Buch lesen: «Sherlock Holmes' Buch der Fälle», Seite 3

Schriftart:

»Wasser! Um Gottes willen, Wasser!« schrie er.

Ich griff mir von einem Seitentisch eine Karaffe und eilte ihm zu Hilfe. Im gleichen Moment stürmten von der Halle her der Butler und mehrere Diener herein. Ich erinnere mich, daß einer von ihnen ohnmächtig wurde, als ich bei dem Verletzten kniete und jenes furchterregende Gesicht ins Lampenlicht drehte. Das Vitriol fraß sich überall hinein und tropfte von Ohren und Kinn. Ein Auge war bereits weiß und glasig; das andere rot und entzündet. Die Züge, die ich ein paar Minuten zuvor noch bewundert hatte, glichen nun einem schönen Gemälde, über welches der Künstler einen nassen und fauligen Schwamm gezogen hatte. Sie waren verwischt, verfärbt, unmenschlich, schrecklich.

Mit ein paar Worten erklärte ich genau, was geschehen war, soweit es den Angriff mit dem Vitriol betraf. Einige waren durchs Fenster geklettert, andere hinausgeeilt auf den Rasenplatz, aber es war dunkel und hatte zu regnen begonnen. Zwischen seinen Schreien raste und tobte das Opfer gegen die Rächerin. »Es war diese Höllenbrut, Kitty Winter!« rief er. »Oh, dieses Teufelsweib! Dafür wird sie bezahlen! Bezahlen wird sie! Oh, Gott im Himmel, diese Schmerzen sind nicht auszuhalten!«

Ich badete sein Gesicht in Öl, legte Watte auf die wunden Hautflächen und verabreichte eine Morphium-Injektion. Angesichts dieses Schocks war jeder Argwohn gegen mich von ihm gewichen, und er klammerte sich an meine Hände, als ob es auch noch in meiner Macht läge, Licht in jene Augen zu bringen, die wie die eines toten Fisches zu mir aufstarrten. Ich hatte weinen können über die Verwüstung, hätte ich mich nicht des nichtswürdigen Lebens erinnert, das zu einer solch gräßlichen Veränderung geführt hatte. Es war ekelerregend, das Tätscheln seiner brennenden Hände zu spüren, und ich war erleichtert, als, dicht gefolgt von einem Spezialisten, sein Hausarzt kam, um mich von meinem Posten abzulösen. Auch ein Polizei-Inspektor war inzwischen eingetroffen, und ihm übergab ich meine echte Visitenkarte. Jede andere Handlungsweise wäre ebenso sinnlos wie töricht gewesen, denn man kannte mich beim Yard vom Sehen fast ebenso gut wie Holmes selbst. Dann verließ ich dieses Haus der Düsternis und des Schreckens. Binnen einer Stunde war ich in der Baker Street.

Holmes saß in seinem altgewohnten Sessel; er wirkte sehr blaß und erschöpft. Abgesehen von seinen Verletzungen hatten sogar seine eisernen Nerven unter den Ereignissen dieses Abends gelitten, und er lauschte entsetzt meinem Bericht über die Verwandlung des Barons.

»Der Sünden Sold21, Watson – der Sünden Sold!« sagte er. »Früher oder später ereilt er jeden. Weiß Gott, da waren der Sünden genug«, fügte er hinzu; er nahm einen braunen Band vom Tisch. »Hier ist das Buch, von dem die Frau gesprochen hat. Wenn das die Heirat nicht verhindern kann, dann nützt überhaupt nichts mehr. Aber das wird es, Watson. Das muß es. Keine Frau mit Selbstachtung könnte so etwas ertragen.«

»Es ist wohl das Tagebuch seiner Liebschaften?«

»Oder das Tagebuch seiner Begierden. Nennen Sie es, wie Sie wollen. In dem Augenblick, da die Frau uns davon erzählte, erkannte ich, welch eine enorme Waffe es wäre, wenn wir seiner nur habhaft werden könnten. Ich deutete damals meine Absichten nicht an, denn diese Frau hätte sie möglicherweise ausgeplaudert. Aber ich grübelte darüber nach. Dann verschaffte dieser Anschlag auf mich die günstige Gelegenheit, den Baron glauben zu lassen, gegen mich seien keine Vorsichtsmaßnahmen mehr nötig. All das gelang bestens. Ich hätte noch ein bißchen länger gewartet, aber seine geplante Amerikareise zwang mich zu handeln. Ein so kompromittierendes Dokument hätte er niemals zurückgelassen. Deshalb mußten wir sofort zu Werke gehen. Nächtlicher Einbruch kam nicht in Frage. Dagegen war er gewappnet. Aber abends gab es eine Chance, sofern ich nur sicher sein konnte, daß seine Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen war. Und da kamen Sie und Ihre blaue Schale ins Spiel. Aber ich mußte zweifelsfrei wissen, wo sich das Buch befand, und mir war klar, daß mir nur wenige Minuten zum Handeln blieben, denn meine Zeit war danach bemessen, wie gut Sie sich in chinesischer Töpferkunst auskannten. Deshalb habe ich im letzten Moment das Mädchen mitgenommen. Woher sollte ich denn ahnen, was das für ein Päckchen war, das sie so sorgsam unter dem Mantel trug? Ich dachte, sie sei ganz und gar meiner Geschäfte wegen gekommen; aber anscheinend hatte sie auch noch ein eigenes zu besorgen.«

»Er hat geahnt, daß Sie mich geschickt haben.«

»Das stand zu befürchten. Aber Sie haben ihn gerade noch lange genug hingehalten, daß ich das Buch holen konnte – wenn auch nicht lange genug, um unbemerkt zu entkommen. Ah, Sir James, freut mich sehr, daß Sie gekommen sind!«

Unser vornehmer Freund war auf eine vorangegangene Einladung hin erschienen. Mit größter Aufmerksamkeit lauschte er Holmes' Bericht über das, was geschehen war.

»Sie haben Wunder vollbracht – Wunder!« rief er, als er die Geschichte gehört hatte. »Wenn aber diese Verletzungen so schrecklich sind, wie Dr. Watson sie schildert, dann läßt sich unser Ziel, die Heirat zu vereiteln, doch gewiß ohne den Einsatz dieses scheußlichen Buches erreichen.«

Holmes schüttelte den Kopf.

»Frauen vom Typ de Merville reagieren anders. Sie würde ihn als entstellten Märtyrer nur um so mehr lieben. Nein, nein. Seine moralische Seite, nicht seine physische, gilt es zu zerstören. Dieses Buch wird sie auf die Erde zurückholen – ich wüßte nicht, womit man dies sonst noch erreichen könnte. Er hat es mit eigener Hand geschrieben. Daran kann sie nicht vorbei.«

Sir James nahm sowohl das Buch als auch die kostbare Schale mit. Da ich selbst überfällig war, ging ich mit ihm hinunter auf die Straße. Ein Brougham22 erwartete ihn bereits. Er sprang hinein, gab dem mit einer Kokarde geschmückten Kutscher hastig eine Anweisung und fuhr rasch davon. Er schwang seinen Mantel halb aus dem Fenster, um das Wappenschild auf dem Paneel zu verhüllen; aber nichtsdestoweniger hatte ich es im grellen Licht von der Lünette über unserer Haustür bereits erkannt. Vor Überraschung rang ich nach Luft. Dann machte ich kehrt und lief die Treppe zu Holmes' Wohnung hinauf.

»Ich habe herausgefunden, wer unser Klient ist«, rief ich und wollte mit meiner großen Neuigkeit herausplatzen. »Wahrhaftig, Holmes, es ist ...«

»Es ist ein treuer Freund und ritterlicher Gentleman«, sagte Holmes und hob Einhalt gebietend eine Hand. »Das soll uns jetzt und für immer genügen.«

Ich weiß nicht, auf welche Weise man sich des inkriminierenden Buches bediente. Vielleicht hat Sir James die Sache bewerkstelligt. Andererseits ist es wahrscheinlicher, daß eine so delikate Aufgabe dem Vater der jungen Lady anvertraut wurde. Die Wirkung jedenfalls war ganz wie erwünscht. Drei Tage später erschien in der Morning Post ein Artikel, der verlautbarte, daß die Eheschließung zwischen Baron Adelbert Gruner und Miss Violet de Merville nicht stattfinden werde. Dasselbe Blatt brachte auch das erste polizeigerichtliche Verhör23 im Verfahren gegen Miss Kitty Winter aufgrund der schweren Anklage wegen Vitriolspritzens. Während der Verhandlung kamen jedoch derartig mildernde Umstände an den Tag, daß das Gericht, wie man sich erinnern wird, die geringste Strafe verhängte, die bei einem solchen Vergehen möglich war. Sherlock Holmes drohte eine Strafverfolgung wegen Einbruchs; aber wenn der Zweck gut und der Klient illuster genug ist, wird sogar die starre britische Rechtsprechung human und elastisch. Mein Freund hat bis jetzt noch nicht auf der Anklagebank gesessen.

Der erbleichte Soldat

Die Ideen meines Freundes Watson sind begrenzt, aber um so hartnäckiger hält er an ihnen fest. Seit langem schon drängt er mich, eines meiner Erlebnisse einmal selbst niederzuschreiben. Womöglich habe ich diese Aufsässigkeit ein wenig provoziert, da ich schon oft Ursache hatte, ihn auf die Oberflächlichkeit seiner Darstellungen hinzuweisen und ihn dafür zu tadeln, daß er dem Massengeschmack willfahre, anstatt sich streng an Fakten und Personen zu halten. »Versuchen Sie es doch selbst, Holmes!« gab er darauf zurück, und ich muß bekennen, daß ich nun, die Feder in der Hand, doch einzusehen beginne, daß der Stoff auf eine Weise präsentiert werden muß, die das Interesse des Lesers zu wecken vermag. Diesen Zweck kann die folgende Begebenheit kaum verfehlen, da sie zu den seltsamsten Fällen meiner Sammlung zählt – auch wenn sich zufälligerweise darüber nichts in Watsons Sammlung findet. Wo ich schon von meinem alten Freund und Biographen spreche, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, um folgendes anzumerken: Wenn ich mich bei meinen vielfältigen kleinen Untersuchungen mit einem Begleiter belastet habe, so nicht etwa aus Gefühlsduselei oder aus einer Kaprice heraus, sondern weil Watson einige bemerkenswerte Eigenschaften besitzt, denen er – bescheiden, wie er ist – in seiner übertriebenen Wertschätzung meiner Leistungen bisher nur geringe Beachtung geschenkt hat. Ein Verbündeter, der einem Schlußfolgerungen und Vorgehensweise vorwegnimmt, ist immer gefährlich; aber jemand, dem jede Entwicklung stets als Überraschung daherkommt und dem die Zukunft allzeit ein versiegeltes Buch ist, stellt in der Tat einen idealen Gehilfen dar.

Meinem Notizbuch entnehme ich, daß ich im Januar 1903, just nach Beendigung des Burenkrieges24, Besuch von Mr. James M. Dodd erhielt, einem großen, frischen, sonnengebräunten und aufrechten Briten. Der gute Watson hatte mich damals um einer Gattin willen verlassen, im Lauf unserer Kameradschaft die einzige eigennützige Tat, deren ich mich entsinnen kann. Ich war allein.

Gewöhnlich sitze ich mit dem Rücken zum Fenster und plaziere meine Besucher auf den Stuhl gegenüber, wo das Licht voll auf sie fällt. Mr. James M. Dodd schien ein wenig in Verlegenheit, wie das Gespräch zu beginnen sei. Ich machte keinen Versuch, ihm zu helfen, denn sein Schweigen ließ mir mehr Zeit zur Beobachtung. Es hat sich als klug erwiesen, die Klienten mit einer Kostprobe meiner Fähigkeiten zu beeindrucken, daher teilte ich ihm einige meiner Schlußfolgerungen mit.

»Aus Südafrika, Sir, stelle ich fest.«

»Ja, Sir«, antwortete er ziemlich überrascht.

»Imperial Yeomanry25, nehme ich an.«

»Genau.«

»Middlesex Corps, ohne Zweifel.«

»So ist es. Mr. Holmes, Sie sind ja ein Hexenmeister.«

Ich lächelte über seine verblüffte Miene.

»Wenn ein kräftig wirkender Gentleman mein Zimmer betritt, mit einer Gesichtsbräune, wie sie die englische Sonne niemals erzeugen könnte, und mit dem Taschentuch im Ärmel statt in der Tasche, fällt es nicht schwer, ihn einzuordnen. Sie tragen einen kurzen Bart, was zeigt, daß Sie kein Berufssoldat waren. Sie sehen aus wie ein Reiter. Was Middlesex betrifft, so hat mir bereits Ihre Karte verraten, daß Sie ein Börsenmakler aus der Throgmorton Street sind. Welchem Regiment sollten Sie sonst angehören?«

»Sie sehen alles.«

»Ich sehe nicht mehr als Sie, aber ich habe mir angewöhnt zu Beachten, was ich sehe. Wie auch immer, Mr. Dodd, Sie sind heute morgen nicht zu mir gekommen, um die Wissenschaft der Beobachtung zu erörtern. Was ist denn in Tuxbury Old Park geschehen?«

»Mr. Holmes ...!«

»Mein lieber Sir, daran gibt es nichts Geheimnisvolles. Ihr Schreiben trug diesen Briefkopf, und da Sie die Dringlichkeit unseres Treffens betont haben, war klar, daß sich etwas Unvorhergesehenes und Bedeutsames ereignet hatte.«

»Ja, allerdings. Aber ich habe den Brief am Nachmittag geschrieben, und seitdem ist eine ganze Menge passiert. Wenn Colonel Emsworth mich nicht rausgeworfen hätte ...«

»Rausgeworfen!«

»Naja, darauf lief es jedenfalls hinaus. Er ist ein eisenharter Bursche, dieser Colonel Emsworth. Der größte Leuteschinder in der Armee seinerzeit, und damals herrschte sowieso schon ein rauher Umgangston. Wenn es nicht um Godfrey gegangen wäre, hätte ich mir das Benehmen des Colonels nicht gefallen lassen.«

Ich zündete mir meine Pfeife an und lehnte mich in den Stuhl zurück.

»Vielleicht erklären Sie mir bitte, wovon Sie sprechen.«

Mein Klient grinste verschmitzt.

»Ich war schon drauf und dran zu glauben, daß Sie alles wissen, ohne daß man Ihnen was erzählt«, sagte er. »Aber ich will Ihnen berichten, was passiert ist, und ich hoffe zu Gott, daß Sie mir sagen können, was das zu bedeuten hat. Die ganze Nacht habe ich wachgelegen und mir den Kopf zerbrochen, und je mehr ich nachdenke, um so unglaublicher wird die Geschichte.

Als ich im Januar 1901 eingerückt bin – genau vor zwei Jahren –, gehörte der junge Godfrey Emsworth bereits derselben Schwadron an. Er ist der einzige Sohn von Colonel Emsworth – Emsworth, dem Träger des Krimkrieg-Viktoria-Kreuzes26 –, er hat Kämpferblut, und so war es kein Wunder, daß er als Freiwilliger diente. Es gab im Regiment keinen feineren Burschen. Wir schlössen Freundschaft – jene Art von Freundschaft, die sich nur entwickeln kann, wenn man das gleiche Leben führt und die gleichen Freuden und Sorgen teilt. Er war mein Kamerad – und das bedeutet in der Armee eine ganze Menge. Ein Jahr lang, in dem hart gekämpft wurde, sind wir zusammen durch dick und dünn gegangen. Dann traf ihn eine Kugel aus einer Elefantenbüchse, im Gefecht bei Diamond Hill, hinter Pretoria. Ich bekam einen Brief aus dem Hospital in Kapstadt und einen aus Southampton. Seitdem kein Wort mehr – nicht ein einziges Wort, Mr. Holmes, seit über sechs Monaten, und er war doch mein bester Kumpel.

Tja, als der Krieg vorüber war und wir alle zurückkehrten, habe ich seinem Vater geschrieben und mich erkundigt, wo Godfrey sich aufhält. Keine Antwort. Ich habe ein bißchen abgewartet und dann noch mal geschrieben. Diesmal bekam ich eine Antwort, kurz und schroff. Godfrey befinde sich auf einer Weltreise und werde kaum vor einem Jahr zurück sein. Das war alles.

Mir hat das nicht genügt, Mr. Holmes. Die ganze Geschichte kam mir so verdammt unnatürlich vor. Er ist ein anständiger Kerl und würde einen Kumpel nicht einfach so fallenlassen. Das sähe ihm nicht ähnlich. Und ich wußte eben auch, daß er einmal eine Menge Geld erben wird, und außerdem, daß sein Vater und er nicht besonders gut miteinander auskämen. Der Alte sei manchmal ein Tyrann, und der junge Godfrey habe zu viel Temperament, um sich das gefallen zu lassen. Nein, mir hat das nicht genügt, und ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Es ergab sich allerdings, daß ich – nach zweijähriger Abwesenheit – noch eine Menge Ordnung in meine eigenen Angelegenheiten bringen mußte, und deshalb konnte ich mich erst diese Woche wieder mit dem Fall Godfrey beschäftigen. Aber seitdem möchte ich alles übrige liegen lassen, bis die Sache endlich ausgestanden ist.«

Mr. James M. Dodd schien zu der Sorte Mensch zu gehören, die man wohl besser zum Freund denn zum Feind hat. Seine blauen Augen blickten entschlossen, während er sprach, und seine kantigen Kiefer bissen fest aufeinander.

»Und, was haben Sie unternommen?« fragte ich.

»Mein erster Schritt war, zu ihm nach Hause zu gehen, nach Tuxbury Old Park bei Bedford, um einmal selbst das Gelände zu sondieren. Zu diesem Zweck habe ich mich schriftlich bei seiner Mutter angemeldet – von dem Bärbeißer von Vater hatte ich die Nase ziemlich voll – und machte einen sauberen Frontalangriff: Godfrey sei mein Stubengenosse, mir liege sehr viel daran, ihr von unseren gemeinsamen Erlebnissen zu erzählen, ich hielte mich gerade in der Gegend auf, ob sie etwas dagegen hätte, et cetera? Daraufhin bekam ich von ihr eine sehr liebenswürdige Antwort nebst einer Einladung, in ihrem Haus zu übernachten. Und das hat mich am Montag dorthin geführt.

Tuxbury Old Hall liegt völlig abgeschieden – fünf Meilen ringsum nirgendwo ein Ort. Am Bahnhof war kein Wagen, und so mußte ich mit meinem Koffer zu Fuß losziehen; es war schon fast dunkel, als ich ankam. Das Haus ist groß und weitläufig und es steht in einem ansehnlichen Park. Ich würde sagen, es setzt sich aus allen möglichen Epochen und Stilarten zusammen; den Grundstock bildete wohl elisabethanisches Fachwerk27, und den Abschluß ein viktorianischer Säulengang. Innen war alles holzgetäfelt; an den Wänden hingen Teppiche und schon halb verblichene alte Gemälde – ein Haus der Schatten und Geheimnisse. Es gibt da einen Butler, den alten Ralph, der ungefähr so alt zu sein scheint wie das Haus, und seine Frau, die womöglich noch älter ist. Sie war Godfreys Amme gewesen, und ich habe ihn mit einer Zuneigung von ihr sprechen hören, die nur noch von der zu seiner Mutter übertroffen wurde; deshalb fühlte ich mich zu ihr hingezogen, trotzdem sie so komisch aussah. Auch die Mutter gefiel mir – eine sanfte kleine weiße Maus von einer Frau. Nur den Colonel konnte ich nicht leiden.

Wir sind auch sofort ein bißchen aneinandergeraten, und ich wäre zurück zum Bahnhof gelaufen, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, daß ihm das gerade recht gewesen wäre. Man hat mich gleich in sein Arbeitszimmer geführt, und dort traf ich ihn an – einen riesigen Mann mit krummem Rücken, vergilbter Haut und einem zottigen grauen Bart; er saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem alles kreuz und quer lag. Eine rotgeäderte Nase ragte wie ein Geierschnabel aus dem Gesicht, und unter buschigen Augenbrauen funkelten mich zwei grimmige graue Augen an. Ich konnte nun verstehen, warum Godfrey so selten von seinem Vater gesprochen hatte.

›Nun, Sir‹, schnarrte er. ›Ich würde ganz gern die wahren Gründe für diesen Besuch erfahren.‹

Ich antwortete, daß ich die schon in meinem Brief an seine Frau dargelegt hätte.

›Ja, ja; Sie haben behauptet, daß Sie Godfrey in Afrika kennengelernt hätten. Als Beweis dafür haben wir natürlich nur Ihr Schreiben.‹

›Ich habe seine Briefe in der Tasche.‹

›Lassen Sie die doch freundlicherweise mal sehen.‹

Er warf einen flüchtigen Blick auf die beiden, die ich ihm reichte; dann warf er sie mir wieder zu.

›Also, worum geht es?‹ fragte er.

›Ich mag Ihren Sohn Godfrey gern, Sir. Viele gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen verbinden uns. Ist es denn nicht natürlich, daß ich mich über sein plötzliches Schweigen wundere und wissen will, was aus ihm geworden ist?‹

›Ich entsinne mich recht deutlich, Sir, daß wir schon einmal miteinander korrespondierten und daß ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, was aus ihm geworden ist. Er befindet sich auf einer Weltreise. Nach den Strapazen in Afrika war er in schlechter gesundheitlicher Verfassung, und sowohl seine Mutter als auch ich waren der Auffassung, daß völlige Ruhe und Ortswechsel erforderlich seien. Geben Sie freundlicherweise diese Erklärung auch an alle anderen Freunde weiter, die sich dafür womöglich interessieren.‹

›Gewiß‹, antwortete ich. ›Aber vielleicht hätten Sie noch die Güte, mir den Namen seines Dampfers und der Schiffahrtslinie nebst Abfahrtszeit anzugeben. Ich habe keinen Zweifel, daß ich dann in der Lage wäre, mit einem Brief an ihn durchzukommen.‹

Meine Bitte schien meinen Gastgeber ebenso zu verwirren wie zu ärgern. Seine großen Brauen senkten sich über die Augen, und er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Schließlich blickte er auf mit der Miene eines Schachspielers, der einen gefährlichen Zug seines Gegners bemerkt und sich entschieden hat, wie er ihn erwidern kann.

›Manch einer, Mr. Dodd‹, sagte er, ›würde wohl Anstoß nehmen an Ihrer verteufelten Hartnäckigkeit und wäre der Meinung, dieser Starrsinn sei nichts anderes als eine verdammte Unverschämtheit.‹

›Das müssen Sie als Ausdruck meiner echten Zuneigung für Ihren Sohn sehen, Sir.‹

›Schon recht. Das habe ich Ihnen auch in hohem Maße zugute gehalten. Dennoch muß ich Sie bitten, diese Nachforschungen einzustellen. Jede Familie hat ihre ureigensten Erfahrungen und Beweggründe, die man einem Außenstehenden nicht immer erklären kann, so gut seine Absichten auch sein mögen. Meiner Frau liegt viel daran, etwas über Godfreys Vergangenheit zu erfahren; Sie können ihr gern davon erzählen, aber ich möchte Sie bitten, Gegenwart und Zukunft aus dem Spiel zu lassen. Solche Nachforschungen dienen keinem nützlichen Zweck, Sir; sie bringen uns nur in eine peinliche und schwierige Lage.‹

Damit war ich also in eine Sackgasse geraten, Mr. Holmes. Es gab kein Weiterkommen. Ich konnte nur so tun, als ob ich mich mit der Situation abfände, und innerlich ein Gelübde ablegen, daß ich erst ruhen würde, wenn sich das Schicksal meines Freundes aufgeklärt hätte. Es war ein trübseliger Abend. Wir speisten ruhig zu dritt, in einem düsteren, verblichenen alten Zimmer. Die Lady fragte mich eifrig über ihren Sohn aus, aber der Alte schien mürrisch und niedergedrückt. Die ganze Prozedur hat mich derartig gelangweilt, daß ich mich, so rasch wie mir schicklicherweise möglich war, entschuldigte und mich auf mein Zimmer zurückzog. Es war ein großer, kahler Raum im Erdgeschoß, so düster wie der Rest des Hauses, aber wenn man ein Jahr lang in der südafrikanischen Steppe geschlafen hat, Mr. Holmes, ist man nicht allzu wählerisch mit seinem Quartier. Ich zog die Vorhänge auseinander, schaute hinaus in den Garten und stellte fest, daß es eine schöne Nacht mit einem hell scheinenden Halbmond war. Dann setzte ich mich ans prasselnde Kaminfeuer, stellte die Lampe neben mich auf einen Tisch und versuchte, mich mit einem Roman abzulenken. Ich wurde allerdings gestört von Ralph, dem alten Butler, der mit frischem Nachschub an Kohlen hereinkam.

›Ich dachte, die könnten Ihnen über Nacht vielleicht ausgehen, Sir. Wir haben rauhes Wetter, und diese Räume sind kalt.‹

Er zögerte etwas, bevor er wieder hinausging, und als ich mich umschaute, stand er da und sah mich mit einem nachdenklichen Ausdruck auf seinem runzligen Gesicht an.

›Verzeihung, Sir, aber es ließ sich nicht vermeiden, mit anzuhören, was Sie bei Tisch über den jungen Master Godfrey gesagt haben. Sie wissen, Sir, daß meine Frau seine Amme war, und deshalb darf ich wohl sagen, daß ich sein Pflegevater bin. Die Sache interessiert uns natürlich. Und Sie sagen, er hat sich gut gehalten, Sir?‹

›Es gab keinen mutigeren Mann im Regiment. Er hat mich einmal aus dem Gewehrfeuer der Buren herausgeschleppt – sonst säße ich wahrscheinlich nicht hier.‹

Der alte Butler rieb sich die mageren Hände.

›Ja, Sir, ja, das ist Master Godfrey, wie er leibt und lebt. Er war schon immer tapfer. Im Park gibt es nicht einen Baum, Sir, auf den er nicht geklettert ist. Nichts konnte ihn aufhalten. Er war ein feiner Junge, und – oh, Sir, er war ein feiner Mann.‹

Ich fuhr hoch.

›Hören Sie!‹ rief ich. ›Sie sagen, er war. Sie reden, als ob er tot wäre. Was hat diese ganze Geheimniskrämerei zu bedeuten? Was ist mit Godfrey Emsworth geschehen?‹

Ich packte den Alten an der Schulter, aber er drehte sich weg.

›Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir. Fragen Sie den Herrn nach Master Godfrey. Er weiß Bescheid. Mir kommt es nicht zu, mich einzumischen.‹

Er war im Begriff, den Raum zu verlassen, aber ich hielt ihn am Arm fest.

›Hören Sie‹, sagte ich. ›Eine Frage werden Sie mir noch beantworten, bevor Sie gehen, und wenn ich Sie die ganze Nacht festhalten muß. Ist Godfrey tot?‹

Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Er war wie hypnotisiert. Nur mühsam ging ihm die Antwort über die Lippen. Sie war schrecklich und unvermutet.

›Ich wünschte bei Gott, er wäre es!‹ rief er; dann riß er sich los und stürzte aus dem Zimmer.

Sie können sich denken, Mr. Holmes, daß ich in nicht gerade glücklicher Verfassung zu meinem Stuhl zurückgegangen bin. Die Worte des Alten schienen mir nur eine Erklärung zuzulassen. Offenbar war mein Freund in irgendwelche kriminelle oder zumindest unehrenhafte Geschäfte verwickelt, die den guten Ruf der Familie antasteten. Der strenge alte Herr hatte seinen Sohn fortgeschickt und vor der Welt versteckt, damit kein Skandal ans Licht käme. Godfrey war ein unbekümmerter Bursche. Er ließ sich leicht beeinflussen von seiner Umgebung. Ohne Zweifel war er in üble Gesellschaft geraten und ins Verderben gestürzt worden. Eine traurige Geschichte, wenn das wirklich zutraf; aber selbst dann war es meine Pflicht, ihn aufzuspüren und zu sehen, ob ich ihm helfen konnte. Voll Sorge grübelte ich gerade über die Sache nach, als ich hochsah und Godfrey Emsworth vor mir stand.«

Mein Klient hatte wie in tiefer Erregung innegehalten.

»Bitte fahren Sie fort«, sagte ich. »Ihr Problem weist einige sehr ungewöhnliche Merkmale auf.«

»Er stand draußen vor dem Fenster, Mr. Holmes, das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt. Ich habe Ihnen ja schon erzählt, daß ich in die Nacht hinausgeschaut hatte. Danach ließ ich die Vorhänge ein Stück weit offen. Und von dieser Öffnung wurde seine Gestalt eingerahmt. Das Fenster reichte bis zum Boden, und ich konnte sie in ihrer ganzen Länge erkennen; aber es war das Gesicht, was meinen Blick in Bann hielt. Es war totenbleich – noch nie habe ich einen so blassen Mann gesehen. Vermutlich sehen Gespenster so aus, aber seine Augen trafen auf meine, und es waren die Augen eines lebenden Menschen. Als er merkte, daß ich ihn anschaute, sprang er zurück und verschwand in die Dunkelheit.

Es war etwas Erschreckendes an dem Mann, Mr. Holmes. Es war nicht nur dieses grausige Gesicht, das so käsebleich in der Dunkelheit schimmerte. Es war noch was dahinter: etwas Verstohlenes, Heimliches, Schuldbewußtes – etwas, was zu dem aufrichtigen, mannhaften Burschen, den ich gekannt hatte, überhaupt nicht paßte. Es hinterließ in mir ein Gefühl des Grauens.

Aber wenn man ein oder zwei Jahre als Soldat mit Kamerad Bure Krieg gespielt hat, dann behält man die Nerven und handelt schnell. Godfrey war kaum verschwunden, als ich auch schon am Fenster war. Der Griff klemmte, und es dauerte ein Weilchen, bis ich es aufreißen konnte. Dann flitzte ich durch und rannte den Gartenweg hinunter, in die Richtung, die er meiner Meinung nach eingeschlagen haben könnte.

Der Weg war lang, und es war nicht sehr hell, doch mir war so, als ob sich vor mir etwas bewegte. Ich rannte weiter und rief seinen Namen, aber es hatte keinen Zweck. Als ich das Ende des Weges erreichte, zweigten da mehrere andere Pfade zu verschiedenen Gartenhäusern ab. Ich blieb unschlüssig stehen, und da hörte ich deutlich das Geräusch einer sich schließenden Tür. Es kam nicht von hinten aus dem Haus, sondern irgendwo aus der Dunkelheit vor mir. Das genügte, Mr. Holmes, um mich davon zu überzeugen, daß das, was ich gesehen hatte, keine Vision war. Godfrey war vor mir weggelaufen und hatte eine Tür hinter sich zugemacht. Dessen war ich mir sicher.

Mehr konnte ich nicht tun, und ich verbrachte eine unruhige Nacht, wobei ich mir die Sache durch den Kopf gehen ließ und versuchte, eine zu den Tatsachen passende Theorie zu finden. Am nächsten Tag kam mir der Colonel etwas versöhnlicher vor, und als seine Frau die Bemerkung machte, daß es in der Umgebung einige Sehenswürdigkeiten gebe, nutzte ich die Gelegenheit zu fragen, ob ihnen eine weitere Übernachtung sehr ungelegen käme. Die etwas widerwillige Zustimmung des Alten gewährte mir einen ganzen Tag, an dem ich meine Beobachtungen machen konnte. Ich war schon völlig davon überzeugt, daß sich Godfrey irgendwo in der Nähe versteckt hielt; aber wo und warum blieb noch herauszufinden.

Das Haus ist so groß und weitläufig, daß man darin ein Regiment verstecken könnte, ohne daß jemand was merkt. Wenn sich dort das Geheimnis verbarg, würde es mir schwerfallen, es zu ergründen. Aber die Tür, die ich zugehen gehört hatte, befand sich mit Sicherheit nicht im Haus. Ich mußte also den Garten auskundschaften und sehen, was ich herausfinden konnte. Das war ohne weiteres möglich; die alten Leutchen waren nämlich mit sich selbst beschäftigt und kümmerten sich nicht um mich.

Es gibt mehrere kleine Nebengebäude, aber am Gartenende befindet sich ein einzelnes, ziemlich großes – groß genug, um einem Gärtner oder Wildheger als Wohnung zu dienen. War das vielleicht die Stelle, von der das Geräusch der zugehenden Tür gekommen war? Ich ging so unbekümmert darauf zu, als ob ich ziellos im Gelände herumspazierte. Als ich mich näherte, kam ein kleiner, lebhafter, bärtiger Mann heraus, in einem schwarzen Mantel und mit einer Melone auf dem Kopf – ganz und gar nicht der Typ eines Gärtners. Zu meiner Überraschung schloß er die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel ein. Dann schaute er mich ziemlich verblüfft an.

›Sind Sie hier zu Besuch?‹ fragte er.

Ich bejahte und erklärte, ich sei ein Freund von Godfrey.

›Wie schade, daß er verreist ist; er hätte sich nämlich bestimmt gefreut, mich zu sehen‹, fuhr ich fort.

›Ja doch. Ganz bestimmt‹, sagte er mit einer etwas schuldbewußten Miene. ›Aber Ihr Besuch läßt sich zweifellos zu einem günstigeren Zeitpunkt wiederholen.‹ Er ging weiter, doch als ich mich umdrehte, bemerkte ich, daß er am anderen Ende des Gartens, halb verdeckt von den Lorbeerbüschen, stehenblieb und mich beobachtete.

Als ich an dem kleinen Haus vorbeikam, schaute ich es mir gut an; die Fenster waren mit schweren Gardinen verhängt, und soweit man etwas erkennen konnte, war es leer. Womöglich würde ich mir mein eigenes Spiel verderben und sogar aus dem Haus gewiesen werden, wenn ich allzu keck vorginge; denn ich war mir bewußt, daß ich immer noch beobachtet wurde. Ich schlenderte also zum Haus zurück und wartete die Nacht ab, ehe ich meine Untersuchungen fortsetzte. Als alles dunkel und still war, schlüpfte ich aus meinem Fenster und begab mich so leise wie möglich zu dem mysteriösen Gartenhäuschen.

Ich habe schon erwähnt, daß die Fenster mit schweren Gardinen verhängt waren, aber nun waren auch noch die Läden geschlossen. Durch einen drang jedoch etwas Licht, daher konzentrierte ich mich auf dieses Fenster. Ich hatte Glück; die Gardine war nämlich nicht ganz zugezogen, und der Laden hatte eine Ritze, so daß ich ins Zimmer hineinsehen konnte. Es war eine recht freundliche Unterkunft, mit heller Lampe und flackerndem Kaminfeuer. Mir gegenüber saß der kleine Mann, den ich morgens getroffen hatte. Er rauchte Pfeife und las eine Zeitung ...«

0,99 €
Genres und Tags
Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
351 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783955012410
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Mit diesem Buch lesen Leute

Andere Bücher des Autors