Buch lesen: «Ius Publicum Europaeum», Seite 27

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b) Die Verantwortlichkeiten des Ausschusses

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In der Verfassung von 2000 wurden die Hauptaufgaben des Grundgesetzausschusses ausdrücklich geregelt. Art. 74 der Verfassung besagt:

„Aufgabe des Grundgesetzausschusses des Parlaments ist es, ein Gutachten über die Verfassungsmäßigkeit der ihm zur Beratung überwiesenen Gesetzesentwürfe und anderen Angelegenheiten sowie über ihr Verhältnis zu internationalen Menschenrechtsverträgen abzugeben.“

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Wie ausdrücklich in Art. 74 der Verfassung festgelegt, kann die verfassungsrechtliche Überwachung auch andere Angelegenheiten als Gesetzesvorschläge betreffen. Seit 1995 besteht eine wichtige Gruppe solcher Angelegenheiten aus Fragen, die in der Europäischen Union beraten werden. Art. 96 der Verfassung bestimmt, dass die Regierung das Parlament über Vorschläge für Gesetze, Vereinbarungen und andere Maßnahmen, die in der Europäischen Union beschlossen werden und die anderenfalls, gemäß der Verfassung, in die Zuständigkeit des Parlaments fallen würden, unterrichten soll. Über solche Vorschläge berät dann der Große Ausschuss oder, falls die Sache an die Außen- und Sicherheitspolitik anknüpft, der Auswärtige Ausschuss. Zusätzlich dazu gibt Art. 97 der Verfassung dem Auswärtigen Ausschuss das Recht, von der Regierung auf Anfrage und, wenn anderweitig notwendig, Berichte bezüglich außen- und sicherheitspolitischer Angelegenheiten zu erhalten, und dem Großen Ausschuss ein entsprechendes Recht, Berichte hinsichtlich der Vorbereitungen anderer Angelegenheiten in der Europäischen Union zu erhalten. Falls die Angelegenheit, die zur Diskussion steht, die Verfassung berührt, ruft der Auswärtige Ausschuss oder der Große Ausschuss den Grundgesetzausschuss hinzu. Beispielsweise machten 1999 bis 2003 EU-bezogene Fragen rund 20% aller Gegenstände aus, die dem Grundgesetzausschuss zur verfassungsrechtlichen Überprüfung vorgelegt wurden.[24]

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Im Verhältnis zwischen internationalem und nationalem Recht folgt Finnland dem dualistischen Modell. Fragen, die internationale Verträge und andere internationale Verpflichtungen betreffen, können einer Verfassungskontrolle in zwei Fällen unterzogen werden: hinsichtlich der Notwendigkeit einer Anerkennung der Verpflichtung durch das Parlament[25] und hinsichtlich des Verfahrens, das für die Verabschiedung des Inkorporationsgesetzes nötig ist, d.h., ob eine einfache Mehrheit ausreicht oder ob das Gesetz als Ausnahmegesetz verabschiedet werden muss.

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Die Verfassungskontrolle von Gesetzesvorschlägen betrifft sehr häufig Grundrechtsangelegenheiten. Bis in die achtziger Jahre bezogen sich die Berichte des Grundgesetzausschusses am häufigsten auf das Eigentumsgrundrecht. Seit der Grundrechtsreform von 1995 hat sich das deutlich gewandelt. In der Legislaturperiode 2000 bis 2004 waren die beiden Grundrechte, auf die am häufigsten Bezug genommen wurde, das Grundrecht auf Privatleben (Art. 10) und das Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art. 21). Das zweite wichtige Thema der Verfassungskontrolle neben den Grundrechten war die Delegation der Gesetzgebungsbefugnis (Art. 80).[26]

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Die Verfassungskontrolle ist die wichtigste, aber nicht die einzige Aufgabe des Grundgesetzausschusses. Zusammen mit anderen Ausschüssen des Parlaments nimmt der Grundgesetzausschuss auch an der grundlegenden Beratung von Gesetzesvorschlägen teil. Die Verfahrensordnung bestimmt, dass Fragen, welche die Verabschiedung, Abänderung oder Aufhebung der Verfassung betreffen, durch den Grundgesetzausschuss vorbereitet werden sollen (Art. 32 Abs. 4). Gemäß den Vorschriften, die durch die Präsidialkonferenz erlassen worden sind, soll auch die Vorbereitung anderer Gesetzgebungsvorhaben, die eng mit der Verfassung verbunden sind, in die Verantwortung des Ausschusses fallen. Solche Gesetzgebungsvorhaben können sich auf Wahlen, wichtige verfassungsrechtliche Körperschaften, die Staatsbürgerschaft, politische Parteien, Sprachenrechte, politische Grundrechte oder die Selbstverwaltung der Ålandinseln beziehen.[27] Der Grundgesetzausschuss ist auch für die vorbereitende Beratung einiger Berichte an das Parlament verantwortlich. Diese schließen den jährlichen Bericht der Regierung über ihre Tätigkeit sowie die jährlichen Berichte des Justizkanzlers[28] und des Ombudsmannes ein. Falls ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen Minister oder den Ombudsmann oder den Justizkanzler im Parlament diskutiert wird, so fällt auch dessen vorbereitende Beratung dem Grundgesetzausschuss zu.

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Bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts bildeten Fragen, bei denen der Grundgesetzausschuss für die grundlegenden Vorbereitungen verantwortlich und somit in der gleichen Rolle wie andere Parlamentsausschüsse war, klar die Mehrheit auf seiner Agenda. Seit Anfang der Neunziger beherrscht die Verfassungskontrolle die Arbeit des Ausschusses. In der Legislaturperiode von 1979 bis 1982 befassten sich nur 34 von 164 Berichten mit der Verfassungskontrolle, in den Jahren von 2003 bis 2006 hingegen war das Verhältnis 187 zu 224. Die neue Bedeutsamkeit der Verfassungskontrolle zeigt sicherlich eine erhebliche Veränderung in der Verfassungsrechtskultur an, vor allem im Bewusstsein der Bedeutung der Menschenrechte und der verfassungsmäßigen Grundrechte. Auf einer konkreteren Ebene ist sie mit bedeutsamen verfassungsrechtlichen Geschehnissen wie etwa der Ratifikation und Inkorporation der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahr 1990, dem Beitritt Finnlands zur Europäischen Union 1995, der Grundrechtsreform von 1995 und dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2000 verbunden.

c) Das Verfahren der ex ante-Verfassungskontrolle

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Das Verfahren der ex ante-Verfassungskontrolle ist kaum geregelt. So gibt es keine speziellen Vorgaben, wie eine Frage an den Ausschuss herangetragen wird. Nicht alle Gesetzesvorschläge, die dem Parlament vorgelegt werden, unterzieht der Ausschuss oder auch nur das Sekretariat einer Überprüfung. Art. 32 bestimmt, dass Gesetzesvorschläge zuerst in einem Ausschuss beraten werden und dass es der Vollversammlung obliegt, nach einer vorbereitenden Besprechung und auf Vorschlag der Präsidialkonferenz, zu entscheiden, an welchen Ausschuss der Vorschlag weitergeleitet wird. Im gleichen Zusammenhang kann das Parlament auch entscheiden, dass dieser Ausschuss einen anderen Ausschuss hinzuziehen muss. Die normale Vorgangsweise bei der Einleitung einer Verfassungskontrolle ist folgende: Das Parlament entscheidet über den Vorschlag der Präsidialkonferenz, eine Stellungnahme des Grundgesetzausschusses hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesvorschlags zu verlangen. Außerdem stammt die Initiative in den meisten Fällen von der Regierung. Falls Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines vorgeschlagenen Gesetzes bestehen, fügt die Regierung in den Gesetzesentwurf einen besonderen Abschnitt ein, in dem sie ihren Standpunkt darlegt; sie kann auch hinzufügen, dass sie es als wünschenswert ansieht, dass ein Bericht des Grundgesetzausschusses eingeholt werde. Selbst ohne diesen Zusatz führt allein die bloße Einfügung einer solchen Passage üblicherweise zur Beteiligung des Ausschusses.

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Innerhalb der Exekutive sind verfassungsrechtliche Überlegungen – oder sie sollten es zumindest sein – Teil des regulären Verfahrens für einen Gesetzesentwurf. Es besteht aber keine einheitliche Vorgangsweise für die Verfassungskontrolle durch die Verwaltung. Demzufolge wird das Justizministerium als wichtigste Quelle für Rechtsexpertise nicht in jede Gesetzesvorbereitung einbezogen. Es kann vorkommen, dass das Justizministerium anderen Ministerien verfassungsrechtliche Sachkunde während des Entwurfsstadiums zur Verfügung stellt; ob dies der Fall ist, hängt z.B. vom Zeitplan des Gesetzesprojekts und der Verfügbarkeit der benötigten Expertise im Justizministerium ab. Alle Fragen der offiziellen Agenda der Regierungstreffen, einschließlich der dem Parlament vorzulegenden Gesetzesentwürfe, sind prinzipiell durch den Justizkanzler geprüft, dessen spezielle Verantwortlichkeit für die Überwachung der Gesetzmäßigkeit der Regierungsakte auch die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesentwürfe einschließt. In der Praxis hat der Justizkanzler auf Grund von Zeit- und Ressourcenmangel nur eingeschränkte Möglichkeiten einer umfassenden Verfassungskontrolle. Falls er oder sie verfassungsrechtliche Probleme feststellt, besteht die normale Vorgangsweise darin, dass die Regierung aufgefordert wird, in den Gesetzesentwurf einen Hinweis hinsichtlich der Notwendigkeit der Beteiligung des Grundgesetzausschusses aufzunehmen.

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Eine Verfassungskontrolle kann auch durch einen anderen Parlamentsausschuss eingeleitet werden, d.h. durch den Ausschuss, der für die Vorbereitung des Berichts über den Gesetzesentwurf verantwortlich ist. Gemäß Art. 38 der Geschäftsordnung des Parlaments können Ausschüsse gegenseitig Gutachten einholen. Zusätzlich verpflichtet Art. 38 Abs. 2 einen Ausschuss ausdrücklich, eine Stellungnahme des Grundgesetzausschusses zu verlangen, sofern bei einem Gesetzesentwurf oder einer anderen in Beratung befindlichen Angelegenheit Zweifel bezüglich der Verfassungsmäßigkeit oder bezüglich der Vereinbarkeit mit Menschenrechtsverträgen aufkommen. Drittens kann eine ex ante-Verfassungskontrolle ausgelöst werden, indem die Vollversammlung während der ersten oder zweiten Lesung des Gesetzesentwurfs entscheidet, den Entwurf dem Ausschuss vorzulegen.

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Das Verfahren im Grundgesetzausschuss folgt den allgemeinen Bestimmungen für Parlamentsausschüsse (Art. 39 der Geschäftsordnung). Das Verfahren beginnt mit der Anhörung des Vertreters des jeweiligen Ministeriums, üblicherweise dem Beamten, der für den Entwurf der Gesetzesvorlage zuständig ist. Bei diesem Treffen werden auch zwei oder drei Experten angehört. Falls diese einstimmig den Gesetzesentwurf für verfassungsrechtlich unbedenklich halten, ist diese Phase abgeschlossen. Falls die Experten in ihrem Urteil voneinander abweichen, werden gewöhnlich weitere Experten eingeladen. Wesentlich für das nachfolgende Verfahren ist, dass die Experten aufgefordert werden, schriftliche Gutachten vorzulegen.[29] Das Verfahren ähnelt in keiner Weise einem Gerichtsverfahren. Demnach werden in der Regel keine Interessengruppen eingeladen, ihre Ansichten darzulegen, obwohl sie von Zeit zu Zeit ihre Ansichten dem Ausschuss auf eigene Initiative hin unterbreiten. Allerdings nimmt der Bericht des Ausschusses nie auf solche Ansichten Bezug.

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Nach Anhörung der Experten führt der Ausschuss eine vorbereitende Diskussion durch, nach welcher der Sekretär einen Berichtsentwurf erstellt. Nach einer allgemeinen Diskussion wird der Entwurf einer detaillierten Prüfung unterzogen. Abstimmungen sind möglich und abweichende Meinungen können dem Bericht beigefügt werden.

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Hinsichtlich des Zugangs der Öffentlichkeit zu den Sitzungen folgt der Grundgesetzausschuss den allgemeinen Bestimmungen, die für alle Parlamentsausschüsse gelten. Gemäß Art. 50 Abs. 2 der Verfassung tagen Ausschüsse nichtöffentlich, können aber entscheiden, eine öffentliche Anhörung durchzuführen. Der Grundgesetzausschuss hat dies sehr selten – während der letzten zehn Jahre niemals – getan. Im Gegensatz dazu sind die Sitzungsprotokolle und andere dazugehörige Unterlagen des Ausschusses, einschließlich der schriftlichen Gutachten der Experten, für die Öffentlichkeit zugänglich, es sei denn, ein Ausschuss entscheidet sich aus einem zwingenden Grund dagegen.

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Die Gutachten der Experten bilden die Grundlage für den Berichtsentwurf, der durch den Sekretär vorbereitet wird. Falls die Experten in ihrem Urteil einig sind oder falls sich zumindest eine klare Mehrheitsmeinung abzeichnet, ist kaum vorstellbar, dass der Ausschuss davon abweichen würde. Falls Uneinigkeit unter den Experten besteht, gewinnt die politische Einstellung der Mitglieder mehr Bedeutung und es kommt – eher selten – vor, dass die Abstimmung die Teilung in Regierung und Opposition widerspiegelt; die große Mehrheit der Berichte ist einstimmig, was natürlich zu deren Akzeptanz in der politischen und rechtlichen Elite sowie in der allgemeinen Öffentlichkeit beiträgt. In der Regel sind verfassungsrechtliche Fragen, die vor dem Ausschuss anhängig sind, von den Kontroversen, die durch die Parteipolitik bestimmt sind, ausgeschlossen: Parlamentarische Gruppen nehmen zu ihnen keine Stellung und die Mitglieder des Ausschusses sind nicht der Parteidisziplin unterworfen.

d) Die Berichte des Ausschusses

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Bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab sich der Grundgesetzausschuss mit der Mitteilung des Verfahrens, in dem der Gesetzesvorschlag, der zur Debatte stand, angenommen werden sollte, zufrieden: Falls der Ausschuss eine Verletzung der Verfassung feststellte, musste das qualifizierte Verfahren, das man für Verfassungsänderungen benötigte, eingehalten werden; falls nicht, konnte der Vorschlag mit einfacher Mehrheit angenommen werden. In den achtziger Jahren entwickelte man ein Prinzip zur Vermeidung von Ausnahmegesetzen, das eine Veränderung in den Stellungnahmen des Ausschusses mit sich brachte. Für den Fall, dass ein Widerspruch mit der Verfassung entdeckt wird, gibt sich der Ausschuss nicht mehr damit zufrieden, die verfahrensrechtliche Schlussfolgerung daraus zu ziehen. Er deutet vielmehr selbst an, wie der Vorschlag abgeändert werden sollte, um den Widerspruch aufzulösen. Jedoch formuliert er gewöhnlich die Abänderung nicht, sondern überlässt dies dem Empfänger des Berichtes, grundsätzlich also dem Ausschuss, der für die vorbereitenden Erwägungen des auf dem Spiel stehenden Gesetzesentwurfs zuständig ist. Es mag vorkommen, dass der letztere Ausschuss ein neues Gutachten des Grundgesetzausschusses bezüglich der Entwurfsabänderung verlangt. Dies ist jedoch eher selten und es gibt keine Verpflichtung hierzu.

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Art. 42 Abs. 1 der Verfassung erlegt dem Parlamentspräsidenten die Pflicht auf, zu überwachen, dass die Verfassung während der Beratungen in der Vollversammlung eingehalten wird. Die travaux préparatoires zur Verfassung betonen, dass diese Pflicht sich auch auf die Überwachung erstreckt, dass die Stellungnahmen des Grundgesetzausschusses in angemessener Weise beachtet werden.[30] Allerdings hat man den Mangel eines institutionalisierten nachfolgenden Verfahrens manchmal als Problem angesehen.

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Die Position, die der Grundgesetzausschuss hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzesvorschlags einnimmt, ist für das Parlament verpflichtend, auch wenn dies nicht ausdrücklich in der Verfassung steht. Diese Interpretation beruht auf der Verfassungsbestimmung über die Pflichten des Parlamentspräsidenten und die Rolle des Ausschusses in der Lösung einer verfahrensrechtlichen Meinungsverschiedenheit zwischen dem Parlamentspräsidenten und der Vollversammlung. Art. 42 Abs. 2 der Verfassung bestimmt:“Der Parlamentspräsident darf sich nicht weigern, eine Angelegenheit zur Beratung oder einen Vorschlag zur Abstimmung vorzulegen, wenn er nicht befindet, dass dadurch gegen das Grundgesetz, ein anderes Gesetz oder einen bereits vom Parlament gefassten Beschluss verstoßen wird. Der Präsident hat in diesem Falle die Gründe für seine Verweigerung anzugeben. Billigt das Parlament das Verfahren des Parlamentspräsidenten nicht, wird die Angelegenheit an den Grundgesetzausschuss verwiesen, der unverzüglich entscheiden soll, ob der Präsident richtig gehandelt hat.

Verglichen mit den Urteilen des deutschen Bundesverfassungsgerichts beispielsweise sind die Berichte des Grundgesetzausschusses recht kurz, besonders in dem Fall, dass der Ausschuss keinen Widerspruch zur Verfassung findet. Der quasi-gerichtliche Charakter des Ausschusses wird gleichwohl in seinem Argumentationsmuster deutlich, das merklich von dem der anderen Parlamentsausschüsse abweicht. Es ist seiner Natur nach eher juristisch denn politisch. Beispielsweise beziehen sich Berichte routinemäßig auf verfassungsrechtliche Präzedenzfälle, um eine aktuelle Frage zu entscheiden, obwohl sich der Ausschuss keineswegs an eine starre Lehre des stare decisis bindet. Demzufolge kann der Ausschuss auch Gründe finden, um die vorherrschende verfassungsrechtliche Ansicht abzuändern. Wenn er dies tut, hat er – zumindest in den neueren Jahrzehnten – versucht, sich an das Prinzip zu halten, Revisionen seiner Ansicht offen auszusprechen. Von Zeit zu Zeit – jedoch nicht besonders häufig – bezieht sich der Ausschuss auf Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes oder des Obersten Verwaltungsgerichtshofes und seit kurzem sind auch Bezüge zur Literatur in die Berichte eingeflossen.

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Gemäß Art. 74 der Verfassung soll der Grundgesetzausschuss nicht nur die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzvorschlägen, sondern auch ihr Verhältnis zu internationalen Menschenrechtsverträgen behandeln. Dementsprechend betrifft das Recht, welches der Ausschuss in seiner Kontrolle anwendet, nicht nur die Verfassung, sondern sogar Menschenrechtsinstrumente, die für Finnland verbindlich sind. In seinen Berichten wendet sich der Ausschuss insbesondere der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu. Doch seit der Reform der Grundrechtsbestimmungen im Jahr 1995 lässt sich keine strenge Grenze mehr zwischen der Verfassungskontrolle und der Überwachung der Menschenrechte ziehen. Man entwickelte die neuen Grundrechtsbestimmungen, um den relevanten Menschenrechtsverträgen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention, zu entsprechen. Gemäß den travaux préparatoires sollen die Verfassungsbestimmungen im Lichte der entsprechenden Bestimmungen der Menschenrechtsverträge ausgelegt werden; die letzteren bestimmen das Mindestmaß des Schutzes, der durch die verfassungsmäßigen Grundrechte gewährleistet wird.[31] Dementsprechend sind Menschenrechtsverträge und gerichtliche Entscheidungen auch wichtige Argumentationsquellen in der Verfassungsinterpretation, trotz der Tatsache, dass sie nicht durch ein Gesetz im Verfassungsrange in die finnische Rechtsordnung inkorporiert worden sind.

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Der Grundgesetzausschuss behandelt auch Gesetzesvorschläge, die in Beziehung zum Autonomiegesetz der Ålandinseln stehen, obwohl dieses Gesetz nicht ausdrücklich in Art. 74 genannt wird. Art. 75 Abs. 1 der Verfassung bestimmt: „Für das Verfahren zur Verabschiedung des Selbstverwaltungsgesetzes und des Bodenerwerbsgesetzes von Åland gilt, was hierzu durch die erwähnten Gesetze besonders vorgeschrieben wird.“

Art. 69 Abs. 1 des ersteren Gesetzes legt fest, dass es nur durch gleichzeitige Entscheidungen des Parlaments und der Gesetzgebenden Versammlung der Ålandinseln ergänzt oder abgeändert werden kann. Im Parlament muss das Verfahren für Verfassungsänderungen eingehalten werden.

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Die Berichte des Ausschusses werden als Teil der Akten des Parlaments veröffentlicht und sind auch auf der Webseite des Parlaments verfügbar. Im Gegensatz dazu sammelt man die Berichte weder, wie etwa die Präzedenzfälle des Obersten Gerichtshofes und des Obersten Verwaltungsgerichtshofes, in einem Jahrbuch, noch gibt es im Internet eine separate Datenbank zu den Stellungnahmen des Ausschusses. Die Gutachten der Experten, die vom Ausschuss hinzugezogen wurden, werden nicht veröffentlicht, sind aber auf Anfrage erhältlich.

e) Ausnahmegesetze

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Bereits seit dem 19. Jahrhundert besteht ein wesentliches Element der finnischen Verfassung in der Möglichkeit eines „Ausnahmegesetzes“: Ein Gesetzesentwurf, der als verfassungswidrig angesehen wurde, kann trotzdem in einem qualifizierten Verfahren, das für Verfassungsänderungen nötig ist, verabschiedet werden. Vor Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 2000 war diese Möglichkeit nicht ausdrücklich geregelt, sondern nur durch den Schlussartikel der „Regierungsform“ indirekt angedeutet, der bestimmte, dass Ausnahmen von der „Regierungsform“ nur durch das gleiche Verfahren verabschiedet werden könnten wie Verfassungsänderungen. Nun werden Ausnahmegesetze ausdrücklich in der Bestimmung über das „Verfahren zur Verabschiedung des Grundgesetzes“ genannt (Art. 73). Zusätzlich stellt Art. 95 Abs. 2 ein vereinfachtes Verfahren für Ausnahmegesetze zur Verfügung, die internationale Verpflichtungen inkorporieren. Solche Gesetze werden, ohne sie in der Schwebe zu lassen, durch eine Entscheidung, die von mindestens zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen getragen werden muss, angenommen.

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Die Möglichkeit eines Ausnahmegesetzes ähnelt der kanadischen Notwithstanding-Klausel. Abschnitt 33 Abs. 1 der kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten räumt der bundesstaatlichen und landesrechtlichen Legislative das Recht ein, festzulegen, dass ein Gesetz oder einige seiner Normen ungeachtet der grundlegenden Bestimmungen über Rechte und Freiheiten der Charta durchzuführen sind. Diese gesetzgeberische Aufhebung ist für eine Zeitspanne von maximal fünf Jahren gültig, kann aber wiederholt werden (Abschnitt 33 Abs. 3–4). Im Gegensatz dazu gibt es kein Zeitlimit für die Wirksamkeit der finnischen Ausnahmegesetze.

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In Kanada hat sich ein Einverständnis entwickelt, das vor allem die Bundesgesetzgebung davon abhält, die Notwithstanding-Klausel anzuwenden, und – nach Gardbaums Ansicht – „prevented Section 33 from tempering the countermajoritarian difficulty posed by an unlimited power of judicial review“.[32] In Finnland hat die Entwicklung hinsichtlich der Anwendung von Ausnahmegesetzen einen ähnlichen Wandel erfahren. In den Jahrzehnten vor den Verfassungsreformen von 1995 und 2000 kritisierten einige Verfassungsrechtler die Ausnahmegesetze, da sie den Grundrechtsschutz schwächten und die ex ante-Verfassungskontrolle in eine formelle Beurteilung des notwendigen Gesetzgebungsverfahrens verwandelten. Tatsächlich ist die Zahl der Ausnahmegesetze schon vor den Verfassungsreformen von 1995 und 2000 deutlich zurückgegangen.

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Die derzeitige Bestimmung des Art. 73 der Verfassung erlaubt nur „beschränkte“ Ausnahmen von der Verfassung. Gemäß den travaux préparatoires für die neue Verfassung deutet dies darauf hin, dass ein Ausnahmegesetz nicht auf grundlegende verfassungsrechtliche Entscheidungen, wie etwa das gesamte Grundrechtssystem oder die Stellung des Parlaments als oberstes Organ des Staates, Einfluss nehmen darf. Ausnahmegesetze sollten sehr selten angewendet werden; im Prinzip nur, wenn internationale Verpflichtungen inkorporiert werden. Widersprüche zur Verfassung sollten in der Regel durch Abänderung des Gesetzesvorschlags beseitigt werden. Falls sich ein Ausnahmegesetz jedoch als notwendig erweist, sollte die Ausnahme so streng und genau wie möglich umrissen werden. Die Möglichkeit einer zeitlichen Begrenzung sollte auch in Betracht gezogen werden.[33]

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Die Bedingung der beschränkten Ausnahmen ist in Art. 95 Abs. 2, der sich auf Gesetze bezieht, die internationale Verpflichtungen inkorporieren, nicht wiederholt worden. Allerdings werden Gesetze, die in einem vereinfachten Verfahren nach Art. 95 Abs. 2 angenommen werden, auch als Ausnahmegesetze betrachtet, da der Grundgesetzausschuss die Bedingung auch auf diese Gesetze ausgedehnt hat. Das eröffnet die Möglichkeit, EU-Verträge und deren Abänderungen im Lichte der grundlegenden Verfassungsprinzipien, etwa in Art und Weise des deutschen Bundesverfassungsgerichts in seinen Urteilen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon, zu beurteilen. In der Tat hat der Grundgesetzausschuss den Gesetzesentwurf bezüglich der Inkorporation des Verfassungsvertrags im Lichte der Bedingung der beschränkten Ausnahme beurteilt, allerdings in einer eher oberflächlichen Weise.[34]

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Seit den achtziger Jahren, d.h. schon vor der neuen Verfassung, haben Ausnahmegesetze ihre frühere Bedeutsamkeit weitestgehend eingebüßt. Nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2000 wurden nur noch zwei Ausnahmegesetze, die nicht die Inkorporation von internationalen Verpflichtungen betrafen, verabschiedet.

§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland › II. Das gegenwärtige System der Verfassungskontrolle › 3. Die Rolle des Präsidenten und des Obersten Gerichtshofes in der ex ante-Verfassungskontrolle