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9

»Bitte?« Mama reagierte genau wie Poschek. »Was hast du?«

»Cibophobie.«

»Und was soll das sein?«

»Angst vor Essen.« Mama schnaubte wie ein Gaul. Die Lasagne stand dampfend auf dem Tisch, der für drei Personen gedeckt war. Paul saß auf Papas Platz. Es gab sogar Servietten mit bunten Blumen.

»Was soll das?«, fragte Mama. Ihre Stimme war dünn wie Pergamentpapier. »Und wie siehst du überhaupt aus?«

»Nuttig«, sagte ich. »Ich geh hoch.« Uhh, ausgerechnet Lasagne. Ich liebte Lasagne. Paul nieste in eine Blumenserviette. Mama ließ sich auf ihren Platz fallen. Sie wirkte verstört.

»Cibophobie gibt’s wirklich«, nuschelte Paul durch die Serviette hindurch und häufte sich anschließend eine doppelte Portion auf seinen Teller, »hab ich mal irgendwo gelesen, Wartezimmer oder so.« Er stopfte sich ein Riesenstück Lasagne in den Mund. Ich schlich die Treppe hoch, setzte mich auf die oberste Stufe und lauschte weiterhin, was unten passierte.

»Sie hatte noch nie vor irgendetwas Angst«, sagte Mama. »Noch nie.«

Doch Mama, du hast es nur nicht gemerkt. Ich hatte Angst davor, dass ihr euch trennt, Papa und du. Meine Stunden auf dem Dach, mit Kopfhörer, während ihr euch angebrüllt habt. Du hast nie etwas gemerkt. Ich habe die Sterne gezählt, die Wolken, die Vögel. Ich habe um mein Leben gezählt. Verdammt.

Paul schmatzte. Mama weinte. Ich konnte nicht fassen, dass sie Papa für diesen Hirni verlassen hatte, der die Sensibilität eines Rasenmähers und die Kauwerkzeuge eines Steinbeißers hatte.

»Das wird schon wieder.« Kussgeräusche. Bäh. »Die ist doch in der Pubertät. Da sind sie eh alle kleine Ungeheuer, oder?« Er schien die nächste Ladung intus zu haben und nuschelte. »Ich werd mal mit ihr reden, kenn mich da aus. Man muss nur an den richtigen Schräublein drehen … Das wird.« Ich war tatsächlich im falschen Film gelandet. Hatte er Mama Drogen gegeben? Sie hypnotisiert? Warum warf sie diesen Windbeutel nicht im hohen Bogen hinaus?

»Kennst du das von deinen Kindern?« Sie ging ernsthaft auf ihn ein. Moment mal – deinen Kindern? Der hatte Kinder? Und würden die auch bald hier einziehen?

»Jep«, sagte der Steinbeißer.

»Ich weiß nicht«, sagte Mama und das war definitiv nicht das klare Nein, das ich erwartet hatte. Ich verzog mich in mein Zimmer. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Lilly. Der Käfig stand offen. Ich starrte durch das Gitter, aber sie war nicht da. Ich wühlte mich durch das ganze Zimmer und sämtliche Klamottenstapel. Ich blickte unter jedes Möbelstück. Nichts. Ich durchsuchte alle Zimmer des oberen Stockwerks. Lilly war weg. Panisch durchsuchte ich das ganze Haus.

»Wo ist Lilly?« Paul häufte sich gerade den letzten Rest Lasagne auf den Teller.

»Lilly? Ist das deine Freundin?«, fragte er scheinheilig und wich meinem Blick aus.

»Mein Kaninchen«, schrie ich ihn an, »das Viech, auf das du allergisch reagierst. Wo ist sie?« Mamas Augen weiteten sich. Sie blickte zu Paul und schnappte nach Luft.

»Du hast doch nicht …?« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund.

»Was?«, schrie ich. Paul blickte stumm auf den Tisch. In seinem Mundwinkel klebte Tomatensoße.

»Wo ist Lilly?« Ich schluchzte los. Paul zog entschuldigend die Schultern hoch.

»Das war eine Überlebensfrage«, sagte er leise, »sie oder ich.«

»Was?«

»Keine Sorge. Sie ist im Garten. Hab ihr ein Freigehege gebaut. Sie futtert gesundes Gras und freut sich, dass sie mal rauskommt. Ist doch auch besser, als in einem engen Käfig vor sich hin zu vegetieren.« Eine unerträgliche Sekunde lang starrten Mama und ich uns fassungslos an. Dann rannte ich ins Wohnzimmer, riss die Gartentür auf und stürzte auf ein Carré aus Blumenkübeln und umgestürzten Plastikstühlen zu. Das Arrangement war ein Witz für Kaninchen. Mit einem müden Hopser hatte Lilly die Barriere überwinden können. Panisch durchpflügte ich den Garten.

»Lilly?« Nichts. Sie war nicht da. Nirgends. Zu den Nachbargrundstücken gab es keine Zäune, nur Hecken. Ich quetschte mich durch die piksigen Zweige, die mein Gesicht zerkratzten. Ich dachte an Papa. Ich dachte an Auswandern. Auch in den anderen Gärten war Lilly nicht. Irgendwo, drei Grundstücke weiter, ließ ich mich auf ein Mäuerchen sinken und weinte. Diese Mine hatte der Scheißpaul gezündet und in meinem Kopf explodierte sie hundertfach.

»Isabelle? Wo bist du?« Mama. Ich sagte nichts. Ich würde überhaupt nie mehr etwas sagen. Und dann sagte ich doch etwas:

»Paul oder ich!«

Noch am selben Abend musste Paul überstürzt verreisen. Ein klares Statement war das nicht. Aber wenigstens war er weg. Mama half mir Vermisstenanzeigen zu schreiben, die wir in der ganzen Umgebung aushängten. Weitere Fotos unter @rabbitlove4ever, stand unter einem Pic von Lilly, auf dem sie einen kleinen Wanderrucksack trug, der früher meiner Puppe gehörte. Zu meinem Outfit sagte Mama nichts mehr. Aber wenn Passanten unseren Weg kreuzten, stellte sie sich immer vor mich und nestelte an ihrer Jacke herum, die sie dabei weit öffnete wie einen Vorhang. Yara half uns. Sie war sofort gekommen, nachdem ich ihr in einer Sprachnachricht erzählt hatte, was passiert war.

»Hast du Matteo schon gefragt?«, sagte sie. »Der wohnt doch ums Eck.«

»Da ist eine Straße dazwischen.«

»Ja und? Können Kaninchen keine Straßen überqueren oder was?« Plötzlich nervten mich ihre Kuppelversuche.

»Yara«, sagte ich gereizt, »der erkennt Lilly doch sowieso.« Sie gab beleidigt auf. Doch als wir um zehn Uhr immer noch erfolglos durch die Nachbarschaft streiften und in jedem Gebüsch nachsahen, verabschiedete sie sich gähnend.

Allein in meinem Zimmer, ohne Lilly, überkam mich das Gefühl einer bodenlosen Einsamkeit. Papa war weg. Lilly war weg. Mama setzten offensichtlich die Wechseljahre zu oder Paul hatte sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Matteo vertraute ich nicht mehr, seit der Wette. Und dann auch noch die Schwindelei, die wie ein kleiner Splitter in der Freundschaft mit Yara steckte. Ich war bei Sturm auf offener See und das Einzige, das mir geblieben war, war mein nacktes Leben in diesem okayen Körper. Ich musste etwas tun, um nicht verrückt zu werden. Alles lief aus dem Ruder. Nichts passte mehr, also musste irgendetwas passend gemacht werden. Mir fiel Kims Nachricht wieder ein und ich las sie noch einmal. Willst du Tipps?, hatte sie geschrieben. Das könnte die rettende Insel sein! Ich wählte einen hochgereckten Daumen und schickte ihn ab. Sofort stand online in der Statuszeile. Kim schrieb. Sie schrieb lange. Doch es kam keine Antwort. Ich warf das Handy aufs Bett, riss alle Kleider, die noch nicht verstreut in meinem Zimmer lagen, aus dem Schrank und häufte sie auf einen Stapel am Boden. Anschließend stopfte ich sie, bis auf ein paar wenige, alle in Plastiksäcke und brachte sie auf den Speicher. Die Leere tat gut. Jetzt musste ich mich neu erfinden.

Bing, machte mein Handy. Eine Nachricht von Kim. Sie hatte mir einen Link geschickt, kommentarlos. Ich klickte ihn sofort an. Es war ein Tutorial von @Beauty_is_the_goal. Von dem Kanal hatte ich noch nie gehört. Ein sehr hübsches Mädchen, das Kim verdammt ähnelte, verwandelte sich darin von einer normalen Schülerin in eine Art Supermodel, das fünf Jahre älter aussah. Jeder Schritt wurde genau erklärt, sogar mit Links zu den Onlineshops. Es gab verblüffend einfache Tricks, dem eigenen Look eine völlig neue Richtung zu geben. Genial! Ich abonnierte den Channel, schob alle Produkte in den Warenkorb, die ich für mein Upgrade brauchte, und wählte Expressversand. 689 Euro. Verdammt. Aber es gab kein Zurück mehr. Ich plünderte mein Konto, auf das meine Omi seit Jahren monatlich zehn Euro einzahlte, für den Führerschein. Aber was sollte ich mit dem Ding, wenn ich längst ertrunken war. Ich brauchte es jetzt, für meine Operation Rettungsinsel.

10

Am nächsten Tag schwänzte ich die Schule und blieb im Bett. Ich hatte nichts mehr anzuziehen. Gegen Mittag klingelte es an der Tür. Mama war bei der Arbeit. Ich zog einen Bademantel an und nahm drei gigantische Pakete entgegen. Mein Herz klopfte Gangnam, als ich sie öffnete. Das war wie Weihnachten hoch zehn. So coole Sachen hatte ich noch nie besessen. Ich zog die erste Hose an und blickte in den Spiegel. Verdammt. An dem Mädchen aus dem Tutorial hatte sie wunderschön ausgesehen, aber an mir? Nur mit Mühe bekam ich den Knopf zu, und das bei Größe 36. An den Oberschenkeln quetschte sie mir fast das Blut ab, während sie an den Waden etwas schlabberte. Frustriert warf ich eine Decke über den Spiegel und zog schnell ein langes Shirt an, das am Rücken weit ausgeschnitten war. So konnte ich den Hosenknopf offen stehen lassen. Das Shirt passte, aber der rosa Ausschnitt biss sich mit meinen roten Haaren. Ich steckte sie hoch und probierte die Schuhe an. High Heels traute ich mir noch nicht zu, aber diese halbhohen Stiefeletten dürften kein Problem sein. Sie saßen perfekt. Und Perfektion war mein Ziel. Perfektion würde mir Halt geben. Das Make-up aufzutragen fühlte sich toll an, wie eine Maske, hinter der ich alles verstecken konnte, vielleicht sogar mein altes Leben. Für die Augen brauchte ich fast eine Stunde. Himmel, war das kompliziert. Wie schaffte Kim das alles morgens vor der Schule? Dann der Lippenstift, ein helles leichtes Rot. Als ich fertig war, stellte ich mich vor den verhüllten Spiegel wie bei Germanys Next Topmodel. Der erste Blick nach dem Make-over. Ich zog die Decke weg und erstarrte … Mein erster Gedanke: Miss Piggy nach einer Nasen-OP. Ich warf mich aufs Bett und heulte zwei Pakete Taschentücher durch, die sich schillernd verfärbten. Anschließend sah mein Gesicht aus wie nach einem Farbbeutelanschlag. Ich eskalierte komplett, schleuderte die Stiefeletten durch das Zimmer, pellte mich aus der viel zu engen Hose, riss an dem Shirt, dass die Nähte kreischten, und verschwand in der Dusche, wo ich eine halbe Stunde lang an meinem Gesicht herumrubbelte, bis es aussah wie eine rote Warnlampe. Bing, bing, bing, machte das Handy in einem fort. Flüchtig blickte ich auf die Chatliste. Yara, Matteo, Josh, Suri, Anouk … die halbe Klasse hatte mir Nachrichten geschickt. Bloß nicht öffnen, sonst kam ich um Antworten nicht herum. Ich schmiss das Handy in eine Zimmerecke. Gleich darauf suchte ich es jedoch verzweifelt in einem Kleiderhaufen, und als ich es fand, drückte ich auf Kim und tippte: Das Tutorial ist cool, aber … Ich fügte einen verzweifelten Smiley hinzu und wählte senden. Wieder war sie sofort online, aber nur für ein paar Sekunden. Keine Antwort. Die Welt war ein unendlicher, trostloser Ozean und ich eine einsame fette Seekuh. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich ließ es klingeln. Aber beim dritten Mal schrillte es minutenlang. Also zog ich schnell einen Bademantel an und schlurfte zur Tür. Und da stand Kim, wie aus dem Ei gepellt.

 

»Lass mal sehen«, sagte sie und ging einfach an mir vorbei ins Haus. Himmel, Kim. Ich zog mir noch die Kapuze über den Kopf. Aber es war lächerlich. Sie hatte die Situation sofort durchschaut. Dann schien sie in Sekundenschnelle unsere Wohnung zu scannen und steuerte zielstrebig die Treppe zur oberen Etage an. »Die Sachen hast du noch?« Ich wackelte hinter ihr her wie ein Pinguin. Seekuh, Pinguin. Ich mutierte in Lichtgeschwindigkeit durch die Fauna.

»Welche Sachen?« Kim balancierte die Treppe hoch wie über den Laufsteg einer Modenschau und schien mich gar nicht zu hören. Es gab drei Türen, aber sie öffnete zielsicher die meine und blieb im Eingang stehen. Ich schob mich an ihr vorbei. Wieder dieser abartige Blick. Ich konnte spüren, wie sie blitzschnell Schlüsse zog. Die Wolldecke, halb über dem Spiegel hängend; die umgestülpte Jeans, achtlos weggeworfen; die fleckigen Taschentücher im Mülleimer; die über das ganze Zimmer verstreuten Kosmetika.

»Aha«, sagte sie bloß, schritt auf das traurige Häufchen Klamotten zu und zog ein schwarzes Top heraus, das ich seit Monaten nicht mehr getragen hatte. Dann sah sie sich das neue Shirt an und drückte mir beides in die Hand. »Drunter das Top, drüber das Shirt, aber mit der Rückseite nach vorne.« Sie stocherte mit einem Zeigefinger in den restlichen Sachen herum wie in einer Kloake, zog eine Hose heraus, warf sie mir zu und desinfizierte sich anschließend die Hände. »Schneid sie an den Knien auf und näh das Label von der neuen Hose über das H&M-Schild. So muss es fürs Erste gehen.« Sie zeigte auf eine der Stiefeletten, die unter dem Schreibtisch lag. »Passen die?« Ich nickte. »Na also.« Zufrieden ließ sie sich auf mein Sofa herabgleiten und verschränkte die Arme. Ich musste schrecklich ausgesehen haben, wie ich da vor ihr stand, im schlumpfblauen Bademantel mit verheulten roten Augen. »Was ist?«, sagte sie. »Ich muss noch Hausaufgaben machen. Also los!« Kim und Hausaufgaben? Das war wie Papa und Paul. Aber ich sagte nichts, bekam ja schließlich von Kim, der Erscheinung Kim, ein kostenloses Coaching. Also ließ ich mir von ihr die erste Lektion in Sachen Styling erteilen. Die neue Klamottenkombination stand mir tatsächlich gut, und während wir vor dem Spiegel saßen und sie mir Schminktipps gab, wurde ich immer lockerer, denn es schien ihr wirklich Spaß zu machen, ihr umfangreiches Wissen weiterzugeben. Sie kam richtig in Fahrt. Es war das erste Mal, dass ich sie mehr als einen Satz am Stück reden hörte. Und es war auch das erste Mal, dass sie lachte. Lenny wäre dahingeschmolzen. Wahrscheinlich hätte er sie jetzt bezaubernd genannt anstatt affengeil oder hammermäßig.

»Bist du eigentlich auf Instagram?«, fragte ich, während sie meine Haare glättete.

»Klar, mein Account heißt KimGalaxy.« Sie entblößte ihr Handgelenk und hielt mir ihr Tattoo vor die Nase.

»Cool.« Ich überlegte kurz, wie wohl ein Kaninchentattoo bei mir aussehen würde, verwarf die Idee aber sofort wieder. Schließlich vergingen drei Stunden, bis ich die neuen Klamotten halbwegs selbstständig kombinieren und mich schminken konnte. Dann hielt Kim ihre Schlussrede, die wie eine Art Mantra für meinen Überlebenskampf werden sollte.

»Die Optimierung deines Körpers wirkt wie ein Resonanzverstärker«, hob sie an, »er ist ein Rohstoff, den du verändern und damit verbessern kannst. Alles um dich herum kann sich jederzeit auflösen – zum Beispiel deine Familie. Aber dein Körper bleibt. Er ist deine einzige Sicherheit. Und um von der Welt gesehen zu werden, musst du Aufmerksamkeit bekommen, Likes. Sonst existierst du praktisch nicht und niemand wird sich je an dich erinnern. Die Welt ist dein Warenhaus. Du musst dich nur bedienen und gut in Szene setzen. Und ich bin deine Regieassistentin, die dir bei der Inszenierung hilft.« Es klang wie auswendig gelernt, aber ich wollte ihr jedes Wort glauben. Ich hing an ihren Lippen, denn sie sagte genau das, was ich brauchte, was mich wiederaufrichten würde. Ja, mein Körper war meine Sicherheit. Der konnte mich nicht verlassen, und wenn ich ihn gut formte und verpackte, würde er mich auch nicht enttäuschen. So einfach war das. Ich klammerte mich also an Kims »Mantra« und baumelte willig in ihrem Netz, während mich die bezaubernde Spinne langsam einwickelte. Wir waren gerade dabei, meine endlich mal glatten Haare zu kämmen, als Mama hereinkam.

»Oh, Besuch«, sagte sie. »Ist Isabelle im Bad?« Kim und ich sahen uns an, prusteten laut los und schlugen die Hände ein. Mama blickte verwirrt, bis sie mich erkannte und sowohl Augen als auch Mund aufriss. »Isabelle?!«, sagte sie.

»Bingo.« Ich warf die Haare über die Schulter, wie Kim es immer tat, und strahlte überglücklich.

»Easy passt jetzt besser«, sagte Kim, während sie sich die Hände desinfizierte. »Easy wie voll easy

»Und wer bist du?«, fragte Mama.

»Ich bin Kim, Easys persönliche Beraterin.« Das klang so genial. Meine persönliche Beraterin. Wahnsinn.

11

Mama redete den ganzen Abend auf mich ein. Es war die Hölle.

Sie dreht komplett durch, schrieb ich Kim.

Das zählt schon fast als Like, schrieb sie zurück und postete einen Zwinkersmiley. Jetzt ändern sich die Dinge endlich, dachte ich und fühlte mich großartig. Wenn ich in den Spiegel blickte, sah mich eine neue Isi an, noch nicht ganz perfekt, aber immerhin getuned und fast nicht wiederzuerkennen. Eine Isi, die so schnell nichts umhauen würde. Ich machte ein Selfie und schickte es Papa. Hey, hast du eine große Halbschwester, von der ich nichts weiß und die für eine Modelagentur arbeitet?, schrieb er. Bingo! Papa hatte es einfach drauf. Mama dagegen war ein Nervenbündel. Sie zeterte herum und versuchte ständig, mir die Haare zu verwuscheln. Ich floh in mein Zimmer und schloss die Tür ab. Und da saß Yara, mitten auf dem Teppich. Ich erschrak fürchterlich.

»Darum antwortest du also nicht«, sagte sie vorwurfsvoll und schwenkte ein Fläschchen Desinfektionsmittel in der Luft, das Kim wohl vergessen hatte.

»Hat sich aber gelohnt, oder?« Ich strahlte und drehte mich vor ihr, um meinen neuen Look zu präsentieren.

»Na, ich weiß nicht, vorher hast du mir besser gefallen.« Das war nun gar nicht, was ich hören wollte. »Aber Hauptsache, du wirst nicht auch noch so arrogant wie Kim.«

»Yara, du täuschst dich. Kim ist gar nicht so. Die war total nett und hat mir stundenlang alles gezeigt, einfach so.« Ich ließ mich neben Yara gleiten und versuchte, dabei so elegant wie Kim auszusehen. »Die würde dir bestimmt auch helfen.«

»Mir helfen?« Yara quiekte. »Warum denn helfen? Sie ist doch diejenige, die Hilfe braucht, nicht ich.«

»Da täuschst du dich schon wieder. Sie hat alles im Griff.«

»Ach so. Und ich nicht oder was?« Yara war richtig in Rage.

»Mensch, du weißt doch, wie ich das meine.«

»Nein, das weiß ich nicht. Kim hat nicht mal Freunde.«

»Woher willst du das wissen? Vielleicht hat sie ja ganz besonders tolle Freunde, nur eben nicht in der Schule. Und sie hat einen eigenen Kanal und mehr Follower als wir alle zusammen.« Ich öffnete @KimGalaxy auf meinem Handy und zeigte Yara den jüngsten Beitrag: Kim in einem Leopardenmantel, mit leicht geöffnetem Mund, der den Blick auf ein paar spitze, funkelnde Reißzähne preisgab. »Sie weiß auch, wie man die Pics bearbeitet. Das zeigt sie uns bestimmt.«

»Und dann finden wir ’nen Haufen toller neuer Freunde oder was?« Yara stand auf und baute sich vor mir auf. »Isi, was ist nur mit dir los? Hallo! Wir brauchen keine Follower. Wir sind die einzige Klasse in der Schule, vielleicht sogar die einzige ever, die so eine tolle Gemeinschaft hat. Wir sind unsere Follower.«

»Außer Kim«, sagte ich.

»Jahaaa, außer Kim. Aber auf ihr rumhacken tut trotzdem keiner, obwohl sie viel Angriffsfläche dafür bietet.« Yara setzte sich wieder neben mich, ganz nah, und drückte auf ihrem Handy herum. »Sieh mal, was Matteo mir geschrieben hat.« Sie hielt mir das Handy vors Gesicht und als ich nicht reagierte, las sie laut: »Yara, ich mach mir Sorgen um Isi. Sie liest meine Nachrichten nicht. Ist sie zu ihrem Vater? Bitte sag Bescheid, wenn du was weißt.« Yara steckte das Handy weg. »Es macht mich fertig, dass du dabei bist, alles kaputt zu machen. Und das mit der Wette ist auch so ein Hirnfurz von dir.« Sie nahm meine Hände und sah mich flehentlich an. »Ich weiß, hier bei dir zu Hause dampft gerade die Scheiße, aber wir sind doch noch da, deine Freunde.« Sie rüttelte an meinen Händen. Ich hörte alles und spürte, wie sie an mir zog, mit all ihrer liebevollen Verzweiflung, aber ich hing schon zu sehr in Kims Netz, das eine neue Sicherheit versprach, und wollte mich nicht daraus befreien lassen, obwohl es wehtat. Ein notwendiges Übel, dachte ich mir. Es gehörte nun mal zu meinem Veränderungsprozess, wie Schmerzen zum Stechen eines Tattoos gehörten. Und dann tat ich etwas völlig Bescheuertes. Ich nahm das Gel von Kim und desinfizierte mir die Hände. Yara sprang auf. Tränen liefen ihr über die Wangen. Es tat mir sofort leid, aber ich sagte nichts, war ja eine andere jetzt. Ich sah sie wie aus weiter Entfernung aufspringen und wortlos das Zimmer verlassen. Weinen durfte ich nicht, Kim hatte sich so viel Mühe mit meinem Make-up gegeben.

12

Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf und machte alles genau so, wie Kim es mir gezeigt hatte. Ich brauchte mehr als eine Stunde, bis ich zufrieden war. Mama war zum Glück schon bei der Arbeit und konnte mir keine Szene machen. Mit fünf Minuten Verspätung betrat ich den Klassenraum, ausgerechnet bei Krätzer, dem schärfsten Hund der Schule. Wir hatten ihn in Deutsch, was seitdem nicht mehr mein Lieblingsfach war. Wenn man bei Krätzer zu spät kam, wurde man für eine halbe Stunde vor die Tür geschickt und sollte in der Zeit über sein Leben nachdenken. Die Ergebnisse musste man dann schriftlich zusammengefasst in sein Fach legen lassen. Ich hatte mir deshalb schon einige Gedanken über Lilly, ihren Verlust und die Auswirkungen auf mein vegetatives Nervensystem zurechtgelegt, als ich den Raum betrat.

»Guten Morgen.«

»Ja, bitte?« Krätzer lächelte. Warum lächelte der?

»Sorry, bin mit dem Absatz im Gitter hängen geblieben«, log ich.

In Krätzers Oberstübchen war die Hölle los. Die Stirn zuckte hin und her. Das Lächeln erstarrte für einen Moment, bis es absackte wie ein Reifen, aus dem man die Luft abließ.

»Isabelle?« Er hatte mich tatsächlich erst jetzt erkannt. Wie cool war das denn? Ich nutzte die Gunst des Moments und wackelte so elegant wie möglich durch den Mittelgang zu meinem Platz. Tuscheln ging gar nicht bei Krätzer, aber es wurde getuschelt. Und wie. Ich zwinkerte Kim zu, die auf ihre unnachahmliche Art und Weise reagierte. Sie blickte auf ihr Handy und machte ein Foto von mir. Ich wertete das als Zustimmung. Krätzer schien kein passender Kommentar einzufallen und er stotterte ein wenig herum, bis er den Unterricht einfach fortsetzte. Echt irre. Um Krätzer zu verunsichern, musste man schon ganz großes Kino abliefern. Ich war zufrieden. Yara schob mir einen Zettel rüber. Ich faltete ihn auf.

Da du nicht mehr in den Chat guckst: Bei Latifa steigt Freitag eine Party. Kommst du?

Klar, schrieb ich und: sorry wegen gestern. Dann schob ich den Zettel zurück.

Was ist mit Lilly?, schrieb Yara darunter. Ich zeichnete einen traurigen Smiley und schob das Blatt zurück. Dann wagte ich einen Blick zu Matteo. Es schmerzte schon ein bisschen weniger, ihn anzusehen, wie ein verblassender Traum. Er tat so, als hätte mein Blick ihn wie ein Pfeil getroffen, und hielt sich beide Hände theatralisch über die Brust. Dann grinste er. In meinem Herzen zuckelte es und ich wandte mich schnell Krätzer zu, der gerade Wilhelm Tell zerlegte. Das Handy in meiner Hosentasche vibrierte Sturm. Die Klasse war in Aufruhr. Ein Schäfchen drohte aus der Herde auszubrechen. Ich versuchte, mich weiter auf die Symbolik von Äpfeln zu konzentrieren. Am Ende der Stunde winkte Krätzer mich mit einer Handbewegung zu sich.

 

»Isabelle, was auch immer dich gerade reitet, vergaloppier dich nicht.«

Er hob seine buschigen Brauen in die Höhe und sah mir so tief in die Augen, dass mir mulmig wurde. Er rührte in meinem Innersten herum, bis mir fast die Tränen kamen.

»Tell ist ja echt angepisst.« Kim stand plötzlich neben mir und sprach, was ja wie gesagt selten vorkam. Krätzer ließ endlich von mir ab und sah Kim an.

»Wie meinst du das?« Während er auf eine Antwort wartete, konnte man deutlich sehen, wie seine Nasenflügel zitterten. Er war kurz vorm Ausrasten.

»Na wie ich’s gesagt habe, angepisst. Etymologisch von pissen, urinieren. Hier im Sinne von richtig scheiße dran sein.« Krätzer starrte sie an. Wahnsinn.

»Hört mal, ihr beiden«, sagte er sehr langsam und drohend, »wenn ihr mich verkackeiern wollt, dann müsst ihr euch aber warm anziehen.«

»Verkackeiern?« Kim machte auf Unschuldslamm und schob die Schmolllippen nach vorne. »Wie meinen Sie das?« Krätzer schnappte seine Tasche.

»Das gebe ich dir heute als Hausaufgabe auf: Etymologische Herleitung von Verkackeiern. Und Kim«, er senkte Kopf und Stimme. »Du hast eine Vereinbarung mit der Schule, vergiss das nicht.« Er zog mich ein wenig zur Seite. »Isabelle, setz nicht aufs falsche Pferd. Der schillerndste Schimmel im Stall ist nicht immer die beste Wahl.« Und weg war er. Kim lächelte zufrieden und stolzierte auf ihren Platz zurück. Hatte sie das jetzt für mich getan? Und dann ging’s los. Latifa war die Erste, die mich löcherte.

»Isi, was ist denn los? Ich hab dir ’ne Einladung geschickt.«

»Sie hat sich doch auch schon in Schale geworfen«, sagte Lenny. »Hält das bis Freitag?« Er wollte mir mit einem Finger über das Gesicht streichen, aber ich wich schnell zurück.

»Hey, du Spacko, geht’s noch?«

»Mit so viel Paste in der Fresse würde ich ja vornüberkippen«, legte er nach und lachte über seinen eigenen Witz.

»Ach ja, aber bei Kim gefällt’s dir oder was?«

»Hey hey, nicht beißen. Kim is ’ne Professionelle. Die hat ’nen heißen Fashionchannel.«

»Verstehe. Und warum sprichst du nie mit ihr? Wer hat schon ’ne Professionelle in der Klasse?«

»Hab’s versucht«, grinste Lenny, »aber es kamen gleich ihre Bodyguards aus der Oberstufe.«

»Und hier, jetzt? Die Bahn ist frei.« Ich zeigte zu Kim, die mal wieder mit ihrem Handy beschäftigt war und Kussmünder ausprobierte.

»Hey, sie braucht ja auch ein bisschen Privatsphäre, oder?«

»Ach so, verstehe. Die könnte ich jetzt auch gebrauchen.«

»Isi, Isi, die ist ’ne Nummer zu abgehoben für dich. Komm wieder runter zu uns auf die Erde.«

»Hey, Abheben klingt gut«, sagte ich, »nach Freiheit.«

»Lenny, übertreib’s nicht«, mischte sich Anouk ein, »man kann doch mal was ausprobieren.«

»Ah, stimmt, der Zwillings-Look ist ja gerade trendy«, sagte Lenny unbeirrt und zeigte auf Kim, die sich für das nächste Selfie präparierte und nichts mitzubekommen schien. »Dann musst du aber noch an deinen Röllchen arbeiten.« Lenny kniff mir in die Seite und grinste. Matteo zog ihn von mir weg.

»Lenny, lass gut sein. Das ist unsere Isi. Die Isi, die dich nach Hause geschleift hat, als du hacke warst. Die Isi, die deine Eltern abgelenkt hat, um dir den Arsch zu retten. Die Isi mit den coolsten Partys der westlichen Hemisphäre.« Er schüttelte Lenny. »Angekommen?« Lenny nickte und verzog sich. Aber ich war längst auf meiner Insel, weit, weit weg, und konnte nur an einen einzigen Satz denken, der in mir rumorte wie ein hungriges Ungeheuer. Dann musst du aber noch an deinen Röllchen arbeiten, hatte Lenny gesagt. Und sofort fühlte ich mich wieder fett wie eine schwangere Seekuh und verlor all meinen neu gewonnenen Glanz.

»Sehen wir uns später?«, fragte Yara. Ihr Blick verriet, dass ein Nein nicht infrage kam.

»Okay«, sagte ich, »gehen wir joggen.«

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