Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

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Friedrich Engels empfahl ebenfalls den deutschen Sozialdemokraten, darauf zu dringen, daß Deutschland nach den ersten militärischen Siegen den Franzosen den Frieden anbiete. Bei dieser Gelegenheit solle Deutschland, um sich endgültig mit Frankreich zu verständigen, den Franzosen eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage vorschlagen, entweder durch Volksabstimmung in Elsaß-Lothringen, oder durch Rückgabe von Metz und seiner französisch sprechenden Umgebung an Frankreich12. Es ist wichtig, daß Engels diese Konzession nach einem deutschen Sieg vorschlägt, als ein ohne Zwang gemachtes Zugeständnis im Interesse der internationalen Stellung Deutschlands. Was das deutsche Kriegsziel gegenüber Frankreich betrifft, sind in der Grundidee Bismarck und Engels, also die beiden stärksten politischen Köpfe Deutschlands seit 1870, einig. Das gibt ihrer Auffassung eine nicht unwesentliche Autorität.

Um so stärker weichen voneinander, wenigstens scheinbar, Bismarck und Engels in den Kriegszielen nach Osten ab. Bismarck hat immer wieder die Ansicht vertreten, daß Deutschland das große russische Reich, auch bei einem vollständigen militärischen Sieg, nicht vernichten könne. Es sei absurd, wenn Deutschland einen Landgewinn auf Kosten Rußlands suche. Deutschland müsse vermeiden, daß aus Rußland ebenso ein revanchelüsterner Gegner würde, wie es Frankreich seit 1871 sei. Aus solchen Erwägungen heraus hätte Bismarck sich unbedingt bemüht, aus dem deutsch-russischen Krieg so schnell wie möglich auf der Grundlage des Status quo herauszukommen. Engels dagegen empfahl den deutschen Sozialdemokraten, den Krieg mit Rußland »revolutionär«, mit dem Endziel der russischen Revolution zu führen. Deutschland solle sofort nach Kriegsausbruch an die Wiederherstellung Polens gehen. Das neue Polen müsse aber, neben Russisch-Polen, auch Galizien und ein Stück von Preußisch-Polen erhalten, etwa einen Teil der Provinz Posen. Deutschland solle für die nationale Befreiung aller vom Zarismus unterdrückten Völker Westrußlands eintreten13.

Wie man sieht, ist der Unterschied in der Ostpolitik von Bismarck und von Engels ungeheuer. Er beruht darauf, daß die beiden Staatsmänner sich ein ganz verschiedenes Deutschland denken. Für das kaiserliche Deutschland war die Wiederherstellung Polens ein ungeheuerer Fehler; denn dadurch wurde jede Verständigung mit dem zaristischen Rußland unmöglich. Wenn dagegen ein von der sozialistischen Arbeiterschaft geleitetes Deutschland die Revolution nach dem Osten trug, und im Verlaufe der Revolution lösten sich die Westprovinzen von Rußland los, so konnte deswegen ein neues »rotes« Rußland den deutschen Arbeitern keinen Vorwurf machen. Der Weltkrieg brachte nun aber die phantastische Situation, daß Bethmann-Hollweg und Wilhelm II. anscheinend das rote Barrikaden-Programm von Engels gegenüber dem Zarismus durchführten.

Das reale Interesse Deutschlands hätte von 1914 bis 1916 erfordert, daß man so schnell wie möglich einen Status-quo-Frieden mit Rußland und Frankreich herbeiführte. Die Auseinandersetzung mit England war um so schwieriger. Denn das englische Bürgertum hatte den Krieg zum Anlaß genommen, um den deutschen Konkurrenten in den überseeischen Ländern restlos auszuschalten. Diesem Zweck sollte nicht nur die Besetzung der deutschen Kolonien dienen, sondern auch die Beschlagnahme des deutschen Eigentums im Ausland, die Liquidation der deutschen auswärtigen Firmen und die Zerschneidung aller deutschen kaufmännischen Verbindungen. Die Vernichtung des deutschen Wirtschaftskonkurrenten war das Ziel, in dem sich England mit den großen Dominions des Britischen Reiches traf. Es sei nur an die Rolle erinnert, die der australische Ministerpräsident Hughes bei der Inszenierung des Wirtschaftskrieges gegen Deutschland spielte. Um dieses wirtschaftliche Ziel zu erreichen, mußte England die politische und militärische Macht Deutschlands brechen. So wird Englands Hauptziel im Kriege die Vernichtung des deutschen »Militarismus«, das heißt die Auflösung des deutschen Heeres und der deutschen Flotte. Demgegenüber waren einzelne territoriale Veränderungen in Europa für die englischen Staatsmänner ziemlich gleichgültig.

Zu einem Verzicht auf sein großes hauptsächliches Kriegsziel wäre England nur zu bringen gewesen, wenn es sich einem starken, geschlossenen europäischen Kontinent gegenübergesehen hätte. Eine solche europäische kontinentale Verständigung war aber nur zu erzielen, wenn Deutschland jetzt unter dem Donner der Kanonen die Fehler wieder gutmachte, die von der kaiserlichen Politik seit 1890 begangen worden waren. Man mußte, wenn auch unter Opfern, die Verständigung mit Frankreich und Rußland erzielen, um dann England zu zwingen, daß es für die kontinental-europäischen Völker den freien Wettbewerb in den überseeischen Gebieten zuließ. Die Möglichkeit für Deutschland, sich weltwirtschaftlich wie die anderen Völker zu betätigen, lag ebenso im Interesse des deutschen Bürgertums wie der deutschen Arbeiter. Die breiten Schichten des deutschen Volkes empfanden, daß England der Hauptgegner im Kriege sei.

Die Regierung hätte nicht die Kindereien und Geschmacklosigkeiten des »Gott strafe England« mitmachen sollen, aber sie hätte der allgemeinen Volksstimmung den politischen Ausdruck verschaffen müssen und den Massen klarmachen können, daß ein Erfolg gegen England nur dann möglich war, wenn Deutschland gegen Frankreich und Rußland Mäßigung zeigte. Ebenso hätte es von Anfang an klar sein müssen, daß Deutschland auch nach einem Sonderfrieden mit Rußland und Frankreich das Britische Reich und seine ungeheuere Seemacht nicht »niederzwingen« konnte, sondern daß nur ein Kompromiß zu erzielen war. Oder wenn die Regierung die entgegengesetzte Auffassung hatte, daß Deutschland zu schwach sei, um England auch nur zu einem Kompromiß zu zwingen, und daß man um jeden Preis zunächst eine Verständigung mit England brauchte, so hätte demgemäß die deutsche Außenpolitik geleitet werden müssen. Dann hätte die Regierung das Volk über diese Notwendigkeit aufklären und ihre ganze Politik auf diese Linie bringen müssen.

Aber Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg haben weder den einen noch den andern Weg eingeschlagen, denn sie hatten überhaupt keine Politik. Die grauenhafte Ziel- und Sinnlosigkeit der deutschen Außenpolitik von 1890 bis 1914 setzte sich im Kriege fort. Denn wenn die deutsche Regierung von Zeit zu Zeit erklärte, sie wolle »keine Eroberungen«, oder sie wolle durch den Frieden »Deutschlands Zukunft sichern«, so nutzten solche allgemeinen Reden für die deutsche Außenpolitik gar nichts. Im vertrauten Kreise hat Bethmann-Hollweg manchmal die Notwendigkeit eines Sonderfriedens mit Frankreich und Rußland betont14. Aber seine Handlungen und öffentlichen Erklärungen haben zumindest den Frieden mit Rußland unmöglich gemacht.

Die politische Hilflosigkeit der Reichsregierung hätte vielleicht durch Vorschläge oder eine Initiative aus dem Volke heraus überwunden werden können. Aber dazu fehlte die wichtigste Voraussetzung: Dem Volke war die wirkliche Kriegslage unbekannt. Das lag nicht an den deutschen Heeresberichten. Über die seltsamen Heeresberichte der Periode Moltke-Stein ist schon das Nötige gesagt worden. Aber unter den folgenden Heeresleitungen, Falkenhayn und Ludendorff, von Ende September 1914 bis zum Ende des Krieges sind die Tagesberichte durchaus sorgfältig und zuverlässig gewesen. Sie enthielten das, was Berichte dieser Art bieten können, nämlich Angaben, wo die Front lief und was an wichtigsten Ereignissen geschehen war. Aber das eigentlich Entscheidende über die Kriegslage kann man in die Tagesberichte nicht hineinschreiben: Die eigene Truppenstärke im Verhältnis zum Feinde, die beiderseitigen Reserven und die strategische Gesamtlage. Über diese wirkliche Kriegssituation hat das deutsche Volk, einschließlich der Parlamentarier15, nichts erfahren. Die Kriegslage war bekannt: am Hof, bei der Obersten Heeresleitung und allenfalls beim Reichskanzler. Damit hörte der Kreis der Wissenden auf.

Die Irreführung der deutschen Öffentlichkeit wurde durch den Umstand verstärkt, daß die deutschen Truppen überall in Feindesland standen und wichtige Gebiete besetzt hielten. Das Objekt der Kriegführung ist das feindliche Heer und nicht der feindliche Boden. Sieger ist, wer das feindliche Heer vernichtend schlägt. Wo die Schlacht stattfindet, ist militärisch gleichgültig. Es gab zum Beispiel einen Plan des alten Moltke für einen deutsch-französischen Krieg, wonach er die Franzosen nach Deutschland hereinlassen und bei Frankfurt am Main entscheidend schlagen wollte16. Der Zufall der militärischen Operationen hatte 1914 und 1915 das deutsche Heer nach Belgien und Polen geführt. Bei einem Umschwung der sehr zweifelhaften Kriegslage konnten die deutschen Truppen genötigt werden, diese Länder wieder zu räumen. Die Reichsregierung tat aber nichts, um das deutsche Volk auf den ganz unsicheren Charakter der sogenannten Eroberungen hinzuweisen. Weite Schichten des Volkes redeten sich ein, daß Deutschland nunmehr über die besetzten Gebiete verfügen könne.

Diese Täuschung der Öffentlichkeit über die Kriegslage entsprang einer patriarchalischen Auffassung des Verhältnisses von Regierung und Volk. In England herrschte während des Krieges rücksichtslose Offenheit über die Lage. Parlament, Presse und Volk erörterten die günstigen und die ungünstigen Momente völlig offen auf Grund klarer Informationen. Es wäre ebenso lächerlich gewesen, wenn das regierende englische Bürgertum vor sich selbst Geheimnisse gehabt hätte, wie wenn ein Kaufmann sich scheuen würde, Bilanz über seine Geschäftslage zu machen. Die deutsche Regierung dagegen hielt es für nötig, durch Schönfärbung die Stimmung ihrer Untertanen aufrechtzuerhalten. Sie fürchtete, daß beim Durchsickern der ungünstigen Tatsachen die staatliche Autorität leiden würde. Die deutsche Regierung benahm sich wie ein sorgenvoller Familienvater, der seiner Frau und den Kindern nicht erzählen will, wie unsicher seine geschäftliche Zukunft ist. Noch seltsamer als das Schönfärben der militärischen Lage ist es, daß das deutsche Volk auch über seine Gesundheitslage im Kriege nichts erfahren durfte17. Daß die Hungerblockade viele tausende Todesopfer in der Zivilbevölkerung kostete, wurde verschwiegen. Statt dessen wurde offiziös versichert, daß die knappe Kriegsnahrung gesundheitlich auch ihre Vorteile hätte. Eine volkstümliche, die Massenpsychologie verstehende Regierung hätte statt dessen die Totenzahlen der Hungerblockade an jeder Straßenecke anschlagen lassen, wenn sie die Erbitterung gegen den Feind und die verzweifelte Kampfesstimmung steigern wollte. Wie hat man in England die Zeppelinangriffe auf englische Städte ausgenutzt, um die Kriegsstimmung aufzupeitschen!

 

Die Unkenntnis des deutschen Volkes von der wirklichen Kriegslage spiegelte sich in der Art und Weise wider, wie die einzelnen Schichten den Krieg beurteilten und wie sie ihn beendet wissen wollten. Die deutsche Industrie hoffte, daß ein guter Kriegsausgang ihre Rohstoffbasis verbreitern würde. Die Schwerindustrie insbesondere verfolgte den deutschen Vormarsch durch Belgien und Nordfrankreich mit ihren Hoffnungen. Die Kohle- und Eisengebiete von Luxemburg, von Belgien und von Longwy-Briey sollten unter deutsche Kontrolle kommen. So verlangte die Industrie in Eingaben und Anregungen an die Regierung die Annexion von Longwy-Briey und die Annexion, oder doch mindestens die wirtschaftliche Herrschaft Deutschlands über Belgien. Die deutschen Industriellen verfolgten also im Kriege dieselbe Taktik wie im Frieden. Vor 1914 hatten die einzelnen großen Firmen die deutsche Regierung gedrängt, ihre auswärtigen Unternehmungen mit der Macht des Reiches zu unterstützen. Jetzt drängte man die Regierung, möglichst viel von den industriellen Kriegswünschen zu verwirklichen. Hätte eine bürgerliche Industriepartei selbst die Regierung Deutschlands gebildet, so hätte sie auch die Verantwortung für die Verwirklichung ihrer Wünsche gehabt und hätte sich sehr sorgfältig gefragt, was von ihren Plänen durchführbar sei. Unter der kaiserlichen Verfassung jedoch konnten die industriellen Verbände, von keiner Verantwortung gehemmt, Eingaben schreiben. Die Erlangung dieser Objekte war Sache der Regierung.

Während die Industrie im Westen ihre Basis erweitern wollte, hatte der preußische Grundbesitz ähnliche Pläne für sich im Osten. Man wollte in den dünnbevölkerten Agrarländern Kurland und Litauen Siedlungsland für die jüngeren Söhne der deutschen Landwirte gewinnen. Man suchte Verbindung mit dem deutschbaltischen Adel der russischen Ostseeprovinzen. So sollte durch eine Gebietserweiterung nach Nordosten hin die agrarisch-aristokratische Regierungsschicht Preußens Verstärkung bekommen. Ein Teil der preußischen Konservativen zog freilich den Sonderfrieden mit dem russischen Kaisertum solchen Projekten vor.

Bei den politischen Machtverhältnissen in Deutschland war es besonders wichtig, welche Wünsche zur strategischen Sicherung der Generalstab und die Marineleitung hatten. Leitende Generale waren der Ansicht, daß vor allem die Industriegebiete Deutschlands im Westen bisher zu nah an der Grenze lagen. Zur besseren Sicherung des deutschlothringischen Industriebezirkes müsse ein Streifen französischen Landes erworben werden, und zur Deckung des Rheinlandes müsse mindestens Lüttich deutsch werden. Noch besser sei es, wenn ganz Belgien unter deutschem Einfluß bleibe. Im Osten wünschten die militärischen Stellen eine bessere Grenzsicherung für Oberschlesien, Ost- und Westpreußen, also die Abtretung von russisch-polnischem Gebiet an Deutschland. Man sieht, daß die militärischen Kriegsziele in weitem Umfang mit den industriellen übereinstimmten. In dem Gebietsstreifen, den die Generale zur Sicherung Lothringens forderten, lag gerade Longwy-Briey, und ebenso deckten sich die militärischen und die industriellen Forderungen in bezug auf Belgien. Auch die Marine drängte darauf, daß Deutschland die Kontrolle über Belgien behalte: Denn nur wenn Deutschland die Herrschaft über die flandrische Küste behaupte, könne es mit Hilfe von U-Booten usw. England in Schach halten.

Durch Zusammenlegung all dieser Kriegsziele der Industrie, des Großgrundbesitzes, der militärischen und Marinesachverständigen entstand ein einheitliches Programm des sogenannten deutschen »Siegfriedens«, dessen literarische und agitatorische Vorkämpfer vor allem im Alldeutschen Verband saßen18. Die Leidenschaft, mit der die führenden Schichten Deutschlands für den sogenannten Siegfrieden eintraten, ist aber nicht dadurch zu erklären, daß dieser oder jener für sich persönliche Vorteile erhoffte, sondern die politisch denkenden Männer des preußischen Adels und der Industrie empfanden, daß auf jeden Fall der Ausgang des Krieges ihre Machtstellung, und damit das alte Regierungssystem Deutschlands, aufs schwerste bedrohen würde. Ging der Krieg unglücklich aus, so war ein furchtbarer Zusammenbruch zu erwarten. Wenn der Krieg mit einem Status-quo-Frieden ende, dann müsse das deutsche Volk, ohne einen Vorteil errungen zu haben, Kriegsschulden von vielen Milliarden abtragen. Dies würde ohne ganz schwere Steuern nicht möglich sein. Wenn die Kriegsteilnehmer nach Hause kämen, würden sie nach so vielen Opfern ein verarmtes Vaterland vorfinden, und die Regierung würde von ihnen riesige Steuern verlangen. Das würde sich die Volksmasse nicht gefallen lassen, und so käme auch die Revolution. Das alte System Deutschlands war also nach Ansicht der sogenannten »Annexionisten« nur dann zu halten, wenn der Staat dem Volke nach dem Krieg etwas bieten konnte, sei es eine angemessene Kriegsentschädigung, oder Siedlungsland, oder eine in ihrer Leistungsfähigkeit erheblich gesteigerte Industrie, oder möglichst all dies zugleich.

So wird für die Konservativen und den größten Teil der Nationalliberalen der Siegfriede der letzte politische Rettungsanker19. Obwohl diese Kreise den wirklichen Ernst der Kriegslage nicht kannten, mußte man sich doch in den Jahren 1915 und 1916 allmählich sagen, daß ein voller militärischer Sieg Deutschlands über alle seine Feinde nicht wahrscheinlich sei. Aber da ließ die Marine unter der Hand überall verbreiten, daß sie eine Waffe habe, um den Hauptfeind England ungefähr in einem halben Jahr verhandlungsbereit zu machen, nämlich den unbeschränkten U-Boot-Krieg. Aus übertriebener Rücksicht auf England und Amerika scheue sich Bethmann-Hollweg, diese entscheidende Waffe anzuwenden. Die »Flaumacher« am kaiserlichen Hof, Männer wie die Kabinettschefs von Valentini und von Müller, seien dabei die Helfershelfer Bethmann-Hollwegs. So ziehe sich der Krieg hin, untergrabe die Wurzeln der deutschen Kraft und stärke den Sozialismus und die Demokratie. Bethmann-Hollweg müsse von seinem Posten entfernt werden, der verschärfte U-Boot-Krieg müsse ohne Rücksicht geführt werden20. So könne Deutschland zum Sieg und zum Siegfrieden kommen. Nur so sei die Revolution abzuwehren und die traditionelle Staatsordnung zu verteidigen. So argumentierten das Offizierskorps, der preußische Großgrundbesitz und die Industrie.

Völlig entgegengesetzt waren die Kriegsziele der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Aus den oben erwähnten Gründen waren die Arbeiter von tiefem Mißtrauen gegen die herrschenden Schichten erfüllt und von dem Willen, so schnell wie möglich den Krieg zu beenden. Die Massen hatten den Eindruck, daß der Krieg den höheren Offizieren in den Stäben und den Großindustriellen gar nicht unangenehm sei. Nun hörten sie noch, daß diese selben regierenden Kreise große Eroberungspläne hegten. Sie hörten ferner die optimistische amtliche Auffassung der Kriegslage. Die Angriffe der Feinde auf Deutschlands Existenz waren überall zurückgeschlagen. Die deutschen Truppen standen überall in Feindesland. War es da nicht möglich, einen Frieden der Verständigung, ohne Eroberungen, jederzeit zu erhalten? Waren nicht die Eroberungspläne der regierenden Klassen das Haupthindernis des Friedens? Wenn führende Konservative und Alldeutsche erklärten, daß Deutschland einen sogenannten Verständigungsfrieden gar nicht annehmen dürfe und auf dem Siegfrieden bestehen müsse, so sahen die sozialdemokratischen Arbeiter darin die Bestätigung ihres Verdachts21. Dieselben Männer, von denen das Proletariat politisch, wirtschaftlich und im Heere gedrückt würde, seien auch die Kriegsverlängerer. Sie müsse man unschädlich machen, um so das Elend zu beenden. So belebte die Losung: »Gegen die Alldeutschen und Annexionisten« den Klassenkampfgeist der Arbeiter. Das war die Formel, mit der das Proletariat die Fesseln des Burgfriedens durchbrach und den politischen Machtkampf wieder aufnahm. Denn die »Annexionisten«, das waren in den Augen der sozialdemokratischen Arbeiter die herrschenden Schichten des kaiserlichen Deutschlands. Wenn man die »Annexionisten« niederschlug, dann gewannen die sozialdemokratischen Arbeiter das Übergewicht in Deutschland.

Das leidenschaftliche Verlangen der Arbeitermassen nach Kampf gegen jeglichen Annexionismus hätte eigentlich die sozialdemokratische Parteileitung in eine schwierige Lage bringen müssen. Die Sozialdemokratie hatte zwar nach Kriegsbeginn eine selbständige politische Initiative im Sinne von Engels nicht ergriffen. Aber sie hielt trotzdem im Sinne der Tradition von Marx und Engels an der Niederwerfung des Zarismus als einem wünschenswerten Kriegsziel fest. Ebenso war die sozialdemokratische Parteileitung damit einverstanden, daß durch die deutschen Siege im Osten die von Rußland unterdrückten Völker, vor allem die Polen, »befreit« wurden. Politisch hätte es klar sein müssen, daß das kaiserliche aristokratische Deutschland die Ostvölker gar nicht »befreien« konnte. Ein durch die Siege der kaiserlichen Armee »befreites« Polen, Litauen und Kurland konnte weiter nichts werden als ein Vasallenstaat der deutschen Aristokratie und der deutschen Industrie. Wenn also die Sozialdemokraten die Formel »keine Annexionen und Verständigungsfriede auf Grundlage des Status quo« aufnahmen, so hätte diese Losung für den Osten genauso gelten müssen wie für den Westen. Aber um ihr Kriegsziel vom 4. August, den Kampf gegen den Zarismus nicht ganz preiszugeben, blieb die Sozialdemokratie hier inkonsequent. Sie bekämpfte zwar alle Pläne eines offenen und versteckten deutschen Annexionismus in Belgien und Nordfrankreich. Sie hatte aber keine ernsten Einwendungen dagegen, daß Deutschland in Kurland, Polen und Litauen auf Kosten Rußlands neue Staaten gründete. Die Sozialdemokratie verlangte zwar, daß in diesen »befreiten« Ländern auch wirklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur Geltung käme22. Aber für die reale Politik war das bedeutungslos.

Es ist bemerkenswert, daß die Arbeitermassen Deutschlands zwar jeden mit ungeheuerer Verbitterung verfolgten, der für die Annexion Belgiens und besonders der flandrischen Küste eintrat, daß sie aber gegen die östlichen Eroberungspläne kaum etwas einwandten. Die Massen waren nämlich gar nicht an sich gegen eine Machterweiterung Deutschlands, sondern sie waren nur gegen die Annexionen, sofern sie den Krieg verlängerten. Das ist auch ganz natürlich: Warum sollten die Arbeitermassen die politischen Grenzen Europas, so wie sie im Juli 1914 bestanden, als Werk von tausend diplomatischen Zufällen, heilig halten? Aber die Massen wehrten sich dagegen, das Kriegselend weiter zu tragen, damit nach ihrer Meinung ein paar Industrielle in Belgien Extrageschäfte machen konnten. Die deutschen Volksmassen hielten Rußland für ziemlich besiegt. Die stärksten und gefährlichsten Feinde Deutschlands seien England und Frankreich, also müsse man ihnen Zugeständnisse machen, um zum Frieden zu kommen. England habe erklärt, daß es zur Verteidigung Belgiens in den Krieg gehe, und die unbedingte Wiederherstellung Belgiens sei ein Hauptkriegsziel der Engländer. Also müsse Deutschland vor allem Belgien wieder aufgeben, und die annexionistischen Kriegsverlängerer, die das hinderten, müsse man unschädlich machen. Das alles war psychologisch, vom Standpunkt des deutschen Arbeiters im Kriege aus, durchaus begreiflich. Aber objektiv war es falsch; denn der Weg zum schnellen Frieden für Deutschland führte nicht über Angebote an England, sondern über eine Verständigung mit Rußland.

Von den mittleren Parteien war das Zentrum in dem Kriegszielstreit nicht einheitlich. Die konservative Führergruppe suchte auch hier Anschluß an die Rechtsparteien. Die christlichen Gewerkschaften wollten den »Verständigungsfrieden«, so wie die Sozialdemokratie. Die Kaufmannschaft in den Großstädten hatte gegen eine Machterweiterung Deutschlands nichts einzuwenden. Aber man suchte sie auf der Linie des geringsten feindlichen Widerstandes, durch Gründung neuer Staaten im Osten und durch Ausbau des Systems Berlin-Bagdad23. Man hoffte, daß das Kriegsbündnis Deutschlands mit Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei eine dauernde politisch-wirtschaftliche Verbindung dieser Staaten herbeiführen würde. Dabei hätten die Verbündeten sich der deutschen Führung fügen müssen. Dieser Plan, wie ihn vor allem der fortschrittliche Führer Friedrich Naumann vertrat, war utopisch, weil weder das Habsburgerreich noch die Balkanvölker, noch die Türkei sich einer solchen deutschen Vorherrschaft unterworfen hätten.

 

Objektiv war dies der größte Annexionsplan, der in Deutschland während des Krieges entstanden ist; denn dadurch wären auswärtige Gebiete mit fast hundert Millionen Einwohnern politisch und wirtschaftlich von Deutschland unterjocht worden. Die englischen und amerikanischen Staatsmänner haben diesen Plan auch so gewertet. Aber innerpolitisch hat er die Geister in Deutschland kaum erregt, denn als eigentliche »Annexionen« empfanden die Massen nur die schwerindustriellen und militärischen Pläne in bezug auf Belgien und Nordfrankreich. An den speziell industriellen Kriegszielen hatten die kaufmännischen Kreise und die Fortschrittspartei kein Interesse. Die breiten Schichten der Landbevölkerung Deutschlands wollten, wie die Arbeiter, eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges, ohne dabei bestimmte Parolen zu formulieren.

Dem Reichskanzler von Bethmann-Hollweg war der in den Jahren 1915 und 1916 immer stärker anschwellende Kriegszielstreit sehr unangenehm, weil er die Regierung zu einem Heraustreten aus ihrer Zurückhaltung und zur Stellungnahme im Streit der Parteien und Klassen nötigte. Das hielt Bethmann-Hollweg für eine schwere Schädigung des Burgfriedens. Mit Hilfe der Zensur suchte er die Kriegszieldiskussion im Volke abzuwürgen. Das machte das Übel noch schlimmer. Denn alle Schichten des Volkes wollten sich darüber klarwerden, wozu der Krieg geführt wurde und welches Ziel er haben könnte. Durch die Methode Bethmann-Hollwegs wurde die Kriegszieldiskussion hinter die Kulissen und in interne Kreise verlegt, was die Selbstverständigung des deutschen Volkes noch schwerer machte, als sie schon an sich war. Bethmann-Hollweg sah die Kriegslage Deutschlands ernst und pessimistisch an. Der Generalstabschef von Falkenhayn stimmte im Grunde darin mit ihm überein. Bethmann hätte mit einem Schlage die annexionistische Propaganda in Deutschland töten können, wenn er einen amtlichen, wahrheitsgetreuen Artikel über die Kriegslage, möglichst gedeckt durch die Autorität des Generalstabs, an die Presse gegeben hätte. Aber einen solchen Schritt tat Bethmann nicht, um nicht den Willen des Volkes zum »Durchhalten« zu schwächen.

Anstatt daß die Regierung mit einem klaren Kriegs- und Friedensprogramm an die Öffentlichkeit getreten wäre und so die politische Führung an sich gerissen hätte, gefiel sich Bethmann-Hollweg in Zweideutigkeiten. Er wollte die Konservativen und Nationalliberalen nicht verletzen, aber die Sozialdemokraten konnten die Kanzlerworte auch in ihrem Sinne auslegen. Die eigenen Kriegsziele Bethmann-Hollwegs waren ein Gemisch aus den Forderungen sämtlicher Richtungen24. Er gab jedem etwas und glaubte, so die Einigkeit des Volkes wiederherzustellen und die innere Krise zu besänftigen. Am entschiedensten legte Bethmann-Hollweg sich nach Osten hin fest.

Schon am 19. August 1915 kündigte Bethmann-Hollweg in ziemlich deutlichen Worten im Reichstag an, daß Deutschland Polen an Rußland nicht zurückgeben werde. Das war die politische Folgerung, die Bethmann-Hollweg aus den deutschen Siegen über die Russen im Frühjahr und Sommer 1915 zog. Am 5. April 1916 erklärte Bethmann-Hollweg ganz bestimmt im Reichstag, daß die »befreiten« Polen, Litauer, Letten und Balten nicht wieder unter russische Herrschaft zurückkommen dürften. So dachte Bethmann-Hollweg den Kriegszielen der Sozialdemokraten zu entsprechen und gleichzeitig die militärisch-agrarischen Ostpläne zu berücksichtigen. Seit den russischen Niederlagen des Jahres 1915 war Rußland von seinen Verbündeten fast vollständig abgeschnitten. Rußland trug die Hauptlast des Krieges, bei wachsender Revolutionsgefahr für den Zarismus. Die deutschen Siege im Osten hatten eine militärische Entscheidung nicht gebracht. Um so näher hätte es gelegen, nun wenigstens politisch die militärischen Erfolge auszuwerten. Ein Sonderfrieden Deutschlands mit Rußland auf Grundlage des Status quo wäre wahrscheinlich im Herbst 1915 und im Jahre 1916 zu erreichen gewesen. Aber wenn Bethmann-Hollweg der russischen Regierung ankündigte, daß sie unbedingt ihre Westprovinzen verlieren müsse, blieb der Zar lieber bei der Entente.

Was die westlichen Ziele betraf, so plante Bethmann-Hollweg die Erwerbung von Longwy-Briey. Zum Ersatz wollte er den Franzosen Grenzberichtigungen an anderen Stellen Elsaß-Lothringens gewähren. Dabei war es klar, daß Frankreich auf den Verlust des wertvollen Erzgebietes nur nach einer vollständigen militärischen Niederlage eingehen würde. Der Plan, die Franzosen anderweitig dafür zu entschädigen, konnte ernsthaft nichts bedeuten. Doch äußerte sich Bethmann-Hollweg offiziell darüber nicht. Dagegen sprach er über Belgiens Zukunft ebenfalls am 5. April 1916 im Reichstag. Er versicherte, daß der »Status quo« Belgiens erledigt sei. Deutschland müsse reale Garantien dafür haben, daß Belgien kein englisch-französischer Vasallenstaat werde. Ferner müsse Deutschland den flämischen Volksstamm vor der »Verwelschung« schützen. Das war im wesentlichen das alldeutsche Programm einer deutschen Vorherrschaft über Belgien. Bethmann-Hollweg schloß sich sogar den Projekten an, die sich in Belgien besonders auf die Flamen, im Gegensatz zu den französisch sprechenden Wallonen, stützen wollten. Hier lag ein historisch-politischer Irrtum schwerster Art. Die beiden Nationalitäten, aus denen Belgien sich zusammensetzt, stehen zueinander wie die deutschen zu den französischen Schweizern. Zu »befreien« gab es hier nichts. Mindestens 99 Prozent des flämischen Volkes lehnten jede Einmischung Deutschlands in die inneren Verhältnisse Belgiens ab. Ein von Deutschland geschaffenes autonomes Flandern wäre also nur mit Militärgewalt aufrechtzuerhalten gewesen.

An sich war die Sorge der deutschen Regierung verständlich, daß Belgien keine Einfallspforte Englands auf dem Kontinent sein sollte. Aber diese Gefahr war nur durch eine kontinentale Verständigung zwischen Deutschland, Frankreich und Rußland zu beseitigen. Wenn Deutschland bewies, daß es wirklich eine kontinentaleuropäische Verteidigungspolitik betrieb, dann hätte es von Belgien (im ganzen, nicht von einem utopischen Flandern) Garantien verlangen können, daß Belgien sich der kontinentaleuropäischen Front einfügte. Aber wenn Bethmann-Hollweg an Kriegsziele dachte, die eine völlige Besiegung Frankreichs und Rußlands voraussetzten, wie wollte er sich dann in der belgischen Frage gegen England durchsetzen? Und wie vertrug sich dieses Kriegszielprogramm mit der pessimistischen Beurteilung der Kriegslage durch Bethmann-Hollweg?

Es ist ganz klar, daß Bethmann-Hollweg seine Kriegsziele nicht auf Grund der militärischen und außenpolitischen Lage Deutschlands, sondern als innerpolitisches Kompromiß formulierte. War Bethmann-Hollweg auch in der Sache, was die westlichen Kriegsziele betraf, mit den Konservativen und Nationalliberalen im wesentlichen einig, so wählte er seine Ausdrücke so sorgfältig, daß er auch die Sozialdemokraten nicht ganz abstieß. Bei gutem Willen konnte man seine Worte so auslegen, daß er keine »Eroberungen«, sondern nur friedliche, billige Vereinbarungen anstrebe. Aber gerade diese seine vorsichtige Form erbitterte die konservativ-nationalliberale Gruppe. In der Sache bot Bethmann-Hollweg den sogenannten Annexionisten eigentlich alles, was sie nur wünschen konnten. Aber sie wollten die offene, scharfe Aussprache der deutschen Kriegsziele, eigentlich nicht gegenüber dem Feind, sondern als innerpolitische Machtprobe: Scheidemann sollte nicht sagen dürfen, daß er den Reichskanzler richtig auslege25. Die bisher in Deutschland herrschenden Schichten wollten nicht einmal den Schein dulden, als ob die Sozialdemokratie auf die deutsche Kriegspolitik Einfluß übe. Auch bei den sogenannten Alldeutschen war der Kriegszielstreit in erster Linie eine innerpolitische Frage, genauso wie auf der anderen Seite bei den Arbeitern.

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