Der Kurator, Band 3

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Der Kurator, Band 3
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Der Kurator

von

Arno Wulf

Band 3: Saphir

Der Kurator

Band 3: Saphir

Copyright: ©2014 Arno Wulf

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-2251-9

Image - Small Magellanic Cloud - Front Cover: Copyright©Australian Astronomical Observatory/David Malin

Inhaltsverzeichnis

3 Saphir Knuds Heimatwelt Caeleon II Admiral Worssorrgh Die Mission Kratermeer Landeanflug Naroda Zum funkelnden Juwel Zusammenbruch Das geheime Treffen Erkenntnisse Ein neuer Morgen Metro Die Katarakte von Duhmgor Eine unerwartete Schiffsreise Insel Endlich zu Hause Ein romantisches Mahl Nächtliche Überlegungen Zukunftsaussichten Inselrundgang Entspannen Schatten aus der Vergangenheit Erinnerungen II: Ismael Unterredung Die Geheimprotokolle der Mission Warendula Darfur Througwun Schlussfolgerungen I Schlussfolgerungen II Ernährung der Welt Reinkarnation Nachfrage Wiedergeburt Jonathan Die Promenade von Duhmgor Namen

Teil 3
Knuds Heimatwelt

Caeleon II

Knud und Mouad wurden erst nach einigen Minuten durch das nervtötende Summen des Intercoms geweckt. Der Professor, der schon ungeduldig vor dem Quartierzugang wartete, fragte in etwas ungehaltenem Tonfall, ob sie denn nicht auch dem Anflug auf Caeleon II beiwohnen wollten.

Mouad schnellte hoch. Dabei stieß er Knud ungewollt aus dem Bett. Dieser hatte sich von den vergangenen 50 Stunden ununterbrochener Wachzeit immer noch nicht vollständig erholt.

„Was ist denn nun schon wieder los?”, wollte Mouad, etwas verwirrt, wissen. Noch schlaftrunken übersah er einen Suspensorensessel. Aber bevor Mouad auf dem Boden aufschlug, wurde sein Sturz schlagartig von zwei kräftigen Armen abgebremst. Sein Freund hob ihn ohne sichtbare Anstrengung, fast wie eine Feder, empor und setzte ihn auf die Bettkante. Erst jetzt spürte Mouad, wie ungeheuer kräftig sein Mann war. Er dachte daran zurück, wie Knud ihm direkt nach der Flucht an Bord des Schiffes eröffnet hatte, welche körperliche Schwerstarbeit er zu leisten hatte, um Mouad zu säubern, nachdem dieser erschöpft zusammengebrochen war. Aber hatte er sich wirklich dabei so verausgabt, wie er behauptet hatte? Erneut eines der so zahlreichen Rätsel, die Knud umgaben.

,Jetzt begreife ich auch, warum er Kanei mühelos überwältigen konnte; er scheint fast eine perfekte Kampfmaschine zu sein’, stellte er zugleich beeindruckt und etwas entsetzt fest, während er respektvoll seinen durchtrainierten Freund betrachtete.

Der schien seine Gedanken zu erraten.

„Ich bin durchaus in der Lage, dich zu verteidigen, falls du in Schwierigkeiten geraten solltest. Aber ich denke, das wird in der Föderation niemals nötig sein, sondern eher auf deiner Heimatwelt, wenn wir uns dazu entschließen sollten, dorthin irgendwann einmal zurückzukehren.”

Er schmunzelte über Mouads verblüfften Gesichtsausdruck. Dann fuhr er fort:

„Heute habe ich noch eine besondere Verpflichtung zu erfüllen: Ich muss dieses Schiff Admiral Worssorrgh übergeben. Die Tradition gebietet es, dass ich, dem Anlass entsprechend, zurechtgemacht werde. Ich befürchte nur, dass mein Aufenthalt auf der Erde meine Figur nicht positiv beeinflusst hat; ich habe etwas zugenommen. Würdet ihr mir bitte helfen, mich in dieses steife, formale Kleidungsstück hineinzuzwängen?”

Seine Freunde nickten. Denn sie wollten so schnell wie möglich der Annäherungssequenz beiwohnen.

Wie befürchtet, konnte Knud die Galauniform nur unter kräftigem Zerren und Straffen des Stoffes und mit tatkräftiger Hilfe Fatimas, die an der Seite des Professors das störrische Kleidungsstück zu bändigen versuchte, überstreifen. Der Uniformstoff war purpurrot, mit goldenen Litzen verziert und synthetischen Diamanten an den Kragenspiegeln besetzt, dazu spannten altmodische silberne Knöpfe über Knuds muskulöser Brust.

Knud verfluchte dabei innerlich formale Ereignisse und war ziemlich ungehalten über den Gedanken, dass diese ganze Verkleidung nur dem einen Zweck diente: Dass Astrid, Youness und er nämlich in weniger als zwei Stunden das Kommando an Admiral Worssorrgh, seine Führungsoffiziere und deren neuer Mannschaft in einer formalen Zeremonie abzugeben hatten.

Aber auf der anderen Seite - und diese Überlegung dämpfte seinen aufkommenden Frust - hatte sich die jetzige Besatzung ihren Urlaub, auch wenn die meisten sich um die terranischen Flüchtlinge zu kümmern hatten, nach mehr als vier Jahren Dauereinsatz redlich verdient.

Knud wechselte erneut seinen Gedangengang: ,Wer sich diese steife, an eine Operettenaufführung erinnernde Paradeuniform für die menschlichen Führungsoffiziere bloß ausgedacht hatte!’ Dies war Knud bis zum jetzigen Zeitpunkt verborgen geblieben, da er es stets vermied, dieses unbequeme Schaustück menschlicher Eitelkeit überzustreifen.

Aber Admiral Worssorrgh war als ein durch und durch penibler Formalist verschrien. Er hatte sich in der Vergangenheit stets geweigert, einen Kommandoposten anzutreten, wenn die Übergabe nicht ohne würdevolles, offizielles Zeremoniell über die Bühne ging.

Endlich hatte sich Knud in die Galauniform gezwängt. Im Stechschritt verließ er seine Kabine - eine andere Gangart ließ die Hose einfach nicht zu. Dabei konnten es sich weder Fatima, der Professor, Elias und Mouad verkneifen, diesen eitel wirkenden Auftritt mit ironisch-bissigen Kommentaren zu begleiten. Als ihm auch noch Mahmoud, Ajaz, Yossi, Saleh und Aaron sowie wenig später Mary, Can, Davin und Xsochegar entgegenkamen, in prustendes Gelächter ausbrachen und irgend etwas von verschnürtem Pfau murmelten, begriff er, wie dämlich er wohl daherkam. Er machte kehrt, eilte so rasch er konnte in sein Quartier zurück und kam einige Minuten später in der üblichen dunkelblauen, an irdische Outdoor-Freizeitkleidung erinnernde Borduniform zurück. Er hatte die Galabekleidung in eine altmodische, irdische Ledertasche hineingestopft, die er von nun an mit sich führte. Und er war entschlossen, sich erst kurz vor der Zeremonie in diese schrecklich unbequeme Hülle hineinzuzwängen.

Al-gaddatu und die vier anderen Syrer grinsten ihn zudem etwas belustigt an.

Knud mumpfte etwas von formalen Verpflichtungen und Empfängen, aber man sah, dass er sich so eingekleidet viel wohler fühlte. Außerdem merkte er zum ersten mal selbst, wie viel muskulöser und durchtrainierter er auf der Erde geworden war. Seine sportlichen Aktivitäten wie Laufen, Wandern und Joggen, die er schon Jahre, bevor er Mouad kennen lernte, absolvierte, hatten seinen Bein-, Arm- und Brustumfang deutlich anwachsen lassen.

Endlich erreichten sie das Restaurant. Es glich nun einem riesigen Versammlungsraum: Tausende von Besatzungsmitgliedern blickten erwartungsvoll in die diamantenbesetzte, samtene Schwärze des Alls. Sie näherten sich dem Herz der Kleinen Magellanschen Wolke. Unzählige bläuliche, gelbliche und rötliche Sterne funkelten vor ihnen, deren Dichte je Kubikparsec hier viel größer war als in einem gleich großen Raumbereich um die Erde. Das Raumschiff beschrieb eine sanfte Linkskurve und hielt auf einen zunächst winzigen orange, weiß, braun, und bläulich gestreiften Gasplaneten zu. Dieser wurde allmählich größer.

Hinter dem Gasriesen konnten sie, grünblau leuchtend, abgesetzt gegen die Schwärze des Alls, eine merkwürdige bandförmige Struktur erkennen, die sich scheinbar grenzenlos rechts und links in der Unendlichkeit verlor. Mouad schaute das fremdartige Objekt besonders fasziniert und zugleich verwirrt an.

,Das kann doch nicht wahr sein’, schoss es ihm durch den Kopf. Aber er war nicht im Stande, diese Anlage näher zu benennen. Er hatte lediglich das Gefühl, irgendwo, in einem phantastischen Roman, über diese Bauwerke bereits etwas gelesen zu haben.

 

Schließlich verdeckte der ins scheinbar Unermessliche wachsende Himmelskörper diese rätselhafte Erscheinung vor ihnen vollständig. Ausgedehnte Wirbelstürme, Flecken, mäanderförmige Wolkenstraßen und aufschießende Cumulonimbustürme, die von Blitzen gekrönt waren, füllten fast die gesamte ausgedehnte Fensterfront des Raumes aus, in dem sie sich befanden. Am rechten Rand dieser Welt tauchten plötzlich zwei gigantische braunrote Sturmspiralen auf, die allmählich immer weiter ins Zentrum des Panoramas wanderten. Aber ob deren scheinbare rasche Positionsänderung von der Bewegung des Raumschiffes relativ zur Planetenoberfläche oder durch die rasche Rotation der Gaswelt selbst verursacht wurde, ließ sich von ihrer augenblicklichen Perspektive nicht ausmachen. Jede von ihnen besaß auf jeden Fall den mehrfachen Erddurchmesser. Und immer wieder zuckten tausende von Kilometern lange elektrische Entladungen durch die unterschiedlich strukturierten Wolkenschichten, aus denen die Randbereiche der Zyklone aufgebaut waren. Dadurch war es dem Betrachter möglich, die räumliche Ausdehnung dieser kolossalen Wirbelstürme zumindest grob abzuschätzen.

Knuds Freunde starrten wie gelähmt auf das Schauspiel, das sich ihnen bot: Immer wieder wurden kochende Wolkenmonster in die beiden unersättlichen Mäuler gesogen, die rasch den Widerstand der aufquellenden Cumulonimbusgebirge brachen und sie in Stücke zerfetzten. Reste dieser Strukturen wurden in Spiralbahnen in tiefere Schichten der Atmosphäre hinabgesaugt, in denen sich die letzten Wolkenfragmente endgültig auflösten.

Als das Schiff auf die Nachtseite der Welt einschwenkte, erstrahlten prächtige Auroren über den magnetischen Polen. Ähnlich dem irdischen Nord- bzw. Südlicht sah man flirrende Lichterscheinungen in Blau, Türkis, Rot, Gelb und Violett, wo Teile des Partikelstroms, der von der Sonne dieses Systems - Caeleon - erzeugt wurde, in die Hochatmosphäre des Planeten gelangten und dort die Gasmoleküle zum Leuchten anregten.

Eine Woge aus ,Ooohs’ und ,Aaahs’ der Entzückung, Faszination und Überwältigung kam aus unzähligen Kehlen, Sprechwerkzeugen und Schallorganen der Föderationisten, die andächtig das Schauspiel beobachteten.

Knuds Freunde jedoch wurden zunehmend nervös, je gewaltiger diese unwirtliche Welt vor ihnen aufragte.

„Dort sollen wir landen?”, stieß der Professor entsetzt hervor und störte damit die Stille, die den Raum erfüllte und mit den Händen greifbar zu sein schien.

„Schschscht” und „pssssst” war von den Umstehenden zu hören. Auch Knud legte den Finger auf seinen Mund und bedeutete so, dass Wahid schweigen möge.

„Dies ist Caeleon II. Wir haben beinahe das Ziel unserer Reise erreicht”, flüsterte Knud ihm ins Ohr.

„Natürlich können wir auf dieser Welt nicht leben. Das wäre so, als wenn man versuchen wollte, in eurem Sonnensystem auf dem Jupiter ein gemütliches Plätzchen zu finden, was natürlich, wie auf jedem Gasriesen, völlig unmöglich ist. Dieser hier hat zudem etwa achtmal mehr Masse als der größte Planet des Sol-Systems bei etwa doppeltem Durchmesser. Aber hab’ doch Geduld und genieße doch einfach das faszinierende Schauspiel.”

Knud spürte jedoch, wie die Terraner von Minute zu Minute immer nervöser wurden. An den angsterfüllten Gesichtern merkte er, dass dieser scheinbar in die Katastrophe führende Anflug sie bis an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit führte.

Knud wandte daher seine Aufmerksamkeit von dem kochenden Gasriesen ab und beruhigte erneut seine Freunde.

Er ging leise zwischen ihnen hindurch und legte mehrfach seine Hände auf ihre Schultern. Immer wieder erklärte er ihnen im Flüsterton, dass sie nichts zu befürchten hätten.

Schließlich ergriff er die Hände von Ajaz und Saleh und gab ihnen dadurch zu verstehen, dass kein Unheil drohte. Er hieß sie, auch die anderen Freunde auf diese Weise zu berühren. Schließlich standen sie in einer Reihe Hand in Hand da und bestaunten das kolossale Schauspiel, dem sie beiwohnten.

Wahid dachte dennoch unwillkürlich: ,Werden wir in selbstmörderischer Absicht auf diesen Planeten stürzen und von dem mörderischen Atmosphärendruck zerquetscht?’

Das Raumschiff schien ins Bodenlose zu fallen. Immer gigantischer, immer furchteinflößender türmte sich diese riesige, tobende, chaotische Wolkenwand vor ihnen auf. Selbst einzelne Wolkenreste, an ihren Rändern durch die gewaltigen Stürme zerfasert, tauchten vor ihnen auf. Die Orkane selbst wiesen Windgeschwindigkeiten bis zu 2 000 Kilometer pro Stunde auf; jeder irdische Tornado und jeder Hurrikan wirkte im Vergleich dazu nur wie eine sanfte Brise.

Yossi und Aaron hatten zudem den Eindruck, jeden Moment in den Wolkencocktail einzutauchen; denn wenn man schon so detailreiche Einzelheiten ausmachen konnte, sollte es bis zur Atmosphärenobergrenze nicht mehr weit sein.

Ihre Verzweiflung und Angst nahm immer mehr zu. In Todesfurcht wandten sich die beiden Iraner ab und begannen vor Entsetzen ihr Gesicht in den Händen zu verbergen bis...

Ja - bis Saleh, Davin und Assiz plötzlich ein winziges, blaues, wie ein Saphir funkelndes Pünktchen, das oberhalb der Atmosphärenhülle erschien, entdeckten. Es wurde rasch größer.

Bald gab es keinen Zweifel mehr: Ein Planet, bedeckt mit Ozeanen, Kontinenten, Vegetation und Wüsten tauchte vor ihnen auf. Und endlich konnte man an Hand des Planetendurchmessers Rückschlüsse auf die Größe der Wolkenfetzen auf Caeleon II ziehen: Sie mussten die mehrfache Größe von irdischen Landmassen kontinentaler Ausdehnung haben.

Knud stellte erleichtert fest, wie die Anspannung aus den Gesichtern seiner Freunde verschwand und einer gewissen Faszination Platz machte. Auch die anderen Betrachter des planetaren Infernos, das auf dem Gasriesen tobte, begannen sich wieder leise zu unterhalten. Langsam zerstreute sich die Menge.

„Du hättest uns vielleicht vorwarnen sollen, auf was für ein Wechselbad der Gefühle wir uns gefasst machen mussten. Das war ja atemberaubend und besser als jede Achterbahnfahrt mit Riesenloopings”, meinte Aaron, der als einziger während der ganzen Zeit des Anflugs den Blick nicht abgewandt hatte. Er warf Knud einen vorwurfsvollen Blick zu und führte seine Augen in Richtung auf die beiden iranischen Jungen sowie Saleh, die immer noch kreidebleich dastanden und sich auf den Boden gesetzt hatten, die Hände vor den Augen verschränkt, um die scheinbare Katastrophe nicht mit ansehen zu müssen. Erst durch gemeinsames gutes Zureden von Mary und Fatima erhoben sie sich und wagten es, wieder aus dem Fenster zu blicken.

„Dies ist meine Heimatwelt, der Saphir, Sitz der Zentralregierung der Föderation und des Galaktischen- bzw. Föderalen Rates”, erklärte Knud feierlich und mit einem Leuchten in seinen Augen. „In etwa 48 Stunden werdet ihr bei mir zu Hause sein.”

Der obere Teil des Planeten im Bereich des Nordpols war von ausgedehnten Eismassen bedeckt, die offensichtlich ringsherum von hohen Gebirgsketten umschlossen waren. Südlich dieser geologischen Formation lag ein sehr auffälliger See, dessen kreisrunde Form an einen mächtigen Asteroideneinschlagkrater erinnerte. Von hier aus konnte man, da diese Struktur bereits in der Dämmerungszone der Tag-Nacht Grenze lag, die Feuerfontänen und Rauchwolken eines tätigen Vulkans erkennen, der sich in der Mitte des Binnenmeeres erhob. Unterhalb des Sees waren weite Wüstenregionen auszumachen, durch die sich eine grüne Flussoase schlängelte, die schließlich knapp nördlich des Äquators in einem Ozean endete.

Schließlich schwenkte das Raumschiff in eine äquatornahe Umlaufbahn ein, die etwa 2 000 Kilometer über der Oberfläche lag. Von hier aus konnte man auch die untere Hälfte des Planeten in Augenschein nehmen.

Im Gegensatz zur nördlichen bildete die südliche Hemisphäre nur eine einzige Wasserwüste. Auf ihr gab es nur einen, an ein Trapez erinnernden Kontinent. Dessen Inneres wurde von einem Hochplateau beherrscht, das von mächtigen Gebirgsketten, die von Vulkanen bekrönt wurden, umschlossen war. Beide Kontinentalmassen waren über eine, durch verschieden breite Meeresstraßen unterbrochene, Inselkette verbunden. Diese war offenbar ebenfalls vulkanischen Ursprungs, wie einige Rauchsäulen tätiger Feuerberge verrieten.

Mouad sah seinem Freund in die Augen. Er spürte, wie Knud sich sehr zusammennehmen musste, um vor Freude, Rührung und Erleichterung nicht die Fassung zu verlieren.

„Dieser Anblick des Saphirs ist jedes Mal einfach nur wunderschön, die absolute Erleichterung, nachdem man den aufwühlenden Anflug hinter sich gebracht hat”, flüsterte er.

Auch Mary und Youness standen dicht davor, von Gefühlen überwältigt zu werden.

„Dies wird für alle Zeiten meine Heimat sein...”, flüsterte Knud.

Admiral Worssorrgh

Knud wurde reichlich unsanft aus seinen Erinnerungen gerissen.

„Wie läufst du denn hier herum?”, zischte Astrid ihm plötzlich etwas erbost hinter seinem Rücken zu, während sie den vollkommen aufgewühlten Saleh vor sich her schob, der das planetare Schauspiel und den Anblick der fremdartigen Besatzungsmitglieder immer noch nicht verkraftet hatte.

„Worssorrgh kommt in wenigen Augenblicken an Bord. Zieh dir gefälligst die offizielle Uniform an, bevor du ihm unter die Augen trittst.”

„Sie passt mir nicht mehr und ich kann mich obendrein kaum in ihr fortbewegen, da ich zu viel Sport auf der Erde getrieben habe.”

Fatima mischte sich ein:

„Astrid, dein Bruder sieht unmöglich darin aus, als wenn der Stoff jeden Moment platzen würde.”

„Könnt ihr nicht einfach sagen, dass Knud es geschafft hat, innerhalb weniger Stunden einige tausend Erdlinge auf die neue Umgebung vorzubereiten und er noch dabei ist, die letzten Zweifler unter ihnen über ihre neue Lage zu informieren?”, schlug Yossi vor.

Youness und Astrid überlegten.

„Das dürfte sich machen lassen”, bemerkte Astrid nach geraumer Zeit und immer noch mit einigem Zögern in ihrer Stimme.

„Dann los! Weg mit euch allen, damit sich keiner verplappert, wenn der Admiral hier auftaucht! Ich denke, es ist am sinnvollsten, wenn ihr alle im Quartier von Stephanie Kaba verschwindet. Da wird er euch wohl als letztes vermuten.”

„Danke, Schwester. Und obendrein wird mit völliger Sicherheit dir die Aufgabe zufallen, das Schiff kommandotechnisch zu übergeben und die Sicherheit aller Föderationisten beim Verlassen des Schiffes zu gewährleisten.”

Astrid nickte ihm kurz zu und fauchte ihn barsch an:

„Seht zu, dass ihr endlich Land gewinnt.”

Während sie sich auf den Weg machten, wandten sich Fatima und Mary Saleh und Kanei zu, die mit der fantastischen neuen Perspektive noch stets nicht umzugehen wussten. Kaneis undurchdringliche Mauer, die er als Kindersoldat aufgebaut, mit der er versucht hatte, seine inneren Gefühle zu isolieren und die sein bisheriges Handeln und Tun bestimmte, war nämlich zu nutzlosen Trümmern zerfallen. Bei Saleh war es wohl auch zum Teil Erleichterung, seiner völlig ausweglosen Situation endlich entkommen zu sein. Die syrischen Flüchtlinge hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits sehr gut an die neue Lage adaptiert: Sie waren nämlich vollends von der föderalen Welt begeistert.

Und so kam es, dass Knud und alle seine Freunde nur über Videobilder an der pompösen Zeremonie teilnahmen, die mit der Schiffsübergabe verbunden war -wobei Fanfarenstöße, Reden und Haltung annehmende Besatzungsmitglieder einander abwechselten. Er sah es an den Gesichtern der Teilnehmer dieses Theaters und spürte zugleich an ihrem nicht vorhandenen Engagement, wie lustlos alle an diesem alten Zopf mitwirkten. Vollkommen überrascht stellte er fest, dass selbst Worssorrgh diesmal offensichtlich wenig Freude an dem ganzen Firlefanz hatte. Er schien sogar durch irgendetwas betrübt zu sein.

,Sei’s drum. Ich habe jetzt keine Zeit dafür’, dachte Knud und wandte sich einer Auswahl der Wissenschaftler zu, die dieses für sie ungewohnte Schauspiel verfolgten, während er Kanei zu Stephanie schob, damit er sich bei ihr für sein brutales Verhalten entschuldigte. Er stellte schon bald zu seiner Beruhigung fest, dass sich die beiden bereits nach kurzer Zeit angeregt unterhielten.

Knud schaltete die Übertragung ab und begann ohne weitere Verzögerung an Hand einer Liste, die ihm Stephanie Kaba eingereicht hatte, die ersten Naturwissenschaftler zu befragen. Er stellte im Verlauf der Kurzgespräche fest, dass unter diesen Menschen zahllose absolut unvoreingenommene Köpfe waren, die brillant und vollkommen logisch denken konnten.

Viele der von den Wissenschaftlern verfolgten Ansätze über nachhaltige landwirtschaftliche Nutzung der tropischen Böden zur Rettung von Regenwäldern waren durchaus beeindruckend. Maßnahmen zur schonenden Selektion von Pflanzen zur Verbesserung des Ertrages sowie rücksichtsvoller Umgang mit tropischen Hölzern zählten ebenfalls zu den Forschungsaktivitäten der Institute.

 

Besonders faszinierte ihn eine Kenianerin, die sich ihr ganzes Leben mit der botanischen Vielfalt der afrikanischen Lebensräume beschäftigt hatte. Ihre Kenntnisse über Pflanzengemeinschaften im Zusammenhang mit den davon abhängigen Tieren waren genial.

Knud erfasste rasch, dass diese Forscher insgesamt ein ungeheures Wissen angehäuft hatten, das aber den wissenschaftlichen Mainstream auf der Erde in keiner Weise interessiert hatte. Auch die Virologen hatten einen Schatz an Daten in Bezug zu seltenen Tropenkrankheiten angehäuft, die man gewissermaßen als das Immunsystem des Planeten ansehen konnte: Einmal freigesetzt, besaßen diese Erreger die Fähigkeit, die gesamte Menschheit in kürzester Zeit fast vollständig zu eliminieren.

Von anderen Beratern, die sich bereits seit mehreren Stunden um die Afrikaner gekümmert hatten, liefen überdies Berichte über viele weitere verborgene Talente bei Knud ein. So hatten drei Physiker aus Nigeria, obwohl sie nur spärlichen Kontakt zur so genannten westlichen wissenschaftlichen Welt hatten, bemerkenswerte Kalkulationen über die Natur der Dunklen Materie im Kosmos erstellt. Ihre mathematische Brillanz übertraf manche Leistungen anderer Kollegen in den Industrieländern, die ihre Erkenntnisse nur der experimentellen Mithilfe von sündhaft teuren Synchrotonen bei CERN zu verdanken hatten.

Und immer wieder wurde er nach seiner Aufgabe befragt, was er auf der Erde untersucht hatte, warum die Föderation gerade gegenüber den Armen der Welt ein besonderes Interesse an deren Schicksal hatte.

„Sie müssen unser Engagement auf ihrer Heimatwelt nach einer möglichen Eroberung, um eine Selbstzerstörung abzuwenden, unter diesem Aspekt sehen: Die Mittellosen auf der Erde sind in den meisten Fällen, insbesondere in jungen Jahren, viel besser formbar als die reichen, gesättigten Menschen in den Industriestaaten. Die nämlich sind von der bestehenden industriell geprägten Lebensweise bereits so weit negativ beeinflusst, dass ein Wechsel zu einer anderen Technologiestruktur und -kultur mit unglaublichen Schwierigkeiten verbunden sein wird.”

Knud musste zudem immer wieder auf’s Neue versichern, dass es keinesfalls im Interesse der Föderation lag, die Erde als neues Kolonisationsgebiet aufzufassen, das man ausplündern wollte:

„In diesem Gemeinwesen hat es niemals Sklaverei gegeben. Und dass dunkelhäutige Menschentypen nur auf Grund ihrer Hautfarbe als minderwertig angesehen werden, ist in diesem Staat undenkbar. Denn wenn wir uns wie die weißen oder arabischen Ausbeuter des afrikanischen Kontinents verhalten hätten, würden wir mit Sicherheit nicht mit tausenden anderer Rassen friedlich und respektvoll zusammenleben. Die physiologischen und psychologischen Unterschiede zwischen uns Menschen und den anderen Rassen sind zudem um ein Vielfaches größer als die zwischen Menschen verschiedener Pigmentierung auf der Erde.”

Mit diesen Ausführungen erntete Knud sehr viel Lob und Zuspruch. Aber er war Realist genug, dass ein zentraler Aspekt absolut im Vordergrund stand. Und er wurde nicht müde, ihn besonders zu betonen:

„Ich weise auch gleichzeitig darauf hin, dass bis zur erfolgreichen Erziehung der Erdbevölkerung zu mehr Rücksichtnahme auf andere Geschöpfe, zu friedlichem Miteinander und zum Abbau von Vorurteilen möglicherweise Jahrhunderte vergehen werden. Ich bin mir ganz sicher, dass Ihnen diese Aussicht auf die terranische Zukunft schwer im Magen liegen dürfte. Aber ich bin kein irdischer Politiker, der seine Gesprächspartner ständig anzulügen pflegt. Dieser Zeitrahmen ist vermutlich halbwegs realistisch, auch wenn in Ihnen möglicherweise historisch begründbare Sorgen aufkommen dürften. Denn die Sklaverei der afrikanischen Bevölkerung durch Kolonialherren aller Art hat ebenfalls über Jahrhunderte stattgefunden. Die negativen Assoziationen, die sich im Zusammenhang mit meinem auf circa 500 Jahre gesteckten Zeitraum ergeben könnten, sind daher für mich völlig nachvollziehbar.”

Besondere Beachtung fanden auch Knuds sehr liberale Ansichten im Zusammenhang mit Ehe, Familie, Sexualität und Rolle von Mann und Frau. Viele der Wissenschaftler bestürmten auch Knuds Freunde mit Fragen, was sie erlebt hatten, wie die Kundschafter der Föderation sich gegenüber ihnen verhalten hatten. Und auch der Professor musste Rede und Antwort stehen. Er wurde geradezu ausgequetscht, als manche Teilnehmer von seiner - für irdische Verhältnisse - bahnbrechenden Entdeckung hörten.

„Daher, liebe Freunde, nur Mut, was die vor euch liegende Zukunft im Bereich Wissenschaft und Forschung angeht. Auch ich stamme nämlich aus einem politisch zerrissenen Entwicklungsland und habe es geschafft, eine außergewöhnliche Theorie zu entwickeln, die weit über die Leistungen vieler Wissenschaftler aus den Industrieländern hinausgeht. Trotz aller ihrer phantastischen finanziellen Mittel gehört nämlich immer noch ein gehöriges Maß an Begeisterungsfähigkeit, Pioniergeist und Kreativität dazu, um Andere zu überflügeln.

Überdies hatte ich nur sehr geringen Kontakt zu anderen Forschern. Im Gegenteil: Ich wurde von anderen Physikern mitleidig belächelt und als Spinner abgetan, der sich eher um das Fantasy-Genre kümmern sollte als um wissenschaftliche Forschung. Und trotzdem, so haben mir viele der hier anwesenden Forscher versichert, ist die von mir entwickelte Theorie einer der uralten technologischen Eckpfeiler interstellaren Reisens. Wenn auf der Erde irgendjemand im Stande gewesen wäre, die Bedeutung dieser Entdeckung hinreichend zu erfassen und zu würdigen, wäre mir ein Nobelpreis absolut sicher gewesen.”

Allmählich gewannen Knud und seine Freunde mehr und mehr den Eindruck, dass die Menschen, die sie betreuten, endlich wieder mehr Lebensmut fassten. Sichtlich erleichtert bedankten sich viele bei ihnen.

Endlich war es so weit: Nach zahllosen Stunden intensiver Befragungen wandte er sich, wenn auch ziemlich erschöpft, in einer Videobotschaft an die Neubürger der Föderation und überraschte viele damit, wie gut er sich in der kurzen Zeit in die doch sehr variationsreiche und komplexe Materie zumindest oberflächlich eingearbeitet hatte. Vieles von dem, was er gehört hatte beziehungsweise ihm zugetragen worden war, konnte er in die aktuelle Forschungslandschaft einordnen. Es kam sogar so weit, dass er schon wusste, in welche Wissenschaftler- und Expeditionsgruppen er die Menschen auf Grund ihrer spezifischen Kenntnisse jeweils einzuordnen hatte.

Schließlich nahm Knud Kontakt mit dem Leiter der Tarmora Universität auf und übermittelte ihm die Daten der Neuzugänge. Ganz unvorbereitet traf es die Universitätsleitung nicht, denn bei jeder früheren Expedition zur Erde waren Flüchtlinge mit zurückgekommen. Dass es diesmal so viele waren, war jedoch zumindest ungewöhnlich.

Knud spürte rasch an den Mienen der neuen zukünftigen Studenten, dass sie sich aufrichtig freuten, endlich eine neue Lebensperspektive vor sich zu haben. Bereits kurze Zeit später verließen die ersten Gruppen das Schiff und wurden mit Fähren zur Planetenoberfläche transportiert. Knud ließ es sich dabei nicht nehmen, viele der ehemaligen Kundschafter auf der Erde persönlich mit Handschlag oder Umarmungen zu verabschieden. Ebenso herzlich wurden viele der Flüchtlinge von ihm in eine neue Zukunft entlassen. Dabei musste er immer wieder seinen Standort wechseln, da der Abflug von verschiedenen Startbereichen der Intrepid stattfand.

Nachdem der letzte Terraner und die Nachhut der Besatzungsmitglieder das Schiff verlassen hatte, setzte sich Knud ermattet in einem der Hangare auf den Boden. Er war müde und fühlte sich ausgebrannt, während er noch auf seine Schwester und den restlichen Führungsstab wartete, die mit ihm auf den Planeten zurückkehren würden. Alle persönlichen Gegenstände von ihm und seinen Freunden waren inzwischen ebenfalls von Bord geschafft worden.

,Wie auf irdischen Schiffen’, dachte Mouad über Knuds Verhalten: ,Der Kapitän geht als letzter von Bord.’

Endlich erblickte er seine Schwester; Youness dicht hinter ihr. Und - ein Anflug von Unwohlsein überkam ihn - Worssorrgh folgte ihnen.

„Seien Sie gegrüßt, Admiral”, begrüßte Knud ihn förmlich. Seine Abneigung gegenüber ihm war deutlich zu spüren.

„Darf ich sie kurz unter vier Augen sprechen, wie das so schön bei Ihren Freunden auf der Erde heißt?”

Der Xyrchh schlängelte neben Knud über den Boden. Dabei erzeugte er ein leicht schabendes Geräusch, das durch die verhornten Gliedersegmente entstand, als diese über den hitzebeständigen Belag glitten.

Als sie schließlich einige Meter entfernt standen, ergriff Worssorrgh erneut das Wort:

„Ich weiß, dass ich als Formalist verschrien bin und ich in der Vergangenheit viel Wert auf protokollarisch korrekte Begrüßungen und Schiffsübergaben gelegt habe. Sie hätten mich trotzdem willkommen heißen können: Es ist immer noch besser, ohne Gardeuniform mir gutes Gelingen zu wünschen, als sich hier scheinbar klammheimlich zu verdrücken, um mich nicht sehen zu müssen.”

Knud wollte protestieren und etwas entgegnen, aber durch ein knackendes Geräusch in Worssorrghs Heimatsprache, die Knud sich über viele Jahre angeeignet hatte, gab er ihm zu verstehen, ihn ausreden zu lassen.

„Ich habe in der Vergangenheit bereits des Öfteren Berichte über das gelesen, was Sie auf der Erde geleistet haben; wie Sie Probleme auf diesem politischen Minenfeld in den vergangenen Jahren gelöst und was Sie darüber hinaus für diesen Staat erreicht haben. Ich rechne Ihnen auch hoch an, dass Sie sich ausgesprochen gefühl- und verständnisvoll in der Vergangenheit für die Belange vielerlei Lebewesen, egal welcher Rasse diese angehörten, einsetzten. Sie gehen dabei auf eine viel informellere Art, als ich das je konnte, an die Schwierigkeiten heran und lösen sie dabei trotzdem überaus effektiv, um nicht zu sagen elegant.