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bb) Die Nichtigkeitsklage

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Nichtigkeitsklagen machen den Großteil der Verfahren vor der Verwaltungsstreitsachenabteilung des Staatsrates aus. Gemäß Art. 14 KGSR befindet diese „durch Urteil über […] Nichtigkeitsklagen gegen Akte und Verordnungen […] der verschiedenen Verwaltungsbehörden aufgrund der Verletzung wesentlicher oder zur Vermeidung der Nichtigkeit vorgeschriebener Formvorschriften, Überschreitung der Amtsbefugnisse oder Ermessensmissbrauchs“. Gegenstand der Nichtigkeitsklage können dabei u.U. auch Verwaltungsmaßnahmen der gesetzgebenden Versammlungen sowie der Organe der rechtsprechenden Gewalt, wie die Ernennung zum Mitglied des Hohen Justizrats, des Rechnungshofes, des Verfassungsgerichtshofes oder des Staatsrates, sein. Die Frage, ob eine Maßnahme mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden kann, hängt also nicht nur von der formellen Einordnung des diese erlassenden Organs als Verwaltungsbehörde i.e.S. ab (wobei bereits der Begriff der „Verwaltungsbehörde“ vielschichtig ist[284]). Es spielen auch andere Kriterien, wie die Funktionsweise des Organs, eine Rolle. „Verwaltungsbehörden“ i.S.v. Art. 14 KGSR sind daher folgende Einrichtungen: Bereits formell sind all diejenigen Organe erfasst, die nach der Verfassung und den besonderen Gesetzen zur Institutionenreform der ausführenden Gewalt angehören.[285] Dazu zählen auch diejenigen Einrichtungen, die gemäß einer Vorschrift von Verfassungs- oder Gesetzesrang der Weisungsbefugnis oder der Aufsicht durch eine der belgischen Regierungen unterliegen. Darüber hinaus sind alle vom Staat geschaffenen oder anerkannten Einrichtungen, deren Arbeitsweise von diesem festgelegt und gesteuert wird, grundsätzlich ebenfalls Verwaltungsbehörden i.S.v. Art. 14 KGSR, sofern sie einseitig für Dritte verpflichtende Entscheidungen erlassen können. Dies gilt jedoch nur, sofern sie darüber hinaus die sachlichen Merkmale, die der Kassationshof als Gericht für Kompetenzkonflikte in einem Urteil vom 6. September 2002[286] aufgestellt hat, erfüllen.

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Bei der angegriffenen Maßnahme muss es sich ferner um eine einseitige Verwaltungsmaßnahme handeln. Ein Vertrag hingegen kann als solcher nicht vor dem Staatsrat angefochten werden.[287] Ein nicht berücksichtigter Bewerber kann jedoch unter Berufung auf die bereits erwähnte Rechtsfigur des sogenannten abtrennbaren Verwaltungsaktes[288] die Verwaltungsstreitsachenabteilung anrufen.[289] Dabei ficht er jedoch nicht den Vertrag zwischen der Behörde und dem erfolgreichen Konkurrenten als solchen an, sondern lediglich den behördlichen Beschluss, den Vertrag abzuschließen. Entscheidungen, welche die Vertragsdurchsetzung oder eine Auflösung des Vertragsverhältnisses mit dem erfolgreichen Konkurrenten zum Gegenstand haben, können hingegen durch einen unterlegenen Bewerber niemals vor dem Staatsrat angefochten werden, denn diese Maßnahmen betreffen die sich aus dem Vertragsverhältnis ergebenden subjektiven Rechte. Gleiches gilt für die Kündigung eines Vertragsbediensteten durch eine Behörde; hierfür sind die Arbeitsgerichte zuständig.[290]

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Da ein Stillschweigen der Verwaltung ebenfalls Rechtsfolgen bewirken kann, ermöglicht Art. 14 § 3 KGSR eine Anrufung der Verwaltungsstreitsachenabteilung auch bezüglich einer stillschweigenden Ablehnungsentscheidung der Verwaltung.

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Für die Einlegung der Nichtigkeitsklage gegen eine endgültige[291] Verwaltungsentscheidung hat der Bürger 60 Tage ab dem auf die Bekanntmachung, die Zustellung oder die Kenntnisnahme der betreffenden Verordnung oder des betreffenden Bescheids folgenden Tag Zeit. Hierbei handelt es sich um eine zwingende Ausschlussfrist. Erlässt die Verwaltung einen individuell-konkreten Bescheid, ist sie gem. Art. 19 Abs. 2 KGSR verpflichtet, auf den verfügbaren Rechtsweg und dessen Modalitäten hinzuweisen. Fehlt eine solche Rechtsbehelfsbelehrung, beginnt die 60-Tages-Frist erst vier Monate nach der Kenntnisnahme des Bescheids durch den Adressaten zu laufen. Gemäß Art. 19 Abs. 3 KGSR wird die Klagefrist darüber hinaus durch eine innerhalb der genannten 60-Tages-Frist bei einer von einer Vorschrift mit Gesetzesrang vorgesehenen Ombudsstelle eingelegte Beschwerde gegen einen Akt oder eine Verordnung i.S.v. Art. 14 § 1 KGSR gehemmt.

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Ein nicht geregeltes Widerspruchsverfahren (insbesondere der Widerspruch vor der nächsthöheren Stelle) unterbricht die Frist für die Klageerhebung vor dem Staatsrat nicht.[292] Es ist daher empfehlenswert, binnen der 60-Tages-Frist auch eine Nichtigkeitsklage beziehungsweise einen Aussetzungsantrag[293] zu stellen. Dadurch kann man ohne nachteilige Folgen parallel den Weg des nicht geregelten Widerspruchsverfahrens beschreiten, notfalls kann die Klage nämlich wieder zurückgenommen werden.

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Das Verfahren der Nichtigkeitsklage beginnt mit dem Eingang der Klageschrift bei der Kanzlei des Staatsrates, welche die Klage in die Gerichtsterminliste einträgt. Die Klage wird dem Antragsgegner zur Kenntnisnahme zugestellt. Dieser verfügt anschließend über eine Frist von 60 Tagen, um einen Erwiderungsschriftsatz einzureichen. Der Kläger hat sodann wiederum erneut 60 Tage Zeit, seinerseits eine Replik vorzulegen. Hat die beklagte Partei keinen Erwiderungsschriftsatz vorgelegt, gibt der Kläger einen Erläuterungsschriftsatz ab. Sodann verfasst ein Mitglied des Auditorats ein Gutachten.[294] Die Parteien können innerhalb von 30 Tagen zu diesem Gutachten Stellung nehmen. Innerhalb dieser Frist muss die Partei, zu deren Ungunsten der Bericht ausgefallen ist, auch einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens stellen, sofern sie die Klage aufrechterhalten will.

cc) Der Aussetzungsantrag

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Dieses Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes soll verhindern, dass eine rechtswidrige Verwaltungsmaßnahme in tatsächlicher Hinsicht auch nach dessen Nichtigkeitserklärung nach wie vor Folgen zeitigt. Gemäß Art. 17 § 1 KGSR ist „[e]inzig die Verwaltungsstreitsachenabteilung […] dafür zuständig, nach Anhörung oder ordnungsgemäßer Ladung der Parteien durch Beschluss die Aussetzung des Vollzugs von Verwaltungsmaßnahmen oder Verordnungen anzuordnen, die auf der Grundlage von Art. 14 §§ 1 und 3 für nichtig erklärt werden können, und alle Maßnahmen zu treffen, die zur Wahrung der Interessen der Parteien bzw. der Personen, die ein Interesse an der endgültigen Klärung der Streitsache haben, notwendig sind“. Damit kann die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme, über deren Nichtigkeit sie zu befinden hat, aussetzen. Ein entsprechender Aussetzungsantrag kann jederzeit eingereicht werden. Allerdings muss er sich auf eine anhängige Nichtigkeitsklage beziehen, andernfalls ist er unzulässig.[295] Somit ist der Aussetzungsantrag ein Verfahren, das „akzessorisch zur Nichtigkeitsklage“[296] ist. Sofern die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind und solange der Bericht des Auditorats noch nicht vorliegt, kann der Kläger im Zuge einer Nichtigkeitsklage auch mehrere Aussetzungsanträge stellen (Art. 17 § 1 Abs. 3 KGSR). Die Anordnung der Aussetzung des Vollzugs geschieht nur bei besonderer Dringlichkeit und nur, sofern mindestens ein ernsthafter Grund geltend gemacht wird, der dem ersten Anschein nach eine Erklärung der Nichtigkeit der angegriffenen Maßnahme rechtfertigen könnte. Es muss also ein Klagegrund vorgetragen werden, aus dem „augenscheinlich hervorgeht, dass erhebliche Zweifel an der Rechtsgültigkeit des angegriffenen Aktes bestehen, und der nach summarischer Prüfung für die Begründetheit der Klage spricht“[297]. Neben der Aussetzung der Verwaltungsmaßnahme können weitere einstweilige Maßnahmen angeordnet werden. Darüber hinaus ist zu deren Durchsetzung auch die Festsetzung eines Zwangsgeldes möglich.

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Der Begriff „Aussetzungsantrag“ impliziert bereits, dass eine Aussetzung des Vollzugs nur auf Antrag des Klägers erfolgen kann. Ist ein solcher Antrag gestellt, wägt der Staatsrat zwischen dem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers, den Interessen der Verwaltung und dem Interesse der Allgemeinheit ab. Gemäß Art. 17 § 2 Abs. 2 KGSR berücksichtigt „[d]ie Verwaltungsstreitsachenabteilung […] die voraussehbaren Folgen der Aussetzung der Durchführung [der Verwaltungsmaßnahme] oder der vorläufigen Maßnahmen hinsichtlich jeglicher möglicherweise geschädigten Interessen, einschließlich des Interesses der Allgemeinheit“. Sie „kann entscheiden, dem Antrag auf Aussetzung oder auf Anordnung vorläufiger Maßnahmen nicht stattzugeben, wenn deren nachteilige Folgen die damit verbundenen Vorteile in offensichtlich unverhältnismäßiger Weise überwiegen könnten“.

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Der Beschluss des Staatsrates über den Aussetzungsantrag hat binnen einer Frist von 45 Tagen zu erfolgen, das Urteil zur Nichtigkeitsklage anschließend innerhalb von sechs Monaten zu ergehen. Allerdings bleibt die Aussetzung der Verwaltungsmaßnahme auch nach diesen sechs Monaten bestehen, es existiert keinerlei Sanktionsmechanismus bei Überschreiten dieser Frist.

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Gemäß Art. 17 § 4 KGSR[298] ist ein Aussetzungsantrag im Fall höchster Dringlichkeit auch schon vor Erhebung der Nichtigkeitsklage zulässig. Hierfür muss die höchste Dringlichkeit jedoch durch eine umfassende Schilderung des Sachverhalts nachgewiesen werden.[299] Dadurch kann zwar gegebenenfalls eine sehr schnelle Entscheidung des Staatsrates herbeigeführt werden. Da die Rechte der beklagten Partei hierdurch aber be- und die Untersuchung des Falls stark eingeschränkt werden, muss dies eine Ausnahme bleiben.[300] In einem solchen Fall wird die Aussetzung des Vollzugs wieder aufgehoben, wenn binnen der hierfür vorgesehenen Frist keine Nichtigkeitsklage erhoben wird.

dd) Das Revisionsverfahren

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Gemäß Art. 14 KGSR ist der Staatsrat darüber hinaus zuständig für die Behandlung von Revisionsanträgen gegen Urteile der untergeordneten Gerichte.[301] Den rechtlichen Rahmen hierfür bilden Art. 20 KGSR sowie Art. 3 und 11 des königlichen Erlasses vom 30. November 2006[302]. Dabei ist vor allem wichtig, welche Gerichte Verwaltungsgerichte sind, etwa das Gericht für Ausländerrechtsstreitsachen.

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Auch für dieses Verfahren bedarf der prozessfähige[303] Kläger eines Rechtsschutzinteresses. Der Revisionsantrag muss innerhalb einer Frist von 30 (und nicht – wie bei der Nichtigkeitsklage – 60[304]) Tagen eingereicht werden. Diese beginnt an dem auf die Zustellung des Urteils beim Revisionsführer folgenden Tag (Art. 30 § 1 Abs. 4 des königlichen Erlasses vom 30. November 2006). Im Rahmen des Revisionsverfahrens erfolgt eine dreiteilige Prüfung:[305] die Zulässigkeit der Revisionseinlegung, das Vorliegen eines Revisionsgrundes und gegebenenfalls noch die Prüfung der „Auffangklausel“, sollte sich gem. Art. 20 KGSR eine Prüfung durch die Verwaltungsstreitsachenabteilung für die Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsprechung als notwendig erweisen. Ein Annahmeverfahren ermöglicht eine Vorprüfung und -sortierung der Revisionsanträge.[306]

ee) Verfahren mit unbeschränkter Nachprüfungsmöglichkeit

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In den in Art. 16 KGSR bestimmten Fällen kann die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen als letztinstanzliches Rechtsmittel die angegriffene Entscheidung durch Urteil durch eine andere ersetzen. Hierzu zählen Wahlprüfungsangelegenheiten (insbesondere bei Provinzial- und Gemeindewahlen, Wahlen in Bezug auf öffentliche Sozialhilfezentren und Wahlen zu den Räten des Polizeidienstes), Streitigkeiten betreffend die Bestimmung der kommunalen Mandatsträger bestimmter Gemeinden mit Sonderrechten, Beschwerden nach Art. 15ter des Gesetzes vom 4. Juli 1989 über die Deckelung und die Überprüfung der Wahlkampfausgaben im Rahmen der Wahlen zu den Kammern des Bundesparlaments sowie Beschwerden in Bezug auf die Parteienfinanzierung und die offene Haushaltsrechnung der politischen Parteien.[307]

c) Verfahrensgrundsätze

aa) Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit

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Die Mitglieder der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen werden vom König auf Lebenszeit ernannt und genießen praktisch dieselbe Unabhängigkeit wie Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit[308] (Art. 151 § 1 Belg. Verf.). Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bilden die grundlegendsten Wesensmerkmale des Richteramtes und werden im Übrigen auch durch Art. 6 EMRK vorausgesetzt. Beim Staatsrat besteht dabei allerdings die Besonderheit, dass er sowohl beratendes als auch rechtsprechendes Organ ist. Der EGMR beschäftigte sich bereits mehrmals mit der Frage, ob ein solches Organ mit Doppelfunktion den Anforderungen an die objektive Unparteilichkeit des Richters genügt.[309] Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes folgt aus der Rechtsprechung des EGMR, dass allein die Tatsache, dass ein Organ sowohl eine beratende als auch eine rechtsprechende Funktion besitzt, noch nicht die Prinzipien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters verletzt.[310] Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Mitglieder der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen gem. Art. 61 VVerwSSRE und Art. 29 Abs. 2 KGSR in Verfahren über Nichtigkeitsklagen gegen Erlasse oder Rechtsverordnungen, zu denen sie bereits zuvor im Rahmen des Verfahrens vor der Gesetzgebungsabteilung ein Gutachten erstellt haben, nicht entscheidungsbefugt sind.

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Darüber hinaus hat ein Mitglied der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen oder des Auditorats der Kammer oder dem Generalauditor gem. Art. 62 Abs. 2 VVerwSSRE anzuzeigen, wenn er Kenntnis von Gründen hat, die in Bezug auf seine Person die Besorgnis der Befangenheit begründen können. Es obliegt dann der betroffenen Kammer bzw. dem Generalauditor, zu entscheiden, ob das Mitglied bzw. der Auditor von der Sache ausgeschlossen werden muss. Wird ein Mitglied des Staatsrates von einer der Parteien wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, kann er durch einen mit Gründen versehenen Antrag gem. Art. 64 VVerwSSRE eine Entscheidung zu dieser Frage herbeiführen.[311] Die Gründe für eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ergeben sich aus Art. 61 VVerwSSRE, Art. 29 Abs. 2 KGSR[312] und Art. 828 Code judiciaire.

bb) Entscheidung innerhalb angemessener Frist

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Als rechtsstaatlicher Bestandteil eines fairen Verfahrens gilt auch vor belgischen Verwaltungsgerichten das Recht auf eine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist. Dem liegt auch der Gedanke zugrunde, dass sich lange hinziehende Verfahren die Beweisermittlung erschweren oder diese sogar gänzlich unmöglich machen,[313] was nicht nur der Rechtssicherheit schadet, sondern auch die Gefahr birgt, das Vertrauen der Bürger zu erschüttern.[314] Das Recht auf eine Gerichtsentscheidung innerhalb angemessener Frist findet sich auch in internationalen Rechtsnormen, insbesondere Art. 6 Abs. 1 EMRK. Demnach hat „[j]ede Person […] ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist[315] verhandelt wird“. Der Begriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ wird dabei – auch vom Staatsrat – weit ausgelegt und die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auch auf Verfahren vor den Verwaltungsgerichten angenommen.[316] Da jedoch keinerlei gesetzliche Definition dessen existiert, was konkret unter einer angemessenen Frist zu verstehen ist, muss diese durch die Rechtsprechung näher präzisiert werden.

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Dem Kassationshof zufolge ist die „angemessene Frist“ i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EMRK der Zeitraum, innerhalb dessen bei einer öffentlichen Klage gegen eine Person die Untersuchungen abgeschlossen und die Klage entschieden werden muss.[317] Die Angemessenheit der Frist im konkreten Einzelfall bestimmt sich dabei unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte und richtet sich nach der Komplexität des jeweiligen Sachverhalts, dem Beitrag der Parteien zur Aufklärung der Streitigkeit, deren Verhalten sowie der Bedeutung des Verfahrens.

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Auch im Rahmen des geregelten Widerspruchsverfahrens zwingt der allgemeine Grundsatz guter und angemessener Verwaltung die Behörden dazu, im Verhältnis zum Bürger bestimmte Grundsätze einzuhalten und eine angemessene Frist für die Entscheidungsfindung zu wahren.[318] Die von der Behörde einzuhaltende angemessene Frist für die Vornahme einer Maßnahme beginnt dabei, sobald sie in der Lage ist, diese zu erlassen. Im Rahmen des geregelten Widerspruchsverfahrens bezieht sich die Angemessenheit der Entscheidungsfrist somit sowohl auf „die Dauer zwischen Einlegung des Widerspruchs und der Entscheidung hierüber als auch auf die Dauer zwischen dem Empfang der Stellungnahmen durch die entscheidende Behörde und dem Erlass der angegriffenen Entscheidung“.[319]

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Ein Kläger, der sich mit einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer konfrontiert sieht, kann einen Staatshaftungsanspruch geltend machen.[320] Ist eine Entschädigung möglich, kann er die überlange Verfahrensdauer hingegen nicht als Klagegrund für eine Aufhebung des zum Abschluss dieses überlangen Verfahrens ergehenden Gerichtsurteils geltend machen.[321]

cc) Beweislast und Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
des Gerichts mit dem Kläger

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Das Verfahren vor dem Staatsrat ist größtenteils ein Untersuchungsverfahren. Dies folgt unmittelbar aus dem objektiven Wesen der Klagen vor dem Staatsrat.[322] Bereits im Bericht an den Regenten vom 23. August 1948 über das Verfahren vor der Abteilung für Verwaltungssachen des Staatsrates wurde hierzu ausgeführt, dass „[e]s […] gerade dem Richter, und nicht den Streitparteien oder deren Rechtsbeiständen, obliegt, das Verfahren zu leiten, weil der Gedanke einer Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst untrennbar mit der Idee des Allgemeininteresses verbunden ist. Jede andere Herangehensweise würde es den Parteien, die natürlich versucht wären, ihre persönlichen Vorstellungen und Interessen dem Allgemeininteresse vorzuziehen, erlauben, die Entscheidung eines Rechtsstreits hinauszuzögern; damit würde es einer Behörde ermöglicht, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um – entgegen der Rechtslage – die Rechtswirkungen ihrer gesetzeswidrigen Maßnahme länger aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund leitet in Frankreich, wie auch in den Niederlanden, der Staatsrat selbst das Verfahren.“[323] Folge dieses Grundsatzes ist, dass der Kläger keinen Nachweis für die behauptete Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme erbringen muss. Vielmehr liegt die Beweislast bei der Behörde, welche die Maßnahme erlassen hat (diese wird als beklagte Partei bezeichnet); sie hat darzulegen, dass die angegriffene Maßnahme rechtmäßig ist.

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Allerdings wird der Klagegegenstand durch den Klageantrag bestimmt und umgrenzt. Dieser kann grundsätzlich nicht ausgedehnt werden, es sei denn der Kläger konnte keine Kenntnis von einem weiteren, eine Rüge begründenden Gesichtspunkt haben. Der Klageantrag muss darüber hinaus die Klagegründe, d.h. eine „hinreichend klare Benennung der verletzten Vorschrift und der Art und Weise dieser Verletzung“[324] anführen. Gleichwohl verzichtet der Staatsrat grundsätzlich auf unnötigen Formalismus und akzeptiert auch schlecht formulierte Antragsgründe oder ungenau bezeichnete Vorschriften, solange der Wille des Klägers ersichtlich ist.[325] Er lässt hierbei im Allgemeinen Nachsicht walten, insbesondere wenn die Klage ohne anwaltlichen Beistand erhoben wurde. So hat er einem Aussetzungsantrag wegen höchster Dringlichkeit stattgegeben, der sich darauf beschränkte, den Staatsrat zu „bitten, die Anordnung, meinen Club abends um 22 Uhr zu schließen, aufzuheben. Kann man mir meine Lebensgrundlage wirklich grundlos entziehen, nachdem ich mir 24 Jahre nichts zu Schulden habe kommen lassen?“[326] Allerdings vertritt der Staatsrat entgegen der Auffassung der ordentlichen Gerichte, dass der Grundsatz, nach dem ein ordentliches Gericht von Amts wegen den auf die vorgebrachten Tatsachen anzuwendenden Rechtsrahmen ermitteln muss, „nicht für ein Gericht gilt, das die objektive Rechtmäßigkeit einer ihm vorgelegten Verwaltungsentscheidung zu würdigen hat“[327].