Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Bismarck war der Ansicht, daß das Hohenzollern-Kaisertum trotz aller Schwierigkeiten seine innerpolitischen Gegner niederhalten könne, wenn nur der Frieden erhalten blieb. Wilhelm II. war ebenfalls bemüht, den Frieden zu bewahren. Hatte er um 1890 den russisch-französischen Krieg als unvermeidlich angesehen, so neigte er später immer mehr zur Überzeugung, daß es gelingen werde, den Frieden zu erhalten. Aber um den Frieden zu verteidigen, dazu genügt nicht die friedliche Gesinnung, sondern dazu ist vor allem eine entsprechende geschickte Politik erforderlich. Wilhelm II., seine Reichskanzler von Caprivi bis Bethmann-Hollweg und seine nähere Umgebung haben niemals den Krieg gewollt. Aber sie haben durch ungeheure Fehler Deutschland in die Situation hineinmanövriert, die zum Juli 1914 führte.

Innen- und Außenpolitik eines Staates sind voneinander nie zu trennen. Denn beide sind gleichmäßig der Ausdruck der im Staate herrschenden gesellschaftlichen Kräfte. Das innerpolitische Kräfteverhältnis Deutschlands legte die entscheidende Macht in die Hand des Kaisers, auch wenn er zur Diplomatie so wenig befähigt war wie Wilhelm II. Das Planlose und Sprunghafte seines Wesens erregte überall Mißtrauen. Die ausländischen Mächte zweifelten daran, daß es überhaupt möglich sei, mit Deutschland unter Wilhelm II. stabile Politik zu treiben. So wurde das Vertrauen zur deutschen Politik im Ausland, das Wilhelm I. und Bismarck geschaffen hatten, zerstört. Die Neigung Wilhelms II. zu pathetischen und drohenden Worten verstärkte das Mißtrauen, obwohl auf die starken Reden keinerlei Taten folgten.

Wilhelm II. hat sich redlich bemüht, die Beziehungen Deutschlands zu Rußland und zu England zu bessern, und auch gegen Frankreich hatte er keine feindlichen Absichten. Gelegentliche kaiserliche Kraftausdrücke in den berühmten Randbemerkungen zu den Akten darf man nicht zu ernst nehmen. Trotzdem hat Wilhelm II. für Deutschland keine stabile politische Situation schaffen können. Auf Grund der bestehenden Reichsverfassung war aber die Führung der Außenpolitik, außer durch eine Revolution, dem Kaiser nicht zu entreißen!

Die preußische Aristokratie hatte an sich gar keinen Grund zu einer imperialistischen, kriegerischen Politik. Denn der ostpreußische Gutsbesitzer trieb keinen Handel mit China und besaß keine Bergwerke in Marokko. Der tiefste Grund der außenpolitischen Schwierigkeiten Deutschlands war vielmehr die wirtschaftliche Expansionskraft des deutschen Bürgertums und die dadurch erzeugten Verstimmungen der Konkurrenten, vor allem in England. Aber hätte Deutschland eine rein bürgerliche Regierung gehabt, so wie England oder Amerika, so hätte das Bürgertum selbst planmäßig seine Expansion organisiert. Das Bürgertum hätte selbst die Verantwortung für seine politischen Interessen tragen müssen. Es hätte sich überlegt, was erreichbar war und was nicht. Es hätte seine Kräfte nicht zersplittert und sich nicht an allen Enden der Welt zugleich Feinde erweckt.

So aber beeinflußte das Bürgertum unter Wilhelm II. die Außenpolitik nicht planmäßig in politischer Form, sondern die einzelnen im Ausland interessierten Firmen bearbeiteten um die Wette den Kaiser und die Reichsstellen. Der Kaiser und der Reichskanzler hielten es für ihre Pflicht, den Forderungen der Wirtschaft entgegenzukommen. So entstand das Chaos der wilhelminischen Außenpolitik aus zwei Quellen: erstens aus der planlosen und verwirrten Arbeitsweise des Kaisers und zweitens aus dem ebenso planlosen Durcheinander der einzelnen Firmeninteressen.

Wilhelm II. begann seine selbständige Außenpolitik mit der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland. Die Folge war der Zweibund Rußland-Frankreich, an dessen Vermeidung Bismarck zwanzig Jahre lang erfolgreich gearbeitet hatte. Auch wenn Rußland und Frankreich keinen militärischen Angriff auf Deutschland unternahmen, war seitdem die Lage Deutschlands außerordentlich verschlechtert. Denn die deutsche Politik geriet so in die Abhängigkeit von dem guten Willen Österreichs und Englands. In der Zeit von 1890 bis zum russisch-japanischen Krieg und bis zur ersten russischen Revolution war der Zweibund noch ebensosehr gegen England wie gegen Deutschland gerichtet. Der historische Wettstreit zwischen Rußland und England um die Herrschaft in Asien schien der Entscheidung entgegenzureifen. Zur selben Zeit kämpfte England mit Frankreich um den afrikanischen Kolonialbesitz, ein Gegensatz, der im Faschoda-Streit seinen Höhepunkt fand.

Damals um die Jahrhundertwende war die englische Politik zu einem Bündnis mit Deutschland bereit. Man empfand zwar in England die wachsende Konkurrenz des deutschen Kaufmannes unangenehm. Aber die Gefahr, daß der Zar eines Tages China und Indien erobern und damit der britischen Weltgeltung den Todesstoß versetzen würde, war größer. So entstand Chamberlains Projekt des Bundes Deutschland-England-Japan gegen Rußland-Frankreich. Die Stellung Deutschlands in einem solchen Bunde mit England wäre keine sehr erfreuliche gewesen. Deutschland hätte gezwungen werden können, in einem Weltkrieg an der Seite Englands wesentlich für englische Interessen zu kämpfen, ohne vor plötzlichen Wendungen der englischen Politik sicher zu sein, wie sie sich jederzeit durch einen Ministerwechsel in London maskieren ließen. Immerhin hat auch Bismarck in der letzten Zeit seiner amtlichen Tätigkeit ein Zusammengehen des Dreibundes mit England gegen die russisch-französische Gefahr erwogen. Die Situation Deutschlands im Bunde mit England wäre nicht ideal gewesen, aber doch unendlich besser als die Lage von 1914.

Wilhelm II. und seine Ratgeber lehnten das Bündnis mit England ab. Für eine solche Haltung ließen sich gute Gründe anführen. Aber wenn die deutsche Politik entschlossen war, den wirtschaftlichen und maritimen Wettkampf mit England aufzunehmen, so war nur eine Folgerung möglich: nämlich die Verständigung mit Rußland und Frankreich zur Schaffung eines kontinentalen Blocks gegen die englische Seemacht. Der Bau der deutschen Flotte konnte doch nur den Sinn haben, daß die deutsche Marine, im Bunde mit der französischen, England gewachsen sein sollte. Eine deutsche Flotte zu schaffen, die zugleich gegen England, Frankreich und Rußland kämpfen konnte, war völlig unmöglich. Ein Zusammengehen Deutschlands und Frankreichs wäre trotz Elsaß-Lothringens möglich gewesen, wenn Wilhelm II. im Sinne der Tradition Bismarcks alle kolonialen Pläne Frankreichs unterstützt hätte. So aber fand Frankreich bei seinem wichtigsten Kolonialprojekt, in Marokko, den schärfsten deutschen Widerstand. Um ein paar deutsche Privatinteressen zu fördern, sind die entscheidenden Kombinationen der deutschen Außenpolitik zerstört worden.

Ebenso sinnlos war das Auftreten Wilhelms II. gegen Rußland. Der Kaiser sparte zwar keine persönliche Liebenswürdigkeit gegen den Zaren. Aber wo Rußland außenpolitisch einen Erfolg anstrebte, fand es den deutschen Konkurrenten vor. In der Zeit, als Rußland alle seine Kräfte auf Nordchina konzentrierte, besetzte Deutschland Kiautschou und marschierte die Waldersee-Expedition nach Peking. Als sich Rußland dem Nahen Osten zuwandte, traf es die deutsche Konkurrenz in Persien, und die asiatische Türkei stand im Zeichen der deutschen Bagdad-Bahn. Und als Rußland wieder eine aktive Balkanpolitik einleitete, unterstützte Deutschland mit allen Kräften Österreich, ja darüber hinaus trat Deutschland mit seinen Militärmissionen als selbständiger Faktor in der Türkei auf. Bismarck hatte die Verstimmungen und Konflikte mit Rußland immer dadurch ausgleichen können, daß er niemals ein reales russisches Interesse schädigte. Wilhelm II. störte überall die russische Politik oder trat ihr offen entgegen.

Dabei lag Wilhelm II., Bülow und dem Geheimrat Holstein, der im Auswärtigen Amt die Fäden in der Hand hatte, nichts ferner, als mit Rußland oder Frankreich einen Krieg zu provozieren. Die drei Männer, die in so verhängnisvoller Weise die deutsche Außenpolitik bestimmten, wollten nur Deutschlands sogenannten »Platz an der Sonne« verteidigen. Moralisch hatte Deutschland ohne Zweifel dieselbe Berechtigung, sich in China, Marokko usw. zu betätigen wie die anderen Mächte, aber eine solche Konkurrenzpolitik Deutschlands gegen Frankreich und Rußland hatte doch nur dann einen Sinn, wenn Deutschland auf die englische Rückendeckung rechnen konnte. Andernfalls war es ein leichtfertiges Spiel, das mit der Verständigung Englands, Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland enden mußte.

Dabei waren die realen Erfolge der Politik Wilhelm II. gering, weil der Kaiser immer dann nachgab, wenn er seine Ziele nur durch einen Krieg hätte verwirklichen können. Kiautschou blieb die einzige deutsche Erwerbung in China. Aus Marokko ist Deutschland – gegen eine sehr zweifelhafte Entschädigung in Zentralafrika – herausgegangen. In Persien wich Deutschland vor England und Rußland zurück. Trotz der deutschen Militärmission hat Wilhelm II. die Türkei weder im Tripolis- noch im Balkankrieg geschützt. Zum Bagdadbahnunternehmen ließ Deutschland fremde kapitalistische Beteiligungen zu. Aber die nachträglichen deutschen Zugeständnisse konnten den Schaden nicht wieder gutmachen, den die Aktionen Wilhelms II. in Frankreich und Rußland angerichtet hatten.

Die Niederlage Rußlands gegen Japan beseitigte die Gefahr, daß England in Asien von Rußland ausgeschaltet wurde. Auf der anderen Seite trat durch den Marokkokonflikt an Stelle des kolonialen Gegensatzes England-Frankreich der Gegensatz Deutschland-Frankreich. So bot sich für die englische Politik die Situation, um den deutschen Konkurrenten unschädlich zu machen. König Eduard VII. schuf die Entente. Englands Taktik war seitdem vollkommen klar. Es hatte zwar nicht die Absicht, von sich aus Deutschland anzugreifen. Aber England war fest entschlossen, sobald Rußland und Frankreich in einen Krieg mit Deutschland geraten würden, sich am Kriege gegen Deutschland zu beteiligen. In diesem Entschluß der englischen Politik liegt die eigentliche Wurzel des Weltkrieges. Denn wären nicht Rußland und Frankreich der Hilfe Englands unbedingt sicher gewesen, so hätte Rußland nie einen Angriff gegen Deutschland und Österreich gewagt. England war zwar an den Zweibund durch kein formelles Bündnis gebunden, aber es bestanden Erklärungen der englischen Regierung, die für den Ernstfall völlig ausreichten.

 

Diese Situation mußte in den letzten Jahren vor Beginn des Weltkrieges der deutschen Politik völlig klar sein. Der deutsche Botschafter Fürst Lichnowsky hat in seinen Berichten aus London darüber keinen Zweifel gelassen. In Berlin verkannte man aber den Ernst der Lage. Man glaubte, daß es möglich sei, durch Entgegenkommen in Einzelfragen die englische Regierung von ihrem Kriegswillen abzubringen. Am meisten war der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg in solchen Illusionen über England befangen. Die englische Regierung war durchaus bereit, mit Deutschland vorteilhafte Abkommen über Spezialfragen, afrikanische Kolonien, Bagdadbahn usw. abzuschließen. England hätte auch ein Marineabkommen mit Deutschland geschlossen, damit beide Staaten den Neubau ihrer Kriegsflotten einschränkten. Aber all das konnte in der entscheidenden Frage die Ansicht Englands nicht ändern.

Die englischen Staatsmänner wollten es auf keinen Fall zulassen, daß Deutschland in einem Kontinentalkrieg über Frankreich und Rußland Sieger blieb. Denn dann wäre Deutschland der Herr des europäischen Festlandes geworden und so mächtig, daß England in eine überaus gefährdete Lage gekommen wäre. Eine solche Entwicklung wollten die englischen Staatsmänner der beiden großen Parteien verhindern, und darum waren sie fest entschlossen, beim Ausbruch eines Kontinentalkrieges mit Frankreich und Rußland zusammenzugehen18. Man sieht, daß es bei diesen Erwägungen Englands gar nicht auf die Stärke der deutschen Flotte ankam. Die Gefahr für England bestand darin, daß Deutschland eines Tages die Küsten von Petersburg bis Brest beherrschen könnte, aber nicht darin, daß Deutschland ein paar Panzerschiffe mehr hatte. Vom englischen Standpunkt aus war das logisch gedacht, und von »Heuchelei« und »Treulosigkeit« ist dabei keine Spur. Es ist nicht Englands Schuld, daß Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg die englische Politik nicht verstanden. Aber ebenso irrtümlich ist die Ansicht, daß der Weltkrieg nicht gekommen wäre, wenn Deutschland seinen Flottenbau eingeschränkt hätte. Freilich hat die Weigerung der deutschen Regierung, das Flottenabkommen mit England zu schließen, stimmungsmäßig stark auf die englische Bevölkerung gewirkt, und so wurde dem Londoner Auswärtigen Amt seine antideutsche Taktik erleichtert. Was folgte für eine einsichtige deutsche Politik aus dieser Grundauffassung Englands? Wenn Deutschland den Frieden erhalten wollte, mußte es jede Verletzung oder Schädigung Frankreichs und Rußlands vermeiden. Seitdem die unglückselige Marokkoangelegenheit aus der Welt geschafft war, gab es wenigstens keinen akuten Konfliktstoff zwischen Deutschland und Frankreich. Aber zur selben Zeit ließ Deutschland sich in der Balkanpolitik in einen schweren Konflikt mit Rußland hineinmanövrieren. Die Bildung der Entente Frankreich-Rußland-England hatte die deutsche Politik in eine hoffnungslose Abhängigkeit von Österreich-Ungarn gedrängt. Bülow und Holstein hatten sich die Theorie zurechtgemacht, daß Deutschland untergehen müsse, wenn sein einziger ernsthafter Verbündeter Österreich-Ungarn einen Krieg verliere. Dieser Theorie schloß sich Wilhelm II. mit einigen Schwankungen und Bethmann-Hollweg aus vollem Herzen an. Man berief sich dabei auf Bismarck, aber man verstand ihn vollkommen falsch.

Zunächst hätte Bismarck sich nie in eine Lage hineinmanövrieren lassen, in der Deutschland von der Gnade der Wiener Staatsmänner abhängig war. Ferner hatte Bismarck das Bündnis mit Österreich niemals so ausgelegt, daß die deutsche Armee für jedes Balkanabenteuer Österreich zur Verfügung stehen müsse. Auch Bismarck hielt die Existenz Österreich-Ungarns für eine Notwendigkeit für das Deutsche Reich. Aber daraus folgte noch lange nicht, daß Deutschland unbedingt sich an einem russisch-österreichischen Krieg beteiligen mußte. Bismarck hat immer wieder auf das entschiedenste betont, daß Deutschland neutral bleiben würde, wenn Österreich einen solchen Krieg provozierte. In der Tat war Deutschland immer noch mächtig genug, um dann beim Friedenskongreß die Existenz Österreichs zu verteidigen. Wilhelm II. und seine Ratgeber legten dagegen den Dreibundvertrag so aus, daß die Wiener Politiker einfach die deutsche Armee unter ihre Aktiva einkalkulieren konnten.

Das zeigte sich verhängnisvoll in der bosnischen Annexionskrise. Der sehr kluge und energische Leiter der österreichischen Außenpolitik, Aehrenthal, nahm die jungtürkische Revolution zum Anlaß, um die Annexion der beiden türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina auszusprechen, die Österreich seit dem Berliner Kongreß besetzt hielt. Aehrenthal war formal gegenüber Rußland im Recht. Denn Rußland hatte schon in der Zeit des Berliner Kongresses in geheimen Abmachungen die beiden Provinzen Österreich überlassen und auf einen Einspruch gegen eine Annexion von Bosnien-Herzegowina verzichtet. Inzwischen war aber Serbien aus der Vormundschaft Österreichs in die Klientel Rußlands übergegangen. Das serbische Volk verlangte die nationale Einigung mit seinen Stammesbrüdern in Bosnien, und Rußland unterstützte im Rahmen seiner Balkanpolitik die serbischen Ansprüche. So erwuchs aus der Annexion Bosniens ein schwerer Konflikt zwischen Österreich und Rußland.

Aehrenthal spielte kühl und geschickt. Er wußte, daß er auf Deutschland unbedingt rechnen konnte und daß Rußland damals militärisch nicht kriegsfähig war. Wien machte keine Zugeständnisse, und Deutschland ließ sich verleiten, in Petersburg eine Erklärung abzugeben, worin es sich restlos den Standpunkt Österreichs zu eigen machte und die Verantwortung für ein Scheitern der Verhandlungen Rußland zuschob19. Man hat sich darüber gestritten, ob die in höflichster Form gehaltene Mitteilung Deutschlands in Petersburg ein »Ultimatum« gewesen sei oder nicht. Das ist ganz gleichgültig. Wesentlich war, daß Rußland nunmehr bestimmt wußte, es würde – im Falle eines Krieges wegen Bosniens – Deutschland an der Seite Österreichs zum Feinde haben. Schon damals hätte Rußland bei einem Kriege unbedingt auf die Hilfe Frankreichs und Englands rechnen können. Aber die russische Regierung fühlte sich militärisch noch rückständig und gab nach. Deutschland und Österreich hatten diplomatisch gesiegt. Die Entente war vor den Mittelmächten zurückgewichen. Aber um welchen Preis!

Die Haltung Wilhelms II. und seiner Minister in der bosnischen Krise war ein unverzeihlicher Fehler. Von jetzt ab war die russische Regierung überzeugt, daß sie in den Balkanfragen Deutschland immer auf seiten Österreichs finden würde. Rußland war entschlossen, ein zweites Mal nicht nachzugeben, seine Rüstung zu verstärken und bei dem nächsten Balkankonflikt in den Krieg zu gehen. Bethmann-Hollweg aber wiegte sich in der weiteren Illusion, daß Rußland immer nachgeben werde, wenn Deutschland energisch auftrete, und daß so der Friede zu erhalten sei. Das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten.

Es kam der Tag von Sarajewo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische Verschwörer. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg waren überzeugt, daß jetzt wieder die Existenz Österreichs auf dem Spiele stehe. Könne Österreich sich in Serbien keine Genugtuung verschaffen, so würden sich die slawischen Provinzen von der Habsburger Monarchie loslösen. Das Interesse Deutschlands erfordere die Rettung Österreich-Ungarns als einer bündnisfähigen Großmacht. So gab Deutschland der Wiener Regierung bei ihrem Vorgehen gegen Serbien volle Rückendeckung. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg rechneten schlimmstenfalls mit einem lokalen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien. Man glaubte nicht, daß Rußland sich der berechtigten Aktion Österreichs entgegenwerfen werde. Noch weniger glaubte man, daß England bei einem solchen Anlaß an der Seite Rußlands Krieg führen könnte. So ist die deutsche Regierung unfähig, ahnungslos und hilflos in den Weltkrieg hineingestolpert.

Es kann gar keine Rede davon sein, daß Wilhelm II. oder Bethmann-Hollweg bewußt auf den Weltkrieg hingearbeitet haben. Hätte Wilhelm II. einen Krieg gewollt, um die Herrschaft in Europa zu gewinnen, so hätte er während des russisch-japanischen Krieges oder während der ersten russischen Revolution Frankreich angegriffen. Damals war Rußland militärisch ohnmächtig, und Deutschland hätte wahrscheinlich über das isolierte Frankreich gesiegt. Die friedfertige Haltung der deutschen Regierung um 1905 genügt eigentlich, um die Kriegsschuldfrage eindeutig zu beantworten.

Wilhelm II. war, von allen anderen Argumenten abgesehen, viel zu nervös und innerlich zu unsicher, um sich die grauenhafte Last eines von ihm militärisch und politisch zu leitenden Weltkrieges zu wünschen. Ebensowenig war der stets von Sorgen und Verantwortungen gequälte Bethmann-Hollweg der Mann, einen Krieg heraufzubeschwören. Der im Juli 1914 amtierende Staatssekretär des Auswärtigen von Jagow hatte vom ersten Tage des Krieges an den Wunsch, ihn so schnell wie möglich wieder zu beenden20. Auch eine kriegslustige Militärpartei ist 1914 am Hofe Wilhelms II. nicht nachzuweisen. Der Generalstabschef von Moltke war körperlich schwer krank und fühlte sich der Armeeführung nicht gewachsen. Wie sollte er zum Kriege getrieben haben? Der Kriegsminister von Falkenhayn war ein Militär, der in den Grenzen seines Ressorts blieb, ohne den Ehrgeiz, sich in politische Fragen einzumengen. Der Staatssekretär der Marine, von Tirpitz, war in den entscheidenden Juliwochen 1914 von Berlin abwesend und hat die Art der Kriegseröffnung scharf mißbilligt. Endlich waren die beim Kaiser einflußreichen Chefs des Militär-, Zivil- und Marinekabinetts von Lyncker, von Valentini und von Müller sämtlich als »Flaumacher« verrufen21. Sie sind deshalb im Laufe des Krieges von der Obersten Heeresleitung, von den Anhängern des unbeschränkten U-Boot-Krieges und vom Kronprinzen heftig bekämpft worden.

Die Männer, die 1914 Deutschland regierten, sind von der moralischen Kriegsschuld freizusprechen, aber um so schärfer muß die politische Unfähigkeit Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs betont werden. Es war ein unerhörter Fehler und im Widerspruch zu allen Traditionen Bismarcks, daß Deutschland den Österreichern bei der Aktion gegen Serbien den Rücken deckte. Als Serbien das Ultimatum Österreichs ablehnte, erklärte Österreich-Ungarn an Serbien den Krieg. Darauf mobilisierte Rußland, trotz der Warnung Deutschlands, seine Armee. Politisch hätte Deutschland alles Interesse gehabt, die Verantwortung für den Angriff Rußland zu überlassen. Statt dessen wurde die Frage in Berlin rein militärtechnisch behandelt.

Der deutsche Generalstab sah dem Zweifronten-Krieg mit schweren Sorgen entgegen. Das französische Heer war an Zahl und an technischen Hilfsmitteln dem deutschen ungefähr gewachsen. Das russische Heer war an Zahl dem deutschen bei weitem überlegen und durch die Tätigkeit des Kriegsministers Suchomlinow mit allem Nötigen versehen. Dagegen war die Armee Österreich-Ungarns an Zahl der ausgebildeten Mannschaften und an moderner Artillerie so schwach, daß sie nur einen Bruchteil des russischen Heeres binden konnte. Von Italien war keine Hilfe zu erwarten. So mußte Deutschland mit einem Zweifronten-Krieg gegen große Übermacht rechnen.

Der deutsche Generalstab glaubte den Krieg nur mit Hilfe des Planes gewinnen zu können, den der frühere Generalstabschef Graf Schlieffen ausgearbeitet hatte. Der Plan sah vor, daß die gesamte Macht Deutschlands bis auf einige Divisionen im Westen eingesetzt wurde, um in wenigen Wochen Frankreich niederzurennen. Danach sollte die deutsche Hauptarmee gegen Rußland antreten. Der Schlieffensche Plan zeigt am besten, wie außerordentlich ernst der Generalstab die Lage Deutschlands beurteilte. Denn der Plan setzte zu seinem Gelingen voraus, daß Deutschland den gleichstarken und gleichwertigen französischen Gegner innerhalb weniger Wochen vernichtete. Ob und wie das möglich sein sollte, konnte mit gutem Gewissen niemand sagen. Ein Generalstab, dem eine solche verzweifelte Aufgabe zur Lösung zufällt, treibt nicht zum Kriege.

Um den Schlieffenschen Plan, der nach Ansicht des Generalstabs allein eine Rettungsaussicht bot, anzuwenden, war aber sofortiger Kriegsbeginn im Westen und im Osten nötig, sobald die russische Mobilmachung die Unvermeidlichkeit des Krieges gezeigt hatte. Rein militärtechnisch war das unbedingt richtig. Aber die politische Leitung hätte trotzdem die Verantwortung auf sich nehmen müssen, den Gegner angreifen zu lassen. Bethmann-Hollweg und Wilhelm II. hatten den Mut zu dieser politischen Verantwortung nicht, und so erklärten sie an Rußland und Frankreich den Krieg. Ohne Zweifel wäre auch ohne die deutsche Kriegserklärung der Krieg durch den russischen Angriff auf Österreich eingeleitet worden. Aber die politische Situation Deutschlands wurde durch die Kriegserklärung von Anfang an verdorben. Als Deutschland dann noch in Ausführung des Schlieffenschen Plans die Neutralität Belgiens verletzte, hatte die englische Regierung den bequemsten Vorwand zur Beteiligung am Kriege an der Seite Rußlands und Frankreichs. So war das deutsche Kaisertum in den Krieg geraten, an dessen unglücklichem Ende nach Bismarcks Urteil die sozialistische Republik stand22.