Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

III. KAPITEL
Weltkrieg und Burgfrieden

Am 4. August 1914 bewilligte der Reichstag einstimmig, auch mit den Stimmen sämtlicher Sozialdemokraten, die Kriegskredite. Dann ging das Parlament auseinander und überließ der Regierung Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs, ohne auch nur den Versuch einer Kontrolle zu machen, die Kriegführung. Gleichzeitig verzichteten die Parteien, wenigstens in der Öffentlichkeit, auf jeden Kampf gegeneinander und auf jede Opposition gegen die Regierung. Den Zeitgenossen war vielfach das Bekenntnis der Sozialdemokraten zur Landesverteidigung überraschend, während man den sogenannten Burgfrieden als selbstverständlich hinnahm. Wer heute vom historischen Standpunkt aus den 4. August überdenkt, kommt zu einem umgekehrten Resultat: Der Entschluß der Sozialdemokraten, an der Verteidigung Deutschlands mitzuwirken, entsprach der marxistischen, sozialistischen Tradition. Dagegen war der Burgfrieden durchaus nicht so selbstverständlich, wie er damals dem deutschen Volke vorkam.

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion umfaßte 110 Abgeordnete, die Fraktion entschied sich gegen 14 Stimmen für die Bewilligung der Kriegskredite. Die 14 Vertreter der Minderheit haben sämtlich in der öffentlichen Reichstagssitzung die Fraktionsdisziplin gehalten und für die Kredite gestimmt. Auch Karl Liebknecht hat am 4. August der kaiserlichen Regierung fünf Milliarden zur Führung des Krieges bewilligt. Hätte die Minderheit die Bewilligung der Kredite am 4. August als Verbrechen am Sozialismus betrachtet, so hätte sie die Fraktionsdisziplin gebrochen, ganz besonders ein so eigenwilliger und tapferer Charakter wie Karl Liebknecht. Sozialdemokratische Abgeordnete haben erst später im Reichstag die Kriegskredite verweigert, als sie die Überzeugung hatten, daß die deutsche Regierung keinen Verteidigungskrieg zur Sicherung der Existenz des Volkes, sondern einen Eroberungskrieg führe.

Die Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten am 4. August war in erster Linie durch die Stimmung der sozialistischen Arbeitermassen beeinflußt, die nicht dulden wollten, daß die Truppen des Zaren über Deutschland herfielen. Aber darüber hinaus befand sich die sozialdemokratische Fraktion bei dem Bekenntnis zur Landesverteidigung durchaus im Einklang mit der marxistischen Lehre1. Marx und Engels waren zwar der Ansicht, daß die sozialistische Gesellschaft in einer späteren Zukunft den Krieg beseitigen werde. Aber in der Periode des Kapitalismus hielten sie den Krieg für ein Mittel der Politik, mit dem der Staatsmann – auch der Staatsmann des Proletariats – einfach rechnen muß. Ebenso gibt der Marxismus jeder Nation das Recht auf unabhängige Existenz und damit das Recht der Selbstverteidigung. Darüber hinaus beurteilt der Marxismus jeden Krieg nach den Interessen des internationalen Proletariats, und so sollen die sozialistischen Arbeiter aller Länder zu jedem Krieg eine einheitliche Auffassung vertreten.

Ein klassisches Beispiel für die marxistische Stellung zum Kriege bietet die Haltung von Marx und Engels zum Kriege 1870/71. Beim Kriegsausbruch waren die beiden Häupter des internationalen Sozialismus der Meinung, daß die Niederlage des reaktionären Bonapartismus und die Einigung Deutschlands auch den proletarischen Interessen diene. Nach Sedan änderte sich die Lage: Marx und Engels empfahlen den französischen Arbeitern, mit allen Kräften die neue Republik zu verteidigen, und den deutschen Arbeitern, sich für einen maßvollen Frieden einzusetzen, vor allem gegen eine Annexion Elsaß-Lothringens zu protestieren. Denn die Annexion geschehe gegen den Willen der Elsässer und Lothringer, und sie treibe zwangsläufig Frankreich in die Arme des Zarismus.

In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sah Engels den Krieg Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland kommen, und er hatte über ihn folgendes Urteil; Deutschland sei nicht nur das Land der Hohenzollern, sondern auch der Sitz der stärksten und am besten organisierten sozialistischen Arbeiterschaft der Welt. Deshalb sei ein Angriff auf Deutschland zugleich ein Angriff auf die Existenz der sozialistischen deutschen Arbeiterklasse. Darum erfordere das Interesse der sozialistischen Internationale den Abwehrsieg Deutschlands. Freilich habe die deutsche Arbeiterschaft die Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Krieg zur Revolutionierung Rußlands führe und daß Frankreich durch ein siegreiches Deutschland nicht vergewaltigt werde. Der Krieg würde auch innerpolitisch die Macht der deutschen Arbeiter außerordentlich steigern und bei gutem Ausgang den Sieg des Sozialismus in Deutschland vorbereiten. Friedrich Engels wünschte also für den europäischen Krieg, daß die Arbeiterschaft der großen Länder, jede an ihrem Platz, für die gemeinsame Aufgabe wirke: die deutschen Arbeiter für den deutschen Sieg, aber mit ihren eigenen Kriegszielen, nicht mit den Kriegszielen des deutschen Großkapitals, die russischen Arbeiter für die russische Revolution, und die französischen Arbeiter für einen möglichst schnellen Frieden mit Deutschland ohne gegenseitige Vergewaltigung.

Von den Gedanken der Altmeister des Sozialismus war in der deutschen Arbeiterschaft so viel lebendig, daß in einem Kriege Deutschlands mit dem russischen Zaren und seinen Verbündeten die deutschen Arbeiter das Recht und die Pflicht der Landesverteidigung hätten. Diese Tradition von Marx und Engels wirkte in der Abstimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 4. August entscheidend nach. Aber der Burgfrieden mit der kaiserlichen Regierung folgte aus der Lehre von Marx und Engels nicht. Selbst die bürgerlichen Parteien Deutschlands hätten sich mit guten Gründen gegen den Burgfrieden wehren können.

Wenn ein großes Volk im Kriege um seine Existenz kämpft, muß es alle Kräfte entfesseln, die in seinem Innern schlummern. Mit allen Mitteln muß der Geist und Wille gerade der ärmeren Volksmassen geweckt werden. Das ist aber nicht möglich unter der Losung »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, sondern nur unter höchster freier Selbsttätigkeit der Massen. Das berühmteste Beispiel eines solchen Volkskrieges ist die Verteidigung des revolutionären Frankreichs 1793/94 gegen das monarchistische Europa. Ebensowenig hätten die Bolschewiki 1917/20 ohne die ungeheuere Willenssteigerung der russischen Arbeiter und Bauern siegen können. Auch auf die englische Revolution von 1688 folgte der lange, schwere Krieg mit Ludwig XIV., in dem England nur siegen konnte, weil das Unterhaus alle Kräfte in der Nation lebendig machte. Die Geschichte lehrt, daß ein Volkskrieg nicht unter aristokratischem Kommando mit Zensur und Belagerungszustand zu führen ist, sondern nur durch die selbständige Aktivität der Massen.

Ferner: Ist es erforderlich, daß in einem großen Kriege die Parteigegensätze schweigen und daß jede Kritik an der zufällig vorhandenen Regierung verstummt? Auch diese Frage ist nach der geschichtlichen Erfahrung zu verneinen. Das englische Unterhaus dachte von 1689 bis 1697 gar nicht daran, mit den konservativen »Jakobiten« Burgfrieden zu schließen, sondern es schickte sie auf den Galgen. Die Bergpartei hat 1792 bis 1794 mitten im Kriege die feudale wie die Bourgeois-Aristokratie Frankreichs niedergeworfen. Die Landesverteidigung hat wahrlich darunter nicht gelitten. Aus der rücksichtslosen Verschärfung des Klassenkampfes schöpften die Bolschewiki die Kraft, die Entente abzuwehren. Mustafa Kemal hat während des Befreiungskrieges der modernen Türkei die Alttürken mit Feuer und Schwert ausgerottet. Um die Engländer und Franzosen aus dem Lande werfen zu können, mußte Kemal zunächst den Sultan in Konstantinopel stürzen.

In einem großen Volkskrieg wird stets die entschlossenste Partei oder Klasse, die Richtung, die am tiefsten in den Massen verwurzelt ist, die Macht an sich reißen und aus der Überwindung der innerpolitischen Gegner die Kraft zum Siege über den äußeren Feind schöpfen. Die Entwicklung in England und Frankreich während des Weltkrieges lehrt das gleiche. In beiden Ländern war die bürgerliche Demokratie fest gegründet, Arbeiter und Bauern stellten sich unter die Führung des Bürgertums, das so die Gesamtkraft der Nation mobilisierte. In beiden Ländern hat man während des Krieges rücksichtslos die politische und militärische Führung kritisiert. Ungeeignete Minister und Feldmarschälle wurden durch die öffentliche Kritik beseitigt. In England wie in Frankreich war die Arbeiterschaft politisch zu schwach, um die Macht zu übernehmen. Aber als die Schwierigkeiten sich im Laufe des Krieges häuften, kam in England Lloyd George zur Macht und in Frankreich Clemenceau. Beide verkörperten den äußersten linken Flügel des Bürgertums mit der stärksten Verbindung zu den ärmeren Volksmassen. Lloyd George hatte vor dem Kriege die Macht des aristokratischen Oberhauses gebrochen und im Bunde mit den englischen Arbeitern das berühmte Budget aufgestellt, das die Reichen aufs schärfste besteuerte. Clemenceau blickte auf vierzig Kampfjahre in den Reihen der radikalen Bewegung von Gambetta bis zur Dreyfus-Affäre zurück. So gewannen die beiden Männer die Autorität, mit der sie ihre Völker im Kriege führten. Die deutschen Lloyd George und Clemenceau waren Michaelis und Hertling. Bei beispielloser Aufopferung und Ausdauer mußte doch das deutsche Volk im Weltkriege für die Mängel seiner geschichtlichen Entwicklung büßen.

Am 4. August hätten die Parteien im Reichstag sich sagen können, daß die Koalition Englands, Frankreichs, Rußlands und Japans gegen Deutschland den völligen Bankrott der Außenpolitik Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs darstellte. Mit der Kriegserklärung hört die Politik nicht auf, sondern das Schicksal Deutschlands hing mindestens ebenso wie von den Waffen von der politischen Geschicklichkeit seiner Regierung ab. Wenn es im Augenblick nicht zweckmäßig war, Bethmann-Hollweg oder gar den Kaiser abzusetzen, hätte man nicht mindestens die öffentliche Kritik an der Regierung sichern müssen? Hätte man nicht die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit der politischen Parteien verteidigen müssen? Hätte nicht zumindest der Reichstag über den 4. August hinaus zusammenbleiben müssen, um bei den Krisen des Krieges, die jeden Augenblick eintreten konnten, auf dem Posten zu sein? Mußten die Parteien sich nicht darüber Gedanken machen, was Deutschland in diesem Kriege bezweckte? Denn mit allgemeinen Schlagworten wie »Verteidigung« und »Sicherung« läßt sich keine Politik machen. Aber die Parteien, von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten, haben solche Fragen am 4. August nicht gestellt. Sie bewilligten die Kredite und ließen sich bis auf weiteres nach Hause schicken. Die Regierung behielt unangefochten die diktatorische Gewalt, alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zu entscheiden. Mit Hilfe von Zensur und Belagerungszustand konnte die Regierung jede politische Meinungsäußerung im Volke unterdrücken. Das war der deutsche Burgfrieden von 1914. Wie wurde er möglich?

 

Es entsprach den Gedankengängen der militärischen Aristokratie Preußens, daß im Kriege der König unbedingt freie Hand haben mußte. So deckte sich der Burgfrieden zunächst mit der konservativen Anschauung. Die konservativ gestimmte Führung des Zentrums hatte ebenfalls keine Neigung, die verfassungsmäßigen Rechte des Kaisers anzutasten. Eher war Widerstand von dem liberalen Bürgertum und von den Sozialdemokraten zu erwarten. Aber beiden Gruppen fehlte der politische Machtwille, der nötig gewesen wäre, um beim Kriegsausbruch dem Reichstag neue Rechte zu erobern. In derselben Richtung wirkte die beispiellose Autorität des deutschen Generalstabs. Das Ansehen des Kaisers war seit der »Daily-Telegraph«-Affäre stark gesunken, und dem Reichskanzler Bethmann-Hollweg sowie der deutschen Diplomatie traute niemand große Fähigkeiten zu. Aber der Berliner Generalstab galt als der schweigende Hüter der Tradition von 1870. Der Generalstab hatte sich auch unter Wilhelm II. von allen Tagesstreitigkeiten und Tagesdiskussionen ferngehalten. So wirkte er als geheimnisvolle militärische Autorität ohnegleichen. Am 4. August stand man mitten in der Mobilmachung, die mit einer unheimlichen Präzision im ganzen Lande vor sich ging. Keine Partei wollte es damals wagen, dem Generalstab in die Räder zu fallen. Der Reichstag bewilligte das nötige Geld und demonstrierte die Einigkeit des Volkes. So war es auch 1870 gewesen. Dann schwiegen die Politiker, und Moltke hatte das Wort.

Es ist historische Pflicht, auf den fehlenden politischen Willen im Reichstag von 1914 hinzuweisen. Aber ebenso muß man zugeben, daß die Abgeordneten damals unter dem Druck einer gewaltigen historischen Tradition standen, von der sie sich nicht befreien konnten. Friedrich Engels freilich hatte der deutschen Sozialdemokratie eine stärkere Selbständigkeit zugetraut. Nach seinem Rat hätte die Partei beim Kriegsausbruch verlangen müssen, daß der Krieg mit revolutionären Mitteln geführt werde. Dazu rechnete Engels in erster Linie die allgemeine Volksbewaffnung: nicht nur die Einberufung aller ausgebildeten Männer, sondern auch die sofortige Einziehung, Bewaffnung und notdürftige Ausbildung aller übrigen Leute im wehrpflichtigen Alter. So hätte jeder Arbeiter sofort sein Gewehr in der Hand gehabt, und die Gewalt der herrschenden Aristokratie wäre von selbst auch ohne Volksaufstand verschwunden. Gestützt auf die bewaffneten Massen hätte die Sozialdemokratie nach Meinung von Engels die Kontrolle über die Innen- und Außenpolitik der Regierung erzwingen können. Eine Probe darauf, ob das Rezept von Engels durchführbar war, wurde nicht gemacht; denn der sozialdemokratische Parteivorstand von 1914 machte keinen Versuch, der kaiserlichen Regierung seinen Willen aufzuzwingen und die Kriegführung in die Hand zu nehmen. Das liberale Bürgertum blieb ebenso passiv. Selbstverständlich hätte sich der absolute Burgfrieden im Sinne des 4. August nur bei einer ganz kurzen Dauer des Krieges aufrechterhalten lassen. Als der deutsche Generalstab dem Volke den erhofften schnellen Sieg nicht brachte, mußten die politischen Kämpfe der Parteien und Klassen von neuem entbrennen.

Das deutsche Heer von 1914 vereinigte in sich alle Eigenschaften, aus denen sich die Leistungen des deutschen Volkes auf dem Gebiet der Industrie, Technik und Organisation erklären. Die Schattenseite des Heeres war die Überspannung der militärischen Disziplin, wie sie sich aus der Herrschaft der preußischen Aristokratie ergab. Das höhere Offizierskorps umfaßte eine bedeutende Zahl von Männern, die vollkommen die umfangreiche und verwickelte militärische Wissenschaft der Gegenwart beherrschten und allen Anforderungen der Truppenführung gewachsen waren. Die entscheidende Frage war, ob auch überall die richtigen Männer auf dem richtigen Posten standen und ob die Erfahrung und Leistungsfähigkeit, die in der Armee steckten, auch wirklich ausgenutzt wurden. Die Besetzung der höchsten militärischen Kommandostellen ist niemals eine rein militärische Fachangelegenheit, sondern sie hängt von den politischen Machtverhältnissen des Staates ab. Es ist niemals möglich, auf Grund der Friedensleistungen mit unbedingter Sicherheit zu beurteilen, wie ein General sich im Kriege bewähren wird. Hier sind Irrtümer auch bei der besten und sorgfältigsten Auslese unvermeidlich. Es kommt nur darauf an, wie schnell solche Irrtümer im Kriege erkannt und korrigiert werden.

Jede Armee hat in sich eine gewisse militärische öffentliche Meinung, die über die bekannteren Generäle urteilt. In den bürgerlichen Demokratien pflegen die verantwortlichen Staatsmänner sehr sorgfältig auf die Stimme dieser öffentlichen Meinung des Heeres zu hören und demgemäß das Armeeoberkommando zusammenzusetzen. Diese Form der Führerauslese hat sich im modernen Frankreich und England ausgezeichnet bewährt. Zur Zeit des Kriegsausbruches hatte die französische Armee den denkbar besten Führer in General Joffre. Das an die Kolonialkriege gewöhnte englische Offizierskorps hat sich erst langsam den Verhältnissen des großen europäischen Krieges angepaßt. Aber es ist nicht zu leugnen, daß zu jeder Zeit des Weltkrieges die englische Oberste Heeresleitung das Beste an Kräften vereinigte, was im britischen Offizierskorps vorhanden war.

Nach der Bismarckschen Verfassung dagegen lag die Ernennung des Generalstabschefs ausschließlich in der Hand des Kaisers. Wenn ein Regent die feine Menschenkenntnis und das erprobte militärische Urteil Wilhelms I. hatte, kamen tatsächlich die besten Männer in die Führung. Der preußische Generalstab verdankte seine Leistungen von 1866/71 nicht einer mystischen militärischen Begabung des Preußentums, sondern der Tatsache, daß Wilhelm I. den alten General Moltke herausfand und ihm die Armeeführung übertrug. Unter Wilhelm II. war die Besetzung der militärischen Kommandostellen eine Sache des Zufalls. Bestimmend war die eigene Meinung des Kaisers, die ohne tiefere Personen- und Sachkenntnis sich oft nach Äußerlichkeiten bildete, ferner waren es die Vorschläge des Militärkabinetts, die von allen möglichen persönlichen und höfischen Einflüssen getragen waren. So kam es, daß zu Kriegsbeginn der jüngere General von Moltke als Chef des Generalstabs das deutsche Heer zu führen hatte.

General von Moltke war ein hochgebildeter Mann mit einem für einen hohen Offizier ungewöhnlichen, weichen und empfindsamen Charakter. Er litt im Kriege unendlich unter dem Blutvergießen, das die von ihm befohlenen Schlachten verursachten. Aber sein körperlicher und Nervenzustand war 1914 so schlecht, daß Moltke schon längst hätte pensioniert werden müssen. Bei jeder anderen Verfassungsform hätte die politische Leitung den Zustand des Generalstabschefs bemerkt und ihn in schonender Weise rechtzeitig entfernt. Man kann sich nicht denken, daß in Staaten wie Frankreich, England, Amerika und Sowjetrußland ein Mann wie Moltke die Armee in den Krieg hätte führen dürfen. Wilhelm II. beachtete das alles nicht und ließ Moltke den Oberbefehl. So hat die Bismarcksche Verfassung dahin geführt, daß die deutsche Politik im August 1914 von Bethmann-Hollweg und das deutsche Heer vom jüngeren Moltke geleitet wurde.

Für die Operationen legte General von Moltke den Schlieffenschen Plan zugrunde2. Nur eine schwache deutsche Armee wurde in Ostpreußen aufgestellt, um die Österreicher bei der Abwehr der Russen zu unterstützen. Die Hauptmasse des deutschen Heeres marschierte im Westen auf, um durch Belgien hindurch in einer gewaltigen Umfassung von Norden her die feindlichen Streitkräfte zu erdrücken. Planmäßig mußte ungefähr in sechs Wochen der entscheidende Sieg im Westen erfochten sein, damit nachher das deutsche Heer den Russen entgegentreten konnte. Zahlenmäßig waren die Kräfte an der Westfront ungefähr gleich, da die Franzosen im ersten Abschnitt des Krieges nur von 100 000 Engländern und von ein paar belgischen Divisionen unterstützt wurden. Soweit richtete sich Moltke nach den Vorschriften Schlieffens. Aber er verdarb den Plan Schlieffens von vornherein dadurch, daß er ungefähr ein Drittel des deutschen Heeres in Elsaß-Lothringen stehen ließ, wo die Truppen für die Entscheidung nichts nützen konnten. Demgemäß war der Umfassungsflügel in Belgien viel zu schwach. Im Geiste von Schlieffen hätte in Elsaß-Lothringen nur eine Mindestzahl deutscher Truppen bleiben müssen. Wären die Franzosen hier eingebrochen, ja sogar über den Rhein gelangt, um so schlimmer für sie: Die französische Rheinarmee hätte nur gefehlt, während die Entscheidungsschlacht irgendwo zwischen Lille und Paris geliefert wurde. Sie hätte umkehren müssen und wäre der siegreichen deutschen Hauptarmee in die Arme gelaufen.

Es scheint, daß Moltke sich bei der Veränderung des Schlieffenschen Planes von politischen Erwägungen leiten ließ. Er wollte dem deutschen Lande um jeden Preis eine größere feindliche Invasion ersparen. Das Prestige von Kaiser und Armee sollte nicht darunter leiden, daß der Feind ins Land kam. So erklärt sich offenbar die militärisch verfehlte Truppenanhäufung in Elsaß-Lothringen sowie die Panikstimmung im Großen Hauptquartier, als später die Nachricht vom Russeneinfall in Ostpreußen eintraf. Diese innere Schwäche hat die französische Oberste Heeresleitung nicht gehabt. General Joffre hat sich in seinen Plänen durch die deutsche Invasion nie beirren lassen.

Als der Aufmarsch im Westen vollendet war, kam es in Lothringen und vor Verdun zu verlustreichen Schlachten, bei denen die deutschen Armeen etwas Raum gewannen, ohne Wesentliches zu erreichen. Dagegen zeigte im Norden trotz aller Verstümmelungen der Schlieffensche Plan seine sieghafte Kraft. Die deutschen Truppen umfaßten, über Lüttich und Brüssel vorbrechend, den Nordflügel der Ententeheere. So brachte die große Schlacht bei Charleroi einen deutschen Sieg. Die Franzosen und Engländer zogen sich schleunigst nach Süden zurück, um aus der Umklammerung herauszukommen. Die Reste des belgischen Heeres gingen in die Festung Antwerpen. Waren die deutschen Armeen in Belgien so stark gewesen, wie der ursprüngliche Plan Schlieffens es erforderte, so hätte die Umfassung schon Ende August den entscheidenden Sieg bringen können. So mußte man sich mit der Verfolgung des auf Paris weichenden Feindes begnügen.

General Joffre überblickte die Situation mit vollkommener Klarheit. Die Gefahr für die Ententeheere lag in der ständigen Umfassung ihres linken Flügels durch die Deutschen. Diese Gefahr mußte erst einmal ausgeschaltet und damit der Schlieffensche Plan vereitelt werden. Joffre nahm ohne Rücksicht auf alle Stimmungsmomente seine Truppen bis weit südlich von Paris zurück. Der deutsche rechte Umfassungsflügel war zahlenmäßig zu schwach, um rechts und links an Paris vorbeizugehen. So mußten die Deutschen östlich an Paris vorbeimarschieren. Unterdessen hatte Joffre mehrere entbehrliche Armeekorps aus der elsaßlothringischen Front mit der Eisenbahn nach Paris geworfen. Denn Joffre wußte im Gegensatz zu Moltke, wo die Entscheidung fiel und wo nicht. Die äußerste rechte Flanke der deutschen Umfassungstruppen war bisher die I. Armee (Befehlshaber General von Kluck, Generalstabschef General von Kuhl) gewesen. Die äußerste linke Flanke der Entente waren bisher die Engländer. Also marschierte Anfang September die Armee Kluck östlich an Paris vorbei nach Süden, um die Engländer weiter zu verfolgen. Da tauchte eine neue französische Armee, aus Paris hervorbrechend, im Rücken von Kluck auf. In diesem Moment war der Plan Schlieffens gescheitert. Die deutsche Armee umfaßte nicht mehr, sondern wurde selbst umfaßt. Auch jetzt konnten die Deutschen im Westen noch Siege erfechten, aber sie konnten sich damit höchstens aus der Umklammerung befreien und den Gegner frontal zurückwerfen. Es war jetzt keine Feldzugsentscheidung durch Vernichtung der feindlichen Macht mehr möglich.

 

Inzwischen saß die deutsche Oberste Heeresleitung in Luxemburg und verlor von Tag zu Tag mehr die Fühlung mit den Frontarmeen. Weit davon entfernt zu führen, wußte General von Moltke kaum, was an der Front vorging. In jenen ersten Kampfwochen haben die Heeresberichte aus dem Großen Hauptquartier, gezeichnet vom Generalquartiermeister von Stein, das deutsche Volk begeistert. Aber mit den wirklichen Vorgängen hatten sie nicht viel gemein. Ein Wille zur Täuschung lag nicht im entferntesten vor. Aber die Oberste Heeresleitung konnte nicht mehr berichten, als was sie selbst wußte. Als in den letzten Augusttagen von den Armeen überall Siegesmeldungen kamen, war die Stimmung des Generals von Moltke überaus optimistisch. So erklären sich die berühmten Heeresberichte aus jenen Tagen.

Zur selben Zeit mußte der in Ostpreußen kommandierende General von Prittwitz melden, daß zwei ihm an Zahl weit überlegene russische Heere in Preußen eingebrochen waren. Mit solchen Vorfällen mußte die Oberste Heeresleitung bei der ganzen Anlage des Kriegsplans rechnen. Besondere Fehler waren dem General von Prittwitz nicht nachzuweisen. Trotzdem wurde er sofort abgesetzt. An seine Stelle trat General von Hindenburg mit General Ludendorff als Generalstabschef. Darüber hinaus hielt Moltke es für notwendig, die Truppen in Preußen durch zwei Armeekorps aus dem Westen zu verstärken. Er nahm sie aber nicht dort fort, wo sie entbehrlich waren, aus der Lothringer Front, sondern vom rechten Umfassungsflügel des deutschen Heeres. In der Marneschlacht hat das Fehlen der beiden Korps an der entscheidenden Stelle das Resultat wesentlich bestimmt. Um ein weiteres zu tun, befahl Moltke neben der Hauptoffensive der deutschen Heere bei Paris noch eine Nebenoffensive der Lothringer Truppen in Richtung Nancy, die unter schwersten Opfern scheiterte.

Inzwischen ergriff General Joffre unter Umzingelung des deutschen Westflügels von Paris her, auf der ganzen Front bis Verdun selbst die Offensive. Die Marneschlacht begann. Die deutsche Armee Kluck war schwer gefährdet. Denn sie hatte vor sich die Engländer und im Rükken die neue französische Armee, die aus Paris hervorgekommen war. Kluck und Kuhl faßten einen kühnen Entschluß: Sie rechneten mit der übergroßen Vorsicht der damals sich noch unsicher fühlenden englischen Führung. Sie ließen die Engländer einfach stehen, machten kehrt und schlugen in mehrtägigen Kämpfen die aus Paris herausgekommenen Franzosen zurück. Dadurch war eine breite Lücke zwischen der Armee Kluck und den übrigen deutschen Heeren entstanden, die in frontalen Kämpfen von der Marne bis Verdun die französische Offensive auffingen.

Inzwischen saß der kranke General von Moltke in Luxemburg ahnungs- und hilflos, und Wilhelm II. verließ sich auf seinen Generalstabschef. Moltke ahnte, daß ein Verhängnis über das deutsche Westheer heraufzog. Er fühlte aber nicht die Kraft, selbst an die Front zu gehen und den Oberbefehl wieder in die Hand zu nehmen. So schickte er einen jüngeren Generalstabsoffizier, den Oberstleutnant Hentsch an die Front mit unbeschränkten Vollmachten. Hentsch besichtigte die Lage bei der Armee Kluck. Er erkannte die gefährliche Lücke, in die sich feindliche Truppen hineinschieben konnten, und befahl den Abbruch der Schlacht. Das deutsche Heer ging hinter die Aisne zurück. Die Westoffensive war gescheitert. Der Rückzugsbefehl des Oberstleutnants Hentsch war durchaus nicht notwendig. Denn alle an der Schlacht beteiligten deutschen Armeen hatten gute taktische Erfolge, und eine an Ort und Stelle befindliche geschickte oberste Führung hätte auch die Gefahr beseitigen können, die von der Lücke in der Front und von den Engländern drohte.

Ein deutscher Sieg an der Marne hätte einen weiteren französischen Rückzug nach Süden gebracht. Aber das deutsche Heer wäre nach wie vor aus Paris im Rücken bedroht gewesen, und die französische Armee hätte weitergekämpft. Was Deutschland im Westen brauchte, war kein gewöhnlicher taktischer Sieg und kein Raumgewinn, sondern ein ungeheueres Sedan, eine Ausschaltung des feindlichen Heeres, um die Truppen für den Osten freizubekommen. Die Hoffnung darauf war mit dem Scheitern des Schlieffenschen Plans begraben. Durch die Fehler der Führung behielt das deutsche Heer an der Marne nicht einmal den so wohlverdienten taktischen Sieg. In der Marneschlacht war das deutsche Heer seinen Gegnern mindestens gewachsen, aber die Entscheidung kam durch die geistige Überlegenheit der französischen Obersten Heeresleitung. Als General von Moltke die Größe der Niederlage übersah, brach er völlig zusammen und mußte vom Oberkommando enthoben werden.

Die Bismarcksche Verfassung fand darin ihre Rechtfertigung, daß das deutsche Volk, um sich in der Welt behaupten zu können, den König von Preußen und sein Heer brauchte. Die moralische Existenzberechtigung des alten Systems ging in den Luxemburger Tagen des Septembers 1914 endgültig verloren. Der König von Preußen hatte nicht nur durch die Fehler seiner Außenpolitik dazu beigetragen, daß das deutsche Volk in einen hoffnungslosen Krieg geriet. Er hatte auch dem deutschen Heere, das so opferwillig ins Feld zog, die denkbar unfähigste Führung gegeben. Einen »Dolchstoß« gab es im September 1914 wahrlich nicht. Die deutschen Granaten, die an der Marne verschossen wurden, hatte der gesamte Reichstag bewilligt, einschließlich der späteren Unabhängigen, einschließlich Liebknechts. Niemals hatte ein Volk seinen Regenten so gutwillig den Blankowechsel vollsten Vertrauens ausgestellt wie das deutsche Volk seinem Kaiser am 4. August. Die Folge davon war das Hauptquartier in Luxemburg und die Niederlage an der Marne. Als die Oberste Heeresleitung in Luxemburg zusammenbrach, verstummten für einige Zeit auch die Heeresberichte. Während des Krieges hat das deutsche Volk niemals die Wahrheit über die Marneschlacht erfahren. Selbst die führenden Reichstagsabgeordneten konnten sich erst spät, unvollständig und auf Umwegen, über die Septemberereignisse an der Westfront orientieren.

General von Moltke mußte durch einen neuen Generalstabschef ersetzt werden. Reichstag, Presse und Volk hatten keinen Einfluß darauf, wem das Schicksal des deutschen Heeres und damit des deutschen Volkes jetzt anvertraut wurde. Wilhelm II. wählte nach seinem freien Ermessen den bisherigen Kriegsminister von Falkenhayn. General von Falkenhayn war wenigstens physisch seiner Aufgabe gewachsen. Er hätte sich auch als Führer einer einzelnen Armee bewährt, wie er 1916 nach seinem Rücktritt vom Posten des Generalstabschefs in Rumänien gezeigt hat. Aber er war zur Führung des Gesamtheeres ebensowenig befähigt wie Moltke. Dabei hatte das deutsche Heer 1914 eine Reihe von erstklassigen Generälen. Es standen zur Verfügung, um nur einige Namen zu nennen: Ludendorff, Loßberg, Seeckt, Hoffmann und Groener. Aber sie kamen nicht an die Spitze, weil Wilhelm II. sie nicht ernannte. Zwei Jahre lang ist das deutsche Heer unzulänglich geführt worden, und als dann endlich im Sommer 1916 ein hervorragender General, Ludendorff, das wirkliche Oberkommando übernahm, war die Gelegenheit, eine militärische Entscheidung zu erringen, schon verpaßt. In der Freude, endlich einen wirklichen Führer zu haben, gab das deutsche Volk dem General Ludendorff dann auch die oberste politische Gewalt, und so wurde das Letzte verdorben, was noch zu retten gewesen wäre.