Regierung war für das Reich durchaus kein idealer Zustand. Die geistige Kapitulation des Bürgertums, die gegenüber Bismarck und Wilhelm I. vielleicht noch zu rechtfertigen war, wurde absurd gegenüber Wilhelm II. und Bülow. In einer ernsten Krise mußte eine solche Gesinnung dazu führen, daß alles hypnotisiert nach oben starrte, und wenn die Regierung versagte, tat das Bürgertum aus eigener Initiative auch nichts. Nach 1890 war Bismarck entsetzt über die allgemeine Unterwürfigkeit und den Mangel an ernster Opposition gegen Wilhelm II., abgesehen von der Sozialdemokratie, die prinzipiell dem Reiche Bismarcks feindlich gegenüberstand. Aber Bismarck hätte sich sagen müssen, daß dieser beklagenswerte Zustand die Folge seiner eigenen Erziehung des deutschen Bürgertums war.

Indessen in der Tagespolitik ging alles so, wie Bismarck es wollte. Bei den Reichstagswahlen von 1887 errang das Bismarcksche Kartell der Konservativen und Nationalliberalen einen großen Erfolg. Bismarck hatte jetzt im preußischen Landtag wie im deutschen Reichstag eine ihm ergebene Mehrheit. Im Lande hatte er neben der großen agrarkonservativen Bewegung die bürgerlichen, regierungstreuen Nationalliberalen. Der Kampf gegen das Zentrum hatte seine Schärfe verloren, und die Gruppe Eugen Richters war in dieser Situation nicht gefährlich. Aber es blieben zwei andere Gefahren für das System Bismarcks: Die extremen Konservativen der Richtung Stöcker hatten sich zwar parteimäßig nicht selbständig gemacht. Sie hatten es nicht verhindern können, daß die offizielle konservative Partei die Kartellpolitik mitmachte. Aber sie blieben unversöhnt, und sie wurden 1888 beim Regierungsantritt Wilhelms II. am Hof eine Großmacht. Zweitens entwickelte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung trotz aller Unterdrückungsmaßregeln eine solche Kraft, daß sie das ganze System Bismarcks gefährdete. Der Kampf gegen die Stöckergruppe und gegen die Sozialdemokraten hat in gegenseitiger Wechselwirkung zum Sturze Bismarcks geführt.

Die selbständige Klassenbewegung des deutschen Proletariats verbreitete sich in den siebziger und achtziger Jahren entsprechend der Aufwärtsentwicklung der deutschen Industrie. Die Sozialdemokratie kämpfte damals zunächst gegen die elende wirtschaftliche Situation der Arbeiter und entwickelte daneben das Programm politischer Machtübernahme, die Umwandlung Deutschlands in eine sozialistische Arbeiterrepublik. Bei dem geringen Prozentsatz der Sozialdemokraten innerhalb der deutschen Bevölkerung lag freilich damals das Endziel in weiter Ferne. Die Sozialdemokratie war bis 1887 im Reichstag kaum viel stärker als die polnische Nationalpartei. Putschistische Gewalttätigkeiten vermied die Sozialdemokratie vollkommen. Sie trieb ihre Propaganda im Rahmen der Gesetze. Mit den beiden Attentaten auf Wilhelm I. im Jahre 1878 hatte die Sozialdemokratie nichts zu tun. Die Vorbilder für jene Attentate lieferten die Aktionen der aktiven Anarchisten und der russischen Sozialrevolutionäre. Trotzdem benutzte Bismarck die durch die Attentate erzeugte Stimmung, um die sozialistische Bewegung unter ein Ausnahmegesetz zu stellen.

Eine oppositionelle Klassenbewegung der Arbeiter konnte Bismarck in seinem Reich nicht gebrauchen. Bismarck hatte kein Verständnis für die sozialen Forderungen der Arbeiterschaft. Nicht einmal die Bestrebungen zur Sicherung der Sonntagsruhe und zur Einschränkung der Kinderarbeit in der Industrie fanden seine Billigung15. Wenn auch die Anfänge der deutschen sozialpolitischen Gesetzgebung in seine Herrschaftsperiode fallen, blieb er über den Wert und die Bedeutung solcher Maßregeln skeptisch. Noch viel weniger war Bismarck irgendwelchen Bestrebungen zugeneigt, den Arbeitern politisch ein Betätigungsfeld im Deutschen Reich einzuräumen. Die Struktur des Bismarckschen Reichs ließ einfach nichts anderes zu als die politische Unterdrückung der Arbeiterklasse. Im Bismarckschen System war ja nicht einmal die Frage der politischen Mitarbeit des Bürgertums geklärt! Wenn man aber nicht einmal dem besitzenden Bürgertum die Mitregierung gestatten konnte, was sollte man da mit den politischen Forderungen der Arbeiter anfangen?

Ferner bedeutete eine Politik, die in weitem Umfang den Arbeiterforderungen entgegenkam, einen Kampf gegen die Industrie, und Bismarck war unbedingt abgeneigt, einen solchen Kampf zu führen. Die Industriellen sollten ja Bismarcks Kerntruppe innerhalb des Bürgertums sein. Ihr Einfluß trug die Nationalliberale Partei. Die Industrie abstoßen, bedeutete für Bismarck das Bürgertum abstoßen. Darin sah er die Ersetzung seines bewährten Systems der Kräfte durch christlichsoziale stökkerische Experimente. Die Verstimmung der Arbeiterschaft war für Bismarck gegenüber der Verbitterung des besitzenden Bürgertums durchaus das kleinere Übel: Ohne das Bürgertum konnte man das Deutsche Reich nicht aufrechterhalten. Dagegen hielt Bismarck es absolut für möglich, die politische Arbeiterbewegung mit Gewalt niederzuwerfen.

Bismarck hielt nur eine solche Staatsordnung für vernünftig und dauerhaft, in der die besitzenden Schichten, um die Monarchie geschart, die Macht besaßen. Dagegen müsse die Herrschaft der armen und besitzlosen Massen zum Chaos und zur Auflösung führen. Eine solche »reine Demokratie« habe als notwendige Folge die militärische Gewaltherrschaft eines einzelnen. Aufgabe einer vernünftigen Staatskunst sei es, der Gesellschaft Europas diesen Kreislauf zu ersparen16. Die staatspolitische Anschauung Bismarcks zeigt eine überraschende Ähnlichkeit mit den Theorien des Fürsten Metternich. Nur war Metternich viel mehr wissenschaftlicher Systematiker als Bismarck und deshalb in seinen Methoden viel starrer. Bismarck fürchtete, daß die Ereignisse der Pariser Kommune von 1871 sich in Deutschland wiederholen könnten. Er hatte 1871 mit der bürgerlichen republikanischen Regierung Frankreichs eine Einheitsfront gegen die Kommune gebildet und die Machthaber Frankreichs zur gewaltsamen Niederwerfung der Pariser Arbeiter mit allen Mitteln angetrieben und gefördert. Bismarck hielt genauso wie Metternich eine internationale Solidarität der europäischen Regierungen gegen die »rote Gefahr« für angebracht, wenn er sich auch durch diese Stimmung niemals zu Abenteuern verleiten ließ.

 

Die beiden Attentate auf Wilhelm I. waren für Bismarck der Beweis, daß auch in Deutschland eine Kommune-Situation heranreifen könne. Er schlug deshalb gegen die Partei los, die sich mit der Pariser Kommune solidarisch erklärt hatte, gegen die Sozialdemokratie. Das Sozialistengesetz Bismarcks hat über Hunderte von Arbeitern und ihre Familien schwerstes Unglück gebracht. Die Vereine und die Presse der deutschen Sozialdemokraten wurden zerstört. Trotzdem erfüllte das Gesetz seinen Zweck nicht: Es annullierte nicht die Mandate der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, und es verhinderte nicht die Wahlagitation der Sozialdemokratie. So blieb die sozialdemokratische Partei, auch ohne formelle sozialistische Vereine und Zeitungen, durch den persönlichen Zusammenhalt der Arbeiter in den Betrieben bestehen, und alle drei Jahre bei den Reichstagswahlen trat die Partei wieder an die Öffentlichkeit. So hart das Sozialistengesetz auch viele einzelne traf, war es im ganzen gesehen viel mehr Schikane als Unterdrückung.

Auch in der Verfolgungszeit von 1878 bis 1890 hat die Sozialdemokratie sich von Gewalttätigkeiten streng ferngehalten. Da außerdem ihr Wachstum in mäßigen Grenzen blieb, hielt Bismarck so lange eine Verschärfung des Kampfes gegen die Sozialdemokraten nicht für erforderlich. Erst die Reichstagswahlen von 1890 schufen eine neue Situation: Die sozialistische Stimmenzahl stieg mit einem Ruck von dreiviertel Millionen auf anderthalb Millionen. Damit war das System Bismarcks in seiner Grundlage erschüttert. Zu der Millionenbewegung des Zentrums, die Bismarck nach wie vor als seinem System feindlich betrachtete, kam nun noch das Millionenheer der Sozialdemokraten. Wenn man dazu die Oppositionsgruppen der Polen, Weifen, Elsässer und Dänen rechnete, so hatten sich mitten im Frieden, bei der ausgezeichneten außenpolitischen und wirtschaftlichen Lage des Reichs, vierzig Prozent der Bevölkerung gegen das Reich Bismarcks erklärt. Was sollte dann erst bei einer ernsten Krise werden? Damit war die Reichsschöpfung von 1871 in Frage gestellt, und es begann ein Kampf auf Leben und Tod17.

Von Bismarcks Standpunkt aus war eine solche Beurteilung der Lage von 1890 durchaus logisch und konsequent: Das Kaiserreich von 1871 mußte entweder die politische Arbeiterbewegung zertreten, oder es mußte untergehen. Ein Drittes war nicht möglich. Denn bei jedem Versuch eines Kompromisses kam zunächst das Bürgertum ans Ruder, und damit war die Verfassung von 1871 aus den Angeln gehoben. Mit den christlich-sozialen Methoden Stöckers war selbstverständlich die Arbeiterfrage in Deutschland auch nicht zu lösen. Darin hatte Bismarck ganz recht: Das klassenbewußte sozialistische Proletariat ließ sich mit Bibelsprüchen und ein paar Sozialgesetzen nicht zu treuen Anhängern des preußischen Staatssystems umwandeln. Und die Zentrumsarbeiter standen im Grunde dem herrschenden System Preußen-Deutschlands genauso fremd gegenüber wie die Sozialdemokraten. Wer die Situation von 1890 in allen ihren Konsequenzen durchdenkt, hat damit die historische Notwendigkeit der Revolution von 1918 schon begriffen.

Was Bismarck im einzelnen gegen die Sozialdemokraten getan hätte, wenn er nach 1890 im Amt geblieben wäre, läßt sich heute nicht mehr ausmalen. Er hätte vielleicht das Sozialistengesetz verschärft, um die sozialdemokratischen Wahlstimmen und Mandate zu annullieren18. Zu einer gewaltsamen Erhebung der Arbeiterschaft wäre es auch nach einem solchen Gewaltstreich der Regierung schwerlich gekommen. Für ein paar Jahre hätte Bismarck sich durchsetzen können. Er hätte die Sozialdemokratie von der öffentlichen politischen Tätigkeit verdrängt und dem Zentrum durch den Wegfall der sozialdemokratischen Fraktion die ausschlaggebende Stellung im Reichstag genommen. Auf die Dauer wäre aber damit in Deutschland die Atmosphäre des russischen Zarismus geschaffen und die Revolution nur beschleunigt worden.

Bei der Unfertigkeit der innerpolitischen Zustände Deutschlands und bei den schweren Gefahren, die das Reich von innen bedrohten, war für Bismarck eine unbedingte Friedenspolitik nach 1871 geradezu ein Dogma. Irgendwelche Eroberungswünsche auf dem europäischen Festland hatte Bismarck nach 1871 nicht. Die Annexion weiterer fremdsprachiger Gebiete hielt er für ein Übel. Die Vereinigung Deutschösterreichs mit Deutschland hätte die katholische Minderheit im Reiche derartig gestärkt, daß dadurch das Gleichgewicht, das Bismarck wollte, erschüttert worden wäre. Kolonialen überseeischen Erwerbungen war Bismarck nicht abgeneigt. Koloniale Erwerbungen im weiten Umfang sind ihm ohne Krieg mit einer europäischen Großmacht gelungen. Deutschland fand auf diesem Wege den Widerstand Englands. Bismarck war aber der Ansicht, daß man England zurückdrängen und zu Konzessionen auf überseeischem Gebiet nötigen könne, wenn es sich einer Einheitsfront des europäischen Festlandes gegenübersieht.

Für solche Auseinandersetzungen mit England brauchte Bismarck die Hilfe Frankreichs, ja sogar eines starken Frankreichs19. Bismarck hielt eine weitere Schwächung Frankreichs über das Maß von 1871 hinaus für eine Schädigung deutscher Interessen. Freilich mußte die Ausspielung Frankreichs gegen England mit Vorsicht erfolgen. Bismarck glaubte nicht, daß Frankreich sich in absehbarer Zeit mit dem Verlust Elsaß-Lothringens abfinden würde. Falls Deutschland mit einer anderen Großmacht in Krieg gerate, sei ohne weiteres damit zu rechnen, daß Frankreich den Krieg gegen Deutschland mitmache. Bismarck ließ deshalb die koloniale Auseinandersetzung mit England nie so weit gehen, daß daraus die Gefahr eines Bruchs entstand. Auch wenn Frankreich die diplomatische Aktion Deutschlands gegen England erst mitmachte, war beim Eintreten der Krise damit zu rechnen, daß Frankreich plötzlich auf die andere Seite schwenkte.

So vorsichtig war Bismarck, selbst wenn er in kolonialen und überseeischen Fragen gemeinsam mit Frankreich und Rußland gegen England operierte! Eine koloniale Aktion Deutschlands gegen den Willen Englands und Frankreichs durchzufechten, hätte Bismarck für wahnsinnig gehalten. Ohne sich, über die Stimmung des französischen Bürgertums Illusionen hinzugeben, tat Bismarck alles, um die deutschfranzösischen Beziehungen zu verbessern. Er unterstützte in keiner Weise die Pläne eines monarchischen Staatsstreichs in Frankreich. Denn er hielt die bürgerliche Republik in Paris immer noch für friedfertiger als eine klerikale Monarchie oder eine bonapartistische Diktatur. Bismarck förderte alle außenpolitischen Wünsche der französischen Regierung, soweit es nur irgend möglich war, und ganz besonders auf kolonialem Gebiet. Je mehr sich Frankreich in Marokko20 und in China engagierte, um so mehr wurde es von Elsaß-Lothringen und von der Revanche abgelenkt.

Neben Frankreich waren mögliche Gegner Deutschlands zu Lande Rußland und Österreich-Ungarn. Die Hauptaufgabe deutscher Politik bestand nach Bismarck darin, zu verhindern, daß Deutschland isoliert in einen Krieg mit mehreren Großmächten geriet. Das Deutsche Reich war militärisch einem einzelnen Gegner durchaus gewachsen. Aber ein Krieg mit zwei oder gar noch mehr Großmächten mußte eine verzweifelte Lage heraufbeschwören. Die natürliche außenpolitische Anlehnung war ursprünglich für Bismarck die Verständigung mit Rußland. Das war die Fortsetzung der Tradition Preußens vor 1871. Nur dank der russischen Freundschaft hatte Preußen die Kriege mit Österreich und Frankreich überhaupt führen können. Zwischen dem Deutschen Reich und Rußland gab es keine ernsten politischen Differenzen. Dazu kam die Gemeinsamkeit der monarchisch-konservativen Interessen und des Gegensatzes gegen die katholisch-polnische Tendenz. Im Bunde mit Rußland konnte Deutschland einer Revanchekombination Frankreich-Österreich ruhig entgegensehen. Wenn aber Österreich es vorzog, unter die Ereignisse von 1866 den Schlußstrich zu setzen und sich dem konservativen Block Deutschland-Rußland anzuschließen, dann war ein solches Drei-Kaiser-Bündnis die beste Friedensgarantie, die Bismarck sich wünschen konnte.

Indessen zwangen die Erfahrungen von 1875/79 Bismarck dazu, sein Vertrauen zur russischen Stütze stark zu mindern. Die russische Politik, geleitet vom Fürsten Gortschakow, erkannte die Zwangslage, in der das Deutsche Reich sich befand. Fürst Gortschakow verlangte von Bismarck die unbedingte Unterstützung der russischen Eroberungspolitik im Orient bis zum Risiko eines Krieges mit Österreich und England. Weigerte sich aber Deutschland, ein solches Abenteuer mitzumachen, so drohte Rußland ziemlich offen, im Bunde mit Frankreich, ja sogar vielleicht mit Österreich und England, über Deutschland herzufallen. Denn Rußland konnte damals seine traditionellen Orientpläne auf doppelte Art verwirklichen: Entweder durch direkten Krieg gegen seine orientalischen Rivalen, wobei Deutschland ihm den Rücken deckte, oder aber als Führer einer siegreichen europäischen Koalition gegen Deutschland. Im letzteren Fall konnte Rußland als Schiedsrichter Europas für sich die Grenzen auf dem Balkan nach Belieben ziehen. Die ersten Anfänge der Ententekombination liegen in diesen siebziger Jahren, als auf der einen Seite Gortschakow Verbindung mit Frankreich suchte und auf der anderen Seite Gladstone bereit war, die Orientfrage gemeinsam mit Rußland zu lösen.

Um die gefährliche Abhängigkeit von Rußland zu überwinden, machte Bismarck seit 1879 das Bündnis mit Österreich zur Grundlage seiner Politik. Aber Bismarck hütete sich, deshalb den Draht mit Rußland zu zerreißen. Nach kurzer Zeit der Verstimmung zwischen Berlin und Petersburg ergänzte er das Bündnis mit Österreich durch den Rückversicherungsvertrag mit Rußland. Es ist Bismarck gelungen, solange er im Amt war, den Vertrag mit Rußland aufrechtzuerhalten. Das System der zwei Verträge hatte einen einfachen Sinn: Deutschland duldete keinen Angriff Rußlands gegen Österreich, aber es blieb bei einem Angriff Österreichs auf Rußland neutral. Als Gegenleistung verpflichtete sich Rußland, seinerseits Deutschland nicht anzugreifen21.

Bismarck bewahrte sich trotz mancher Zwischenfälle und Störungen die Freundschaft Rußlands dadurch, daß er niemals ein ernsthaftes sachliches Interesse Rußlands schädigte. Die Ansprüche Rußlands auf Vorherrschaft über Bulgarien und über die Dardanellen fanden stets bei Bismarck Unterstützung. Daß die russischen Staatsmänner in der Zeit des Fürsten Alexander Battenberg ihre Autorität über Bulgarien selbst zerstörten und daß sie in der Dardanellenfrage keine Fortschritte machten, war ihre eigene Schuld. Sie konnten deswegen gegen Bismarck keine Vorwürfe richten. Niemals hat Bismarck das deutsch-österreichische Bündnis so ausgelegt, daß Österreich damit auf dem Balkan freie Hand bekam. Serbische und bulgarische Abenteuer konnte Österreich nur auf eigenes Risiko unternehmen, ohne jede Hoffnung, dabei deutsche militärische Hilfe zu erhalten22. Niemals hat Bismarck eine aktive deutsche Politik in der Türkei auch nur in Erwägung gezogen.

Dem Wunsche Italiens, sich an Deutschland und Österreich anzulehnen, kam Bismarck entgegen. Italien suchte Rückendeckung für seine Mittelmeerpolitik gegen Frankreich. Hier wachte Bismarck darüber, daß Deutschland durch den Dreibund in keinen überflüssigen Gegensatz zu den Mittelmeerinteressen Frankreichs kam. Die Leichtigkeit und Geschicklichkeit, mit der Bismarck sein außenpolitisches System beherrschte, kann aber über die Kompliziertheit des Ganzen nicht hinwegtäuschen. Das Lavieren zwischen Österreich und Rußland und dann wieder zwischen Frankreich und England erforderte eine Erfahrung und Gewandtheit, wie sie Bismarcks Nachfolgern nicht mehr eigen waren. Trotz aller Einzelkonflikte hat Bismarck nach 1871 ein außerordentliches Vertrauen zu der Uneigennützigkeit und Friedfertigkeit der deutschen Außenpolitik zu erwecken gewußt. Er genoß dieses Vertrauen nicht nur in Wien und Rom, sondern in hohem Maße am Zarenhof, in London und sogar in Paris. Nur die friedliche und sichere Außenpolitik hat es Bismarck ermöglicht, die innerpolitischen Konflikte in Deutschland von 1871 bis 1890 in seinem Sinne zu lösen und den deutschen Verhältnissen einen Schein von Stabilität zu verleihen.