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Inhalt

Kapitel 1 – Auf einer einsamen …

Kapitel 2 – Kim war eine …

Kapitel 3 – Es fing mit …

Kapitel 4 – In der Klasse …

Kapitel 5 – Als ich mit …

Kapitel 6 – Den Samstag verbrachte …

Kapitel 7 – Als ich Hunger …

Kapitel 8 – Den Sonntag verbrachte …

Kapitel 9 – »Bitte?« Mama reagierte …

Kapitel 10 – Am nächsten Tag …

Kapitel 11 – Mama redete den …

Kapitel 12 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 13 – Wir liefen um …

Kapitel 14 – Kim fand meinen …

Kapitel 15 – Auf Latifas Party …

Kapitel 16 – Nachdem Mama die …

Kapitel 17 – Als ich ein …

Kapitel 18 – Als ich nach …

Kapitel 19 – Die ersten zwei …

Kapitel 20 – An einem Sonntag …

Kapitel 21 – Am Montag ging …

Kapitel 22 – In der S-Bahn …

Kapitel 23 – Am nächsten Tag …

Kapitel 24 – Am nächsten Tag …

Kapitel 25 – »Hey, welch Überraschung.« …

Kapitel 26 – »Was ist los?«, …

Kapitel 27 – Während wir uns …

Kapitel 28 – Später, als ich …

Kapitel 29 – Ich betrat das …

Kapitel 30 – »Isi, hey, ich …

Kapitel 31 – Als ich wieder …

Kapitel 32 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 33 – Selbst Mama war …

Kapitel 34 – Am späten Nachmittag …

Kapitel 35 – Am nächsten Vormittag …

Kapitel 36 – Ich klopfte an …

»Frei ist der Mensch, der in jedem Augenblick seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist.«

Rudolf Steiner

»Wir sind unsere Follower.«

Yara

1

Auf einer einsamen Insel gibt es kein Echo. Auf einer virtuellen schon. Kim sagt immer, ohne Likes existierst du nicht. Und dafür brauchst du einen perfekten Körper. Gut, habe ich gesagt, dann zeig mir, wie das geht.

2

Kim war eine Erscheinung. Das sagte jedenfalls Lenny, als sie neu in unsere Klasse kam. Eine Erscheinung. Wahnsinn. Und das aus Lennys Mund, dem sonst nur Worte wie heiß oder geil einfielen. Wie ein besoffener Gockel ist er anfangs hinter ihr hergetigert, bis er kapiert hat, dass sie nichts von ihm wissen will. Sie wollte von niemandem etwas wissen, saß die Schulstunden ab, in ihren hautengen Markenjeans und High Heels, frischte in den Pausen ihr Make-up auf und machte Duckface-Selfies vor verkümmernden Topfpflanzen. Sie sah aus wie ein YouTube-Star, der in unserer Klasse gestrandet war und eine Strafe absaß. Ihre Augenbrauen waren professionell gezupft und sie hatte so einen speziellen Blick, stechend und hart. Der ging durch und durch. Man versuchte, ihr nicht in die Augen zu sehen, weil man befürchtete, dass sie sonst alles über einen wusste und es eines Tages gegen einen verwenden würde. Genau so fühlte sich das an. Gruselig.

Ab und zu haute sie einen Satz heraus, wenn ein Lehrer es wagte, sie anzusprechen. Der Tomanek fragte sie mal in Musik, welcher Komponist die Brandenburgischen Konzerte verfasst hatte, und sie sagte: Die Klassik ist voller Arschlöcher. Dabei verzog sie keine Miene. Sie sagte es wie: Das war Bach, lieber Herr Tomanek. Wir hielten alle die Luft an, aber Tomanek bat sie nur freundlich, nach der Stunde zu ihm zu kommen. Wie eine zerbrechliche Vase hat er sie behandelt. Da habe ich zum ersten Mal gedacht, dass sie vielleicht Scheiße erlebt hat.

In unserem Klassenchat war sie eine Art Karteileiche. Sie beteiligte sich nie, aber sie verließ die Gruppe auch nicht. Und das wäre uns allen lieber gewesen. Denn wir fühlten uns nicht mehr sicher. Ihr spezieller Draht zu den Lehrern, ihr Tussi-Getue und ihr abfälliges Desinteresse an allem brachten ’ne Menge Unruhe in unsere Gemeinschaft. Wir erwarteten jederzeit einen digitalen Faustschlag. Aber nichts passierte. Wir interessierten sie einfach nicht. Und das war dann ja eher ein Glück. Denn alle waren sich einig: Kim war eine tickende Bombe. Und schon rein äußerlich war sie das genaue Gegenteil von mir. Sie hatte langes glattes Haar, war größer als die meisten unserer Jungs und unglaublich dünn. Okay, ich war weder sehr klein noch dick. Ich war eher normal. Dazu meine rotblonden lockigen Haare und eine sehr helle Haut, die noch nie Make-up gesehen hatte. Ich schminkte mich nur dezent, genau wie Yara, meine beste Freundin, die neben mir saß und mit der ich alles teilte, auch den roten Lippenstift, den wir auf Partys trugen. Oder auf dem Dach. Denn meine Eltern fanden ihn zu nuttig. Himmel. Nuttig. Ein bisschen Lippenstift. Sie hätten mal Kim sehen sollen. Die hatte sogar schon ein Tattoo. Am Handgelenk, was wohl bedeutete, dass ihre Eltern sehr liberal waren. In unserer Klasse durfte das keiner. Nur Lenny hatte sich illegal was stechen lassen. Sah aber auch scheiße aus. Das Tattoo von Kim war ’n professionelles. Um einen Planeten mit Smokey Eyes und Kussmund schwebte eine Art goldener Saturnring, den seitlich eine Perle zierte. Darunter stand sehr klein Kim Galaxy. Sie ist nicht von dieser Welt, sagte Lenny schwärmerisch, als er es zum ersten Mal sah, und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Aber Kim sog nur langsam Luft durch die Nase ein und seufzte.

Ab und zu hing sie mit Jungs aus der Oberstufe ab. Mit Mädchen habe ich sie nie gesehen. Bis zu jenem denkwürdigen Tag nach dem schönsten und schrecklichsten Wochenende meines Lebens. Da kam sie zu mir.

3

Es fing mit dem üblichen Irrsinn an: Meine Eltern stritten. Ich lag auf dem Dach neben der Luke zu meinem Zimmer und hatte den Kopfhörer auf den Ohren. 90 Dezibel. Das hatte Noise-Level angezeigt oder besser gesagt Battle-Level. So nannte ich die App, weil ich mit ihr vor allem den Streitpegel meiner Eltern maß. Jedenfalls reichten 90 Dezibel normalerweise, um meine Ruhe zu haben vor all dem, was um mich herum passierte. 90 Dezibel für eine heile Welt. Heute war mehr nötig. 100. Ich zog den Bügel auseinander.

»Du bist so …«, schrie meine Mutter. Schnell ließ ich die Hörer wieder über die Ohren schnalzen. So lieb, dachte ich, so ein guter Papa, so … Etwas knallte zwischen die Bässe. Ich nahm den Kopfhörer ab.

»NEIN«, schrie Papa. Dann Stille. Es war nur ein Nein, aber die Stille danach war lauter und schrecklicher als alle Schimpfwörter zuvor. Ich knallte die Dachluke zu und ließ mich zurück auf die Ziegel sinken. Sie waren noch ganz heiß, obwohl der Himmel schon verhangen war, eine rosa Wolldecke, angestrahlt von der untergehenden Sonne. Eigentlich der perfekte Hintergrund für ein Selfie. Aber mir schwante schon, dass ich mich an diesen Moment niemals erinnern wollen würde.

Bing. Eine Sprachnachricht. Bin fertig. Soll ich noch kommen?

Yara konnte immer kommen, egal wie spät es war. Bin auf dem Dach, antwortete ich. Yara schickte einen traurigen Smiley und einen Kussmund. Dachziegelblues? Zehn Minuten später kletterte sie über die Regenrinne und legte sich neben mich. Das war keine große Sache. Man musste nur auf eine Mülltonne steigen, dann auf den oberen Rand des Eingangstors, anschließend über die Balkonbrüstung und von da aus konnte man seitlich aufs Dach klettern. Wir hatten das schon hundertmal gemacht, einige Male auch nachts. Dann schaukelten wir im Dunkeln auf dem Spielplatz oder spähten bei Matteo, dem süßesten Jungen der Klasse, ins beleuchtete Fenster und beobachteten ihn dabei, wie er auf einen Punchingball boxte oder an seinem Rennrad herumbastelte. Im letzten Schuljahr konnte ich eine Weile neben ihm sitzen. Er hatte schöne Hände mit langen schmalen Fingern, an denen meist Spuren von Kettenöl klebten. Ich hatte sie oft betrachtet und einmal sogar heimlich fotografiert, unter dem Tisch. Ich hatte geträumt, wie schön ein goldener Ring an einer dieser Hände aussehen würde, und anschließend über mich selbst gelacht, weil es so abartig kitschig war. Yara neckte mich immer damit, dass Matteo und ich das ideale Paar abgeben würden, die Feierfüchse, denn wir waren nicht nur auf jeder Party zu finden, sondern auch die einzigen beiden in der Klasse mit rotblondem Haar. Und als Profilbild im Klassenchat hatten wir beide ein Fahrrad: Matteo sein heiß geliebtes Rennrad und ich mein altes Kinderrad, das eingewachsen im Garten stand, von lauter roten Rosen umrahmt wie eine schlafende Prinzessin. Dass ich das Bild extra für Matteo ausgewählt hatte, wusste natürlich nur Yara. Aber die sagte immer, man müsse ja nur eins und eins zusammenzählen. Und das war genau, was ich mir wünschte, dass Matteo eins und eins zusammenzählte.

»Hey«, sagte Yara, als sie sich neben mich plumpsen ließ.

»Hey.« Ich nahm die Kopfhörer ab.

»Frierst du nicht?« Yara berührte meine Hand. »Mensch, du bist ja kalt wie eine Leiche.«

»Dann ist ja gut.«

»War’s so schlimm?«

»Schlimmer.«

»Und jetzt?«

»Ich war noch nicht unten.«

»Du sitzt hier seit drei Stunden?« Yara rüttelte an meinem Arm. Ich reagierte nicht. Drei Stunden waren vergangen? Himmel. So lange hatten sie noch nie gestritten. Ich öffnete die Luke einen Spalt und horchte in die Stille, die nichts Beruhigendes hatte.

»Kann ich mit zu dir?«

»Klar, weißte doch.«

Wir lagen beide auf dem Rücken und blickten in die schwarze Nacht. Irgendwo klapperte Geschirr. Bing. Eine Nachricht im Klassenchat.

»Josh macht morgen eine Party«, sagte Yara, »er hat sturmfrei.« Wir sahen uns an und grinsten. Dann hoben wir unsere Hände und ließen sie flattern.

»Uhhhhhhhh, der Flüüügel.« Lachend ließen wir uns wieder zurücksinken. Joshs Mutter war Konzertpianistin und ihr Steinway das Herzstück des Hauses. Es durfte nichts darauf abgestellt werden und man sollte sich am besten einen Meter von ihm entfernt aufhalten. Sonst zitterten Joshs Lippen und er sprang panisch auf, um den Flügel zu verteidigen wie ein Ritter seine Festung. Aber das war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, als Sarah, mit einer Cola in der Hand, rückwärts auf das Instrument zugestolpert war. Josh hatte sich mit einem Hechtsprung dazwischengeworfen. Seitdem deckte er den Flügel mit Yogamatten ab, wenn er Leute einlud.

 

»Josh ist süß«, sagte Yara, »ob er eine Freundin auch so verteidigen würde?«

»Wenn er sie so liebt wie seine Mutter.«

Yara boxte mich in die Seite. Sie wollte einfach nicht zugeben, dass sie in Josh verknallt war.

»Du Biest.«

»Isabelle!« Durch die Dachluke schimmerte Licht. »Bist du da?«

Mama! Ich legte Yara eine Hand auf den Mund und flüsterte:

»Psssst.«

»Isabelle?« Mama war direkt unter der Luke, die locker auf dem Rahmen lag. Wir hielten die Luft an. Dann ging das Licht aus, eine Tür wurde zugezogen und es war wieder still.

»Hast du nicht abgeschlossen?«

»Vergessen.«

»Mist. Und jetzt?«

»Wir gehen zu dir.«

»Ohne was zu sagen?«

»Jep. Und ich nehm Lilly mit.«

»Du bist verrückt.«

»Nicht verrückter als meine Eltern.«

Lilly war mein Kaninchen und der Star auf meinem Instagramkanal @rabbitlove4ever. Da konnte ich sie doch in dieser feindlichen Umgebung nicht zurücklassen. Ich kletterte durch die Dachluke in mein Zimmer, nahm Lilly aus dem Käfig, setzte sie in eine kleine Transportbox und reichte sie Yara. Dann hangelte ich mich wieder auf das Dach und machte Licht mit meinem Handy. »Komm schon.« Ich kletterte vorsichtig zum Rand des Dachs und auf den Balkon. »Worauf wartest du?« Yara sagte nichts und folgte mir zögerlich, während ich ihren Weg beleuchtete. Fast geräuschlos erreichten wir fünf Minuten später den Bürgersteig und kurz darauf Yaras Zuhause.

»Da seid ihr ja.« Ihr Vater faltete seine Zeitung zusammen, als wir ins Wohnzimmer kamen. »Eben hat deine Mutter angerufen. Sie konnte dich nicht erreichen.«

»Ach ja«, sagte ich, »war auf stumm geschaltet.«

»Dann sag ihr am besten gleich Bescheid.« Er bemerkte die Kaninchenbox. »Willst du hier einziehen?«

»Gute Idee.« Yara und ich sahen uns an und grinsten. Dann verschwanden wir in ihrem Zimmer. Bin bei Yara, schrieb ich Mama. Dann machte ich das Handy aus.

4

In der Klasse war Joshs Party das Thema des Tages. Kaum drehte sich ein Lehrer zur Tafel, blickten alle unter den Tischen auf ihre Handys, um den Klassenchat zu verfolgen und Beiträge zu posten. Ich hatte Lilly heimlich auf dem Schoß und hielt ihr ein Stück Karotte hin, während ich mit der anderen Hand auf das Display meines Handys tippte. Vor mir saß Olli, groß wie ein Baum, hinter dem ich mich halbwegs verstecken konnte.

»Und wenn sie auf deine Hose macht?«, flüsterte Yara.

»Shit happens.«

Ich kritzelte einen kleinen Kackhaufen auf den Rand von Yaras Heft. Wir kicherten lautlos. Ich streichelte behutsam über Lillys Fell und schloss einen Moment lang die Augen. »Lilly beruhigt mich«, murmelte ich und Yara nickte verständnisvoll. Lenny kündigte im Chat an, eine Flasche Wodka mitzubringen, die sein großer Bruder besorgen könne, was zu einem endlosen digitalen Schlagabtausch führte. Von Alk is a bitch bis zu jubelnden Smileys und hochgereckten Daumen war alles dabei. Schließlich beendete Josh die Debatte mit einem kotzenden Smiley, Klaviertasten und einem gebrochenen Herzen. Das verstanden alle. Dann wechselte das Thema zu Klamotten und später zu Übernachten und Musik, bis es endlich klingelte. Ich schielte zu Matteo hinüber, der sich nicht am Chat beteiligt hatte.

»Der kommt bestimmt«, sagte Yara. Mein Blick war ihr nicht entgangen.

»Hauptsache, du kommst.«

»Klaro. Wollen wir vorher noch ein bisschen shoppen? Ich brauch ein neues Top.«

Da pirschte sich Matteo heran und blieb direkt vor uns stehen.

»Hey, Isi«, sagte er und zeigte auf Lilly, die nun in meiner Armbeuge lag, »dein Kaninchen hat definitiv das bessere Karma als ich.« Er grinste.

»Warum?«

»Es ist schon im Paradies.« Er seufzte theatralisch, umarmte uns beide und lief schnell Josh hinterher.

»Fährst du nicht nach Hause?«, rief ich ihm nach, denn wir hatten denselben Weg.

»Bin heute bei meinem Vater. Aber wir sehen uns ja später.«

»Oooooh, da muss wohl jemand schmachten.« Suri umarmte mich von hinten und säuselte mir ins Ohr. Yara kicherte.

»Ihr falschen Schlangen«, sagte ich lachend, woraufhin die beiden Zischgeräusche von sich gaben und ihre Arme um mich wanden, bis wir alle drei in ein festes Knäuel verwebt waren. Und dabei fiel mein Blick auf Kim. Ihre Augen glänzten feucht und waren starr auf das Handy gerichtet. Sie schob ihre Zähne über die Unterlippe, kaute darauf herum und sah auf einmal aus wie ein kleines Mädchen, das seine Eltern in der Menge verloren hatte und nicht wusste, was es nun tun sollte. Ich überlegte gerade, zu ihr zu gehen, um sie zu fragen, ob sie Hilfe brauche, da bemerkte sie meinen Blick. Sie fuhr zusammen, als hätte ich sie bei etwas erwischt, fingerte hektisch in ihrem Schminktäschchen herum, holte einen Spiegel heraus und wischte sich mit einem Finger die Lippenstiftreste von den Zähnen. Dann frischte sie ihr Make-up auf, zog den Lidstrich nach und legte neuen Lippenstift auf. Aber es änderte nichts. Ich hatte etwas von ihr gesehen, das sie unbedingt geheim halten wollte. Bing, machte mein Handy und eigentlich hätte dieses Bing eine laute Explosion sein müssen, 130 Dezibel, denn es zerfetzte alles, was meine heile Welt zusammengehalten hatte. BINGGGGGG! Komm schnell nach Hause, wenn du mich noch sehen willst, Papa.

5

Als ich mit Yara auf Joshs Party auftauchte, wurde schon getanzt und bis auf ein paar Chips und Colaflaschen war alles bereits verputzt worden.

»Da seid ihr ja endlich.« Josh stolperte uns entgegen, nachdem er sich durch die tanzende Menge gekämpft hatte. »Haben sie euch im Shoppingcenter eingeschlossen?« Er grinste. Aber dann sah er meine geröteten Augen und Yaras strafenden Blick. Er umarmte mich vorsichtig. »Was ist passiert?« Inzwischen waren auch Suri und Nelly dazugekommen.

»Ist wer gestorben?«, fragte Nelly.

»So ungefähr«, antwortete Yara. »Isis Papa ist ausgezogen. Besser gesagt, er hat einen Job in Tokio angenommen, als Auslandskorrespondent.«

»Ach, deshalb das Pic von Lilly als Mangacomic«, sagte Suri betrübt. Sie nahm meine Hände und streichelte sie. »Aber er kommt doch sicher bald wieder?« Ich schüttelte den Kopf.

»Paul kommt.«

»Paul?«

»Der Scheißpaul.«

Ich schob mich durch die Menge der Tanzenden, die mich freudig begrüßten, und ließ mich auf ein Sofa fallen. Yara setzte sich neben mich.

»Oh, der Platz im Paradies ist frei.« Matteo quetschte sich auf meine andere Seite.

»Das Paradies ist abgebrannt.«

»So heiß ist es da?«

Ich sah Matteo betrübt an.

»Und trostlos … Wir haben jetzt noch etwas gemeinsam«, sagte ich bitter.

»Was denn?« Matteo legte einen Arm um meine Schultern. »Vielleicht unkontrollierbare Zuckungen in den Mundwinkeln?« Er ließ seine Lippen hin- und herwandern, bis er mir schließlich einen Kuss auf die Wange gab.

»Nein, unkontrollierbare Eltern. Besser gesagt, getrennte Eltern.« Matteo wurde schlagartig ernst.

»Oh, Scheiße.«

»Jawoll«, sagte ich, »Scheiße.«

»Hör mal.« Matteo sprach nun ganz sanft. »Ich wohn ja sozusagen um die Ecke. Wenn du mich brauchst … also … komm einfach, ja?« Ich sah ihn an. Seine Augen waren der Hammer, grün wie Kleeblätter. Und einen Moment lang dachte ich, dass dieser grünäugige Prinz mich retten könnte, was auch immer passierte. Ich bräuchte nur aufzuspringen auf sein weißes Pferd.

»Danke.« Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und schloss die Augen. I’d catch a grenade for ya, dudelte es aus den Lautsprechern. Matteo nahm mich in den Arm und zog mich hoch.

»Throw my head on a blade for ya«, hauchte er mir ins Ohr und bewegte sich langsam mit mir auf die Tanzfläche, während er mich fest an sich drückte und sein warmer Atem meinen Nacken streifte. Matteo war mein bester Freund, solange ich denken konnte. Im Kindergarten hatten wir den Pfützenstrolch gejagt, in der Grundschule Pausenbrote geteilt und auf den ersten Partys war er wie mein Bruder gewesen, einer, bei dem man sich sicher fühlen konnte, weil es keine Hintergedanken gab. Aber dann, vor ein paar Wochen hatte sich plötzlich etwas verändert. Seine Augen waren nicht mehr einfach grün gewesen, sondern kleeblattgrün. Seine Stimme, die so vertraute, hatte mit einem Mal mein Herz in Schwingungen versetzt. Und wenn sich beim Tanzen unsere Wangen berührten, erblühte in mir ein neues zartes Pflänzchen, das sich um mein Herz rankte wie die Rosen um mein Kinderfahrrad.

I’d catch a grenade for ya.

Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen, überließ mich seiner Führung, schmiegte mich an seine Brust und hoffte, dass sein Herz ebenso pochte wie das meine. Alles andere verschwamm, wurde unwichtig, driftete ab in die düstere Unendlichkeit.

»Dornröschen«, flüsterte er.

Eine Träne lief mir über die Wange, salzlos vor Glück, und es gab nur noch diesen einen Moment, für alle Zeiten. Ich konnte Matteos Atem spüren, der immer näher kam …

Als ich blinzelte, blickten seine Kleeblattaugen mich liebevoll an. Jetzt könnten wir uns küssen, dachte ich. Die Welt drum herum würde sich drehen und glitzern wie ein Paillettenhimmel. Ich würde endlich die kleine Narbe an seiner Lippe berühren können, die in einem Grübchen verschwand, wenn er lächelte, und seine sanfte Stimme würde mir Liebkosungen zuraunen. Es würde alles gut werden, für immer … Jemand zupfte mich am Ärmel.

»Deine Mutter stand vor der Tür.« Josh zog entschuldigend die Schultern hoch. »Ich hab ihr gesagt, dass du gerade beschäftigt bist. Da ist sie abgerauscht.« Ich brauchte einen Moment, um aus der Ewigkeit aufzutauchen. Matteo lockerte seine Umarmung und ich kam schwankend zum Stehen. Fassungslos starrte ich Josh an.

»Super Moment, echt Mann.« Matteo schüttelte den Kopf. Josh grinste.

»Gerne wieder«, sagte er und verschwand in der Menge.

»Alles okay?« Matteo sah mich besorgt an. Ich versank in seinen grünen Augen, nickte und versuchte, die Gedanken abzuwehren, die sich gewaltsam zwischen uns drängten, mitten hinein in unsere Paillettenewigkeit. »Wollen wir?« Matteo öffnete die Arme und lächelte. Er war so wunderschön. Unsicher lehnte ich mich an ihn und wir wiegten uns wie zuvor. Aber der Zauber war verflogen. Ich tanzte verzweifelt dagegen an, sog Matteos Duft ein, schloss die Augen und ließ mich in seine Arme sinken, die eben noch die ganze Welt gewesen waren. Was wollte Mama? Warum dieser Paul? Warum ließ Papa mich allein? Und unerbittlich zog ein grauer Schleier über den glitzernden Paillettenhimmel. Was, wenn Matteo mich auch fallen lassen würde, wenn er etwas an mir entdeckte, was ihm missfiel? Wie konnte ich sicher sein, dass er es ernst meinte? Und wie schrecklich würde es sein, ihm zu begegnen, wenn er mich abgewiesen hatte. Ich müsste ihm immer aus dem Weg gehen, weil es so wehtun würde … Ich hatte meinen Vater verloren, ich wollte nicht auch noch meinen Traum verlieren. Ich wand mich aus der Umarmung und blickte Matteo entschuldigend an.

»Was ist?«

»Ich muss gehen«, sagte ich. Matteo nahm meine Hände und versuchte, mich an sich zu ziehen.

»Dornröschen.«

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte ihn nicht länger ansehen. Dieser Traum war alles, was ich hatte. Ich drehte mich um und flehte Yara an.

»Bitte lass uns gehen.«

»Jetzt schon? Wir sind doch gerade erst gekommen.« Ich fiel ihr um den Hals und drückte sie fest. »Was ist mit Matteo? Er sieht dich an wie ein verliebter Pudel.«

»Ach was. Bitte lass uns gehen«, drängte ich.

»Ich versteh’s zwar nicht, aber wenn du meinst …« Yara verabschiedete sich achselzuckend von Matteo und flüsterte ihm etwas zu. Er nickte und umarmte mich.

»Gute Besserung. Du weißt ja, wo du mich findest.«

»Danke.«

Es war ein merkwürdiger Abschied, als wäre etwas kaputtgegangen und wir würden so tun, als sei nichts passiert. Schnell bahnte ich mir einen Weg durch die Menge all meiner tanzenden Freunde, die mir zulachten und mich begrüßten. Kurz darauf waren wir draußen und liefen einige Minuten wortlos nebeneinander her. Schließlich brach Yara das Schweigen.

»Ich kann es nicht fassen, Isi. Was war das denn?« Sie gestikulierte wild in der Luft herum. »Das war doch der perfekte Moment. Die ganze Zeit wartest du darauf. Und dann lässt du Matteo einfach abblitzen? Ich fass es nicht.« Yara blieb stehen und sah mich an. Sie wartete auf eine Reaktion, aber ich lief einfach weiter, drehte mich nicht um, sagte kein Wort. Ich verstand mich selbst nicht. »ISI, jetzt warte doch!« Yara rannte hinter mir her. »Ich versteh ja, dass dich das mit deinen Eltern fertigmacht, aber Matteo …«

 

»Gar nichts verstehst du«, sagte ich scharf. »Deine Eltern sind zusammen.« Yara starrte mich an.

»Isi, ich bin’s, deine beste Freundin. Das meinst du nicht ernst, oder?«

Tränen liefen mir über die Wangen und der sternenlose Himmel hing wie eine Bleidecke über uns. Ich schlang meine Arme um Yara und drückte sie fest an mich.

»Tut mir leid«, sagte ich, »ich weiß auch nicht …«

»Schon okay.«

»Ich geh nach Hause, was immer das auch ist. Wir sehen uns in der Schule.«

»In der Schule? Wir haben Wochenende. Willst du dich die ganze Zeit verkriechen? Isi, komm schon.«

»Ich ruf dich morgen an.« Und bevor Yara noch etwas sagen konnte, gab ich ihr ein Küsschen und bog schnell in die nächste Straße ein.

»Mein Handy ist an – die ganze Nacht!«, rief sie mir nach. Aber ich antwortete nicht mehr, lief einfach weiter, immer weiter, am Haus meiner Eltern …, nein, meiner Mutter vorbei, bis zum Spielplatz, wo ich mich auf die Schaukel setzte und weinte. Alles fühlte sich plötzlich falsch an. Ich nahm mein Handy aus der Tasche und gab Tokio ein, dann Hamburg. 8994 Kilometer! So weit entfernt würde Papa nun leben. Dann gab ich meine Straße und die von Matteo ein. 214 Meter. So nah wohnte Matteo. Und beide waren sie unerreichbar. In Tokio ging jetzt gerade die Sonne auf. In meinem Herzen ging sie gerade unter.