Der Kurator, Band 3

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Kratermeer

Landeanflug

Der Zyklop nahm Fahrt auf. Die Wände des Hangars glitten immer schneller und schneller an ihnen vorbei. Sie stürzten in eine sternenübersäte Finsternis. Rechts unten zeichnete sich die gewaltige spiralförmige Masse der Milchstraße ab. Auf der 9-Uhr-Position ihrer Flugrichtung erstreckte sich die unglaublich prächtige Balkenspirale der Großen Magellanschen Wolke. Der Tarantelnebel, der den Anblick dieser Galaxis von der Erde beherrschte, war von dieser Position aus nicht mehr zu sehen. Aber zahlreiche andere Geburtsstätten neuer Sterne leuchteten in intensiven Rot-, Blau- und Grüntönen - viel kräftiger, als man es von der Erde her gewohnt war.

Knud tauchte unter der Intrepid hindurch - zumindest erschien es den Insassen so - weil in ihren Köpfen noch die Position des Hangarbodens gespeichert war.

Und dann glitt allmählich ein schimmerndes - weiß, blau, grün und braun leuchtendes - Planetenjuwel in die vor ihnen liegende Flugrichtung: Ein überwältigender Anblick. Ein berauschendes kosmisches Panorama entfaltete sich vor ihnen, das keiner von ihnen jemals wieder vergessen sollte. Die blauen Ozeane, die gleißend weiße, dominante Polkappe, ausgedehnte Waldgebiete und Flussläufe, die vom Gebirge, das die nördliche Eiswüste umgab, hinabströmten sowie enorm große Wüstengebiete, die sich nördlich des Äquators erstreckten.

In den links zur Flugrichtung gelegenen Panoramascheiben baute sich gleichzeitig die scheinbar unermesslich hohe Wand von Caeleon II auf, dessen chaotische, fremdartige Wolkenstrukturen im scharfen Kontrast zu den doch stark an die Erde erinnernden Oberflächendetails vom Saphir standen. Alle bewunderten vollkommen atemlos das sich bietende Schauspiel, unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen.

Rechts von ihnen, weit oberhalb der gekrümmten Planetenoberfläche, konnte man überdies noch zwei kraterbedeckte gelblich-bräunliche Monde ausmachen, die den Saphir umkreisten: Fateon und Krhowrah. Beide waren atmosphärenlose, tote Wüsten, die von bis zu 30 Kilometer tiefen Spalten und Rissen durchzogen waren und Relikte einer sehr gewalttätigen Entstehungsgeschichte waren.

Und wieder überkam alle zunächst das Gefühl des Verlorenseins, des Hilflos-Ausgeliefert-Seins im Angesicht dieser grandiosen Naturkulisse. Die Probleme, die es auf der Erde gab, und an die sie während ihrer Reise hierher wiederholt gedacht hatten, erschienen ihnen plötzlich wieder einmal in einem anderen Licht: Als belanglose, unwichtige, primitive Ereignisse, die irgendwo weit, weit weg stattfanden und die ohne Bedeutung für ihr Schicksal, geschweige denn die Zukunft des Universums waren.

Aber dann überwältigte jeden von ihnen das Gefühl, in eine völlig andere Realität eingetaucht zu sein, eine, die alle ihre Sorgen wegzauberte und sie mit tiefem Frieden und völliger Ausgeglichenheit erfüllte.

Und manch einer schämte sich dafür, dass er während des Landeanflugs auf Caeleon II in Todesangst geraten war. Denn rückblickend betrachtet machte es natürlich überhaupt keinen Sinn, erst mühselig und aufopferungsvoll Menschen auf Sol III zu retten, hierher zu bringen und dann auf einem Gasplaneten samt dem Raumschiff in einem selbstmörderischen Crash zu vernichten.

Ajaz, Mahmoud, Yossi und Saleh schalten sich selbst jeweils als Dummköpfe. Sie schämten sich sogar dafür, Knud und seiner ehrenwerten Mannschaft so eine Leben zerstörende, sinnlose Aktion unterstellt zu haben.

Aber erneut befreite Knud sie aus diesen psychisch belastenden Gedankengängen:

„Grämt euch nicht ob der vorhin gezeigten, übernervösen Verhaltensweisen, als wir uns dem Saphir näherten. Denn als ich diese Welt vor langer Zeit das erste Mal mit meinen eigenen Augen sah, bin ich ebenfalls vor Angst fast verrückt geworden. Denn dieser Gasriese wirkt auf Beobachter von seinen Abmessungen so erdrückend, so furchterregend und von seiner Atmosphärenstruktur so bedrohlich, dass jedermann in irgendeiner Weise in seinen Bann gezogen wird.

Jetzt erst nahm Mouad bewusst das seltsame grünblaue Band wahr, das ihm zwar schon aufgefallen war, als sie sich an Bord der Intrepid befanden. Die Faszination der von unermesslichen Stürmen aufgewühlten Atmosphäre hatte ihn vorhin jedoch dermaßen in den Bann gezogen, dass er dieser Struktur zu diesem Zeitpunkt keine intensivere Beachtung geschenkt hatte.

Er knuffte seinen Mann in die Seite. Doch dieser wehrte mit einer Handbewegung ab, weil er sich auf den Landeanflug konzentrieren musste.

Mouad konnte seine Neugier nicht mehr im Zaum halten und sprach daher den Professor auf dieses eigenartige Etwas an. Aber der schüttelte auch nur verständnislos den Kopf. Diesem Objekt konnte er keinerlei sinnvolle Bedeutung beimessen, denn so einen Himmelskörper konnte er in keine bekannte kosmische Objektkategorie einordnen. Wahid und Mouad glaubten, ausgedehnte Wasserflächen, Wolken und grüne Landmassen zu erkennen. Aber das alles auf einem ringförmigen Gebilde, das so ganz anders aufgebaut war als eine Planetenkugel? So etwas dürfte doch noch nicht einmal ein genügend großes Schwerefeld besitzen, um zu verhindern, dass die Gasmoleküle der offensichtlich dort vorhandenen Atmosphäre einfach in den Weltraum diffundieren.

Sie wagten Knud nicht erneut zu belästigen, denn dieser konzentrierte sich noch stets auf seine Flugmanöver.

Immer deutlicher zeichnete sich schräg vor ihnen das bereits von der Intrepid aus bewunderte ausgedehnte, kreisförmige Binnenmeer ab, in dessen Mitte sich eine bewaldete Insel befand. Eine pilzförmige, graue, aschebeladene Eruptionswolke, die an ihrer Spitze von elektrischen Ladungen bekrönt war, zeigte an, dass sich dort vermutlich ein Stratovulkan befand, dessen genaue Abmessungen aus dieser Höhe jedoch mit bloßem Auge nicht ermittelt werden konnten. Pyroklastische Ströme, die sich an den Seiten des Berges hinab wälzten, unterstrichen das zerstörerische Potential dieser geologischen Struktur.

Wahid schätzte den Durchmesser dieses Überbleibsels eines gigantischen Meteoriteneinschlags auf etwa 1 200 Kilometer. Wolkenstraßen, wie Perlenschnüre aufgereiht, verliefen breitengradparallel über die Seeoberfläche. Dabei entstand ein beinahe deckungsgleiches Schattenmuster, dass die silbrig-glänzende Reflexion des Sonnenlichtes auf dem Wasser in regelmäßigen Abständen unterbrach. Ganz im Norden, weit, weit weg, konnte man eine riesige, schneebedeckte Gebirgskette erahnen, die einen abrupten Abschluss der Seeoberfläche bildete.

Knuds Freunde unterhielten sich leise flüsternd, ganz unter dem Eindruck dieses faszinierenden Landeanflugs.

Aber für Kanei war das alles zu viel. Das erste Mal in seinem Leben verspürte er vor einem Erwachsenen Respekt. Denn dieser Knud hatte gegenüber ihm Qualitäten gezeigt, die er noch niemals bei einem Menschen gesehen hatte. Zudem besaß er Kenntnisse, die jede für ihn vorstellbare Dimension sprengten. Seine großspurige, bis zur unerträglichen Arroganz führende Überheblichkeit und Selbstsicherheit schmolz dahin. Seit sehr langer Zeit fühlte er sich als Kind, als hilfloses Geschöpf, das nach Liebe, Zuwendung und Geborgenheit lechzte. Irgend etwas schnürte ihm die Kehle zusammen, ein Gefühl, dass er in dieser Intensität seit langer Zeit nicht mehr erfahren hatte.

Endlich ertönte die beruhigende Stimme der Flugleitstelle in Naroda, dem Raumhafen am Fuße des Polgebirges, wie Knud ihnen erläuterte. Dies bedeutete, dass der Zyklop nun mit Hilfe eines Leitstrahles sicher in den Hangar des Raumhafens geflogen würde.

Knud entspannte sich und sah auf die unter ihnen vorbeiziehende Landschaft: Eine offensichtlich unberührte Wildnis aus Seen, mäandrierenden Wasserläufen, Hügeln und kleineren Gebirgsketten, deren Gipfel teilweise über die Vegetationsgrenze hinausragten, breitete sich über ausgedehnte Areale am Westrand des Sees aus.

Wahid erinnerte diese Landschaft an die vom Menschen unbeeinflusste Natur, die er vor langer Zeit im Yosemite Nationalpark im Westen der Vereinigten Staaten auf der Erde mit allen seinen Sinnen genossen hatte. Aber diese Landschaft hier schien von einer Erhabenheit, Einsamkeit und Schönheit zu sein, wie man es auf der Erde nirgends mehr antreffen konnte.

Unzählige ,Ooohhs’ und ,Aahhs’ der Begeisterung waren zu hören, als das Schiff sich mehr und mehr der Planetenoberfläche näherte und immer mehr geographische Details identifiziert werden konnten.

Can und Davin hatten jedoch die Annäherung an Caeleon II nicht vergessen und brannten darauf, dass Knud ihnen endlich ein besonderes Phänomen näher erklärte.

„Was ist das für ein eigenartiges, grünes Band, das bereits vom Raumschiff aus zu sehen war?”, fragten sie schließlich neugierig.

Alle schauten Knud in gespannter Erwartung an, denn so mancher von ihnen hatte sich schon vergeblich sein Gehirn zermartert, was es mit dieser Struktur auf sich haben könnte.

Dieser runzelte schließlich die Stirn:

„Das ist für Außenstehende ziemlich schwierig zu erklären, zumal wenn man nicht so dicht dran ist, um dieses Bauwerk näher in Augenschein zu nehmen.”

Er zögerte und schien zu überlegen, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt für eine ausführliche Erläuterung einer der Meisterleistungen antiker föderaler Ingenieurskunst wäre.

„Nun erzähl schon”, quengelte Mouad, „oder ist das da”, er wedelte mit seinem Arm in die Richtung der ihnen unbegreiflichen Welt, „so geheim, dass wir darüber nichts erfahren dürfen?”

Knud schüttelte den Kopf, bevor er fortfuhr:

„Erinnert ihr euch noch an die Geschichte mit Professor Mansouri, in der er uns beide gebeten hatte, etwas über unsere geologischen Kenntnisse zu referieren, und er mich schon fast sofort mit einem Mastertitel beglücken wollte?”

 

Mouad nickte. Sein Vater erwiderte mit kritischem Unterton: „Damals hattest du mit deinem Wissen doch vielleicht etwas zu dick aufgetragen.”

„Leider falsch. Was ich da von mir gegeben hatte, war noch nicht mal Erstsemesterniveau hier bei uns.”

Der Professor rollte mit den Augen und meinte etwas ungehalten:

„Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das alles mit dieser Struktur da drüben zu tun?”

Auch alle anderen schüttelten nur verständnislos den Kopf, sie waren genau so schlau wie vorher.

„Aber sagt mir hinterher nicht wieder, ich würde hier mit meinen Kenntnissen auftrumpfen, um erneut eine One-Man-Show abzuziehen.”

„Nun mach es nicht so spannend, vielleicht kann ich ja dann mal endlich nachvollziehen, warum du so ein Fan für Geologie bist.”

„Bei dem rätselhaften Objekt handelt es sich um eine sogenannte Ringwelt, eine kolossale Konstruktion, die sich in etwa 130 Millionen Kilometer Abstand von der gelb-orangen Zwergsonne dieses Systems befindet. Sie umfasst damit einen Umfang von ungefähr 900 Millionen und eine Breite von etwa einer Million Kilometern und weist somit eine Fläche von 900 Billionen Quadratkilometern auf, die etwa dem zweimillionenfachen der Oberfläche der Erde entspricht. Die externe Hülle dieser wannenförmigen Anordnung erstreckt sich vertikal über etwa 1 000 Kilometer - ausgehend von der tiefsten Stelle, dem Scheitelpunkt des parabelförmigen Querschnitts. Das künstliche Relief ist einst ähnlich einem mächtigen Gebirge gestaltet worden. Die Schwerkraft selbst wird durch die von hier nicht sichtbare Außenwand aus Neutronium erzeugt, das aus ehemaligen Pulsaren gewonnen wurde.

Wenn ihr genau hinschaut, seht ihr auch noch kleine, rechteckige Objekte, die vor der Ringwelt zu schweben scheinen. Diese verdecken, da sie um die Sonne rotieren, in regelmäßigen Zeitintervallen die Oberfläche des Bauwerks und erzeugen so einen Tag-Nacht-Effekt. Zusätzlich müssen durch Schwerefeldgeneratoren, die an verschiedenen Orten in diesem Sonnensystem positioniert sind, die starken Gravitationsfluktuationen durch den Riesenplaneten und die Ringwelt ausgeglichen werden. Andernfalls würden sich diese Körper katastrophal begegnen.

Diese Großkonstruktionen jenseits aller planetaren Abmessungen dienen häufig als Reservate für bedrohte Lebensformen verschiedener Welten, die an der Schwelle standen, ausgerottet zu werden oder inzwischen durch Supernovaexplosionen oder rücksichtslose Industrialisierung nicht mehr existieren. Daher haben diese künstlichen Strukturen die Funktion einer Arche Noah zur Bewahrung des genetischen Erbes unzähliger Lebensformen. Es gibt auch zwei Ringwelten, die alle irdischen Tiere und Pflanzen bewahren. Diese dort ist jedoch die früheste jemals gebaute Struktur und ist vor vermutlich zehntausenden von Jahren nach Plänen errichtet worden, die noch weitere Äonen in die Vergangenheit zurückreichen. Sie beherbergt alle Lebensformen einer inzwischen untergegangenen Welt namens Archäon IV und ist sicherlich einen späteren Besuch wert.”

„Unglaublich,” entfuhr es dem Professor. „Aber was hast du damit zu tun?”

„Seit nunmehr 90 Jahren beschäftige ich mich mit dem Bau kompletter neuer Planeten, Ringwelten und so genannten Larssen-Sphären. Letztere ist eine solche Ringwelt als Vollkugel. Ein speziell dafür entworfener Sternentyp, der nicht zu Explosionen und starken Strahlungsausbrüchen neigt, befindet sich im Zentrum einer solchen Kugelschale. Die nutzbare Oberfläche entspricht einigen Milliarden Erdoberflächen. Vier davon sind bereits fertig gestellt. Bezogen auf das eingesetzte Geld, das man für jeden neuen Quadratkilometer künstlicher Fläche, die für Lebewesen geeignet ist, aufwenden muss, ist so eine Ringwelt oder Sphäre erheblich billiger als das entsprechende Oberflächenäquivalent in Form von Planeten. Aber die Psychologie der Rassen, die auf einer solchen künstlichen Struktur angesiedelt werden, lehnt es normalerweise ab, auf so etwas Surrealem zu leben. Denn beinahe alle Spezies haben sich auf Himmelskörpern entwickelt, die nunmal einer Kugel entsprechen. Bei einer Ringwelt sieht man jedoch die gesamte Welt mit all ihren Bewohnern ,über’ sich, einer Perspektive, die, um es milde zu formulieren, zumindest gewöhnungsbedürftig ist.”

Sie sahen ihn an wie von Donner gerührt, bevor Knud scheinbar emotionslos fortfuhr:

„Und was ich damit zu tun habe? Ich habe die diesen Großprojekten zugrunde liegende Technologie über Jahrzehnte entwickelt. Ich bin also der Architekt oder Konstrukteur der Bauwerke - wenn auch nicht von dem, das ihr hier seht. Denn die Ringwelt im Caeleon-System ist, wie bereits von mir gerade erwähnt, viel, viel älter und stammt vielleicht sogar noch aus einer Zeit vor der Entstehung der Föderation, also aus einer Epoche, die noch weit vor der Herrschaft der Borennon und Präthener liegt.”

Saleh, Mouad und Elias betrachteten ihn fast schon ehrfurchtsvoll.

„Also deshalb konntest du den Professor Mansouri dort mühelos übertrumpfen”, meinte Mouad nach einer Weile entgeistert. „Denn der hatte ja im Vergleich zu dem, was du hier geleistet hast, überhaupt keine Ahnung. Aber er konnte es ja auch nicht wissen - das ist ja einfach nur umwerfend.”

Knud nickte zustimmend.

„Planetenbau ist eine extrem komplexe und interdisziplinäre Wissenschaft. Man muss in vielen Einzeldisziplinen fundierte Kenntnisse haben: Von Astronomie über Geologie und Meteorologie bis hin zu Biologie und Genetik. Viele Faktoren beeinflussen sich gegenseitig, nichts kann isoliert voneinander betrachtet werden. Bis so ein Planet ein komplett sich selbsttragendes System ist, das sich im biologischen Gleichgewicht befindet, vergehen bis zum Erreichen der Pflanzenklimaxgesellschaften mehrere hundert Jahre. Außerdem fehlen allen diesen Welten geologische Lagerstätten, die durch biologische Einflüsse entstanden sind: Kohle, Erdöl, Erdgas sowie Bernstein. Auch Kalkstein und Sedimentablagerungen sind zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unbekannt. Darüber hinaus kann es zu Beginn erhebliche Unsicherheit geben, an welcher Stelle die vulkanische Aktivität losbricht, wo sich Plattengrenzen und Subduktionszonen bilden. All dies gibt es bei Ringwelten und Larssen-Sphären nicht. Sie werden entworfen, mit einer vorausberechneten Menge Gestein und künstlichem Sediment versehen. Sie sind daher auch nur einige 100 Millionen Jahre stabil, da durch die dort wirkenden Erosionsprozesse Gesteine abgetragen werden. Irgendwann wäre jede Ringwelt nur noch aus drei Schichten aufgebaut: Der eingeebneten Gesteins- und Sedimentschicht, darüber ein riesiger, flacher Ozean und eine Atmosphärenschicht. Es würde also nur noch Wasserwelten geben. Man könnte natürlich alles mit einem Urwald bepflanzen, ohne Ozeane. Das würde die Erosion stark reduzieren und die Lebensdauer verlängern. Aber so einfach sind Ökosysteme nicht: Viele Urwälder sind auf Ozeane angewiesen, und seien es nur die durch den Wind herangetriebenen Seaspray-Partikel, die die in Spuren benötigten Mineralien und Salze den Pflanzen zuführen, wenn sie durch den Regen ausgewaschen werden.”

Seine Ausführungen wurden jäh unterbrochen.

„Und... und ich habe Jahre meines Lebens damit vergeudet, Menschen grausam zu quälen”, brach es aus Kanei hervor. Tränen flossen über sein Gesicht.

„Ich bin doch nichts mehr wert angesichts dieser schon göttliche Dimensionen erreichenden Bauwerke”, flüsterte er.

Fatima nahm ihn in den Arm.

„Du kannst doch nichts dafür. Was geschehen ist, ist geschehen. Man kann die Vergangenheit leider nicht mehr rückgängig machen. Alle in diesem Schiff Anwesenden haben Schreckliches mitgemacht. Aber dein Schicksal ist mit Sicherheit genauso schlimm wie die Tortur, die Ajaz, Mahmoud und Saleh oder auch Can und Davin ertragen mussten.

Ich hoffe nur, dass wir irgendwann alle miteinander in Ruhe reden können, um den Ansturm der Eindrücke, der über uns herniedergeht, seitdem wir die Erde verlassen haben, zu bewältigen und zu verarbeiten.”

Sie warf Knud einen fragenden Blick von der Seite zu. Dieser nickte unmerklich, während er fasziniert auf die Landschaft sah, die sich unter ihnen entfaltete.

Saleh hangelte sich durch die Sitzreihen zu Kanei hinüber. „Ich möchte dir gerne etwas aus meinem Leben erzählen”, begann er.

Kanei nickte ihm zu. Flüsternd unterhielten sich die beiden - und Kanei wurde endlich ruhiger.

Knapp 50 Kilometer unter ihnen tauchte das Südufer des riesigen, kreisförmigen Sees auf. Dieser war ganz offensichtlich durch einen Meteoriteneinschlag entstanden. Radial vom See nach außen führende Strahlen, die aus Auswurfmaterial bestanden, stellten die Relikte dieses Kataklysmos dar.

Das Raumschiff bewegte sich immer noch mit einer Geschwindigkeit von mehr als 3 000 Kilometern pro Stunde. Bereits nach kurzer Zeit konnten sie auf der Insel in der Mitte des Sees nähere geologische Details erkennen: Ein über 10 Kilometer hoher, zum Teil schneebedeckter Vulkan, den sie schon aus dem Orbit identifiziert hatten, schleuderte gelbrot-glühende Lavafontänen in die Atmosphäre. Die sich ständig veränderte Ausbruchsaktiviät unterstrich den ungleichmäßigen geologischen Aufbau dieses Stratovulkans.

Sie waren immer noch hoch genug, um an der Nordseite des Sees, etwa 600 Kilometer entfernt, über die kleinen Schönwetter - Kumuluswolken hinweg, hie und da eine schneebedeckte Bergspitze zu erkennen, die oberhalb und zwischen den Blumenkohlköpfen aus Wasserdampf hervorlugte.

Bald erreichten sie die Wolkenobergrenze, während das Schiff weiter auf die ferne Bergkette zustrebte, die immer kolossaler vor ihnen aufragte.

Schließlich tauchte in der Ferne eine Felswand auf, auf die das Schiff unbeirrt zuhielt. Höher und immer höher ragten die schnee- und gletscherbekrönten Flanken in den Himmel. Sie mussten den Kopf schon weit in den Nacken zurücklegen, um das Ende der eisigen Höhen zu erahnen. Schneefahnen verzierten die Felsnadeln und schufen einen riesenhaften, surrealen Skulpturengarten. Tobende Höhenwinde zerstäubten die Schneekristalle, die auf den Bergflanken lagen, zu staubigen, weißlichen Schleiern, die wellenförmig mit der Luftströmung über die Firste und Grate gepeitscht wurden. Kurz bevor sie durch ein riesiges Schott in die Bergwand hineinflogen, glaubte Mouad durch eine Wolkenlücke sogar einen noch höheren Gebirgszug zu erkennen, denn die Spitzen waren schwarz und nur aus nacktem Fels, so als ob sie oberhalb des Wettergeschehens in die Stratosphäre hineinragen würden.

Sie landeten, nachdem sie von dem Leitstrahl zum vorgesehenen Landeplatz in den ausgedehnten Hangargewölben bugsiert worden waren, auf einem aus poliertem Granit errichteten Landesegment. Ringsherum warteten schon Roboter, Wartungspersonal und zahlreiche andere Apparate darauf, das Schiff auf Herz und Nieren durchzuchecken, da es ja mehr als vier Jahre ununterbrochen im Einsatz gewesen war und daher auch technisch auf den neuesten Stand gebracht werden musste.