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6

Den Samstag verbrachte ich mit Lilly. Wir lagen zusammen auf der Bettdecke und mümmelten Karotten. Ich machte ein paar Fotos von ihr für Instagram, war aber nicht zufrieden mit den Ergebnissen. Ich brauchte irgendetwas Neues und sah mir wahllos einige Tutorials auf YouTube an. Am Mittag kam Mama mit einem Teller Suppe herein.

»Bist du krank?«, fragte sie vorsichtig und setzte sich auf den Bettrand.

»Hm«, machte ich. Mama streichelte Lilly.

»Lilly auch?«

»Hm.«

»Ich weiß, dass das alles schwer für dich ist …«, begann sie, schwieg aber gleich wieder und rührte mit dem Löffel in der Suppe herum. Sie sah heute auffällig hübsch aus, hatte die rotblonden Locken hochgesteckt, war dezent geschminkt und trug ein enges Kleid mit einem tiefen Ausschnitt. »Hör mal, Schätzchen, ich bleib zu Hause, wenn du mich brauchst.« Sie strich mir über das Haar. »Ich kann die Verabredung auch absagen.«

»Nein«, sagte ich grimmig, »das kannst du dem Paul doch nicht antun. Geh lieber zu ihm. Oder hast du schon wieder einen Neuen?« Mama sah mich entsetzt an und sofort tat es mir leid.

»Nein, Isabelle«, sagte sie streng, »ich habe keinen Neuen. Und dein Papa ist auch kein Heiliger, den du bis aufs Blut verteidigen musst. Die Dinge können sich ändern. Das ist nun mal so. Und es tut mir sehr leid.« Sie blickte mich traurig an. »Paul ist kein schlechter Mensch. Und ich auch nicht. Gib ihm eine Chance.« Es klang wie ein Satz aus einer dieser billigen Vorabendserien. Ich lachte bitter.

»Nachdem ihr mein Leben zerstört habt?«

»Dein Leben können wir nicht zerstören.« Mama liefen Tränen über die Wangen, die sie schnell wegwischte. Ich hasste mein schlechtes Gewissen, denn ich fand, dass es in diesem verdammten Fall nur mir zustand, traurig zu sein. »Dein Leben kannst nur du selbst zerstören.« Teil zwei der Vorabendserie. Mama stand auf und stellte die Suppe auf meinen Schreibtisch. Es klingelte an der Tür. »Ich hab das Handy dabei. Bitte melde dich, wenn du mich brauchst, ja?« Ich antwortete nicht. Ich brauchte niemanden, der mich deprimierte. Ich hörte, wie Mama die Tür öffnete und ein Mann mit pelziger Stimme sie freudig begrüßte. Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss und eine unerträgliche Stille blieb zurück. Ich setzte die Kopfhörer auf und zog die Lautstärke hoch. 80 Dezibel. Die Dinge können sich ändern, hatte Mama gesagt. Die Dinge. War unsere Familie ein Ding? War ich ein Ding? War ich auch austauschbar, wie Papa? Wie irgendein Möbelstück? 90 Dezibel. Etwas donnerte in einem anderen Takt. Ich öffnete die Augen. Yara trommelte von außen auf die Dachluke und zog erleichtert die Augenbrauen hoch, als ich die Kopfhörer abnahm. Ich öffnete das Fenster.

»Na endlich!«, sagte Yara, »ich dachte schon, ich müsste hier übernachten.« Sie schüttelte ihre Hände aus. »Kommst du rauf oder soll ich reinkommen?«

»Ich komm schon.« Ich kletterte durch die Luke und setzte mich neben Yara auf die Dachziegel. »Luft.« Es tat wirklich gut. »Da unten wäre ich fast erstickt.«

»Hauptsache, du lässt den Gashahn zu.« Yara umarmte mich und gab mir ein Küsschen. »Du Huhn, rufst mich einfach nicht an.«

»Bog bog bog.« Ich flatterte mit angewinkelten Armen.

»Na, zum Glück geht es dir wieder besser.«

»Besser? Als Huhn?«

»Ich hab den Neuen von deiner Mutter gesehen. Sag mal, wie alt ist der eigentlich?«

»Warum?«

»Sieht aus wie so ein Typ aus dem Fitnessstudio, höchstens 30.«

»Die Dinge ändern sich eben.«

»Hä?«

»Hat meine Mutter gesagt: Die Dinge ändern sich.«

»Na, dann änderst du einfach auch die Dinge.« Arme Yara! Wenn sie gewusst hätte, was sie damit in Gang setzte.

»Wie meinst du das?«

»Eine Ehe ist doch so eine Art Abmachung, oder?«, fragte Yara. »Sie haben sich also nicht an die Abmachung gehalten. Dann musst du dich ja auch nicht an Abmachungen halten, oder?« Ich setzte mich auf.

»Hey, du hast recht.« Ich zog das Gummi aus meinen Haaren und verstrubbelte sie. »Weißt du, wie ich Montag in die Schule gehe? Ich werde mir die Haare toupieren, die superkurze Jeans mit den Strasssteinen anziehen und ich werde mich schminken wie Nadja Nice, die Nadja Nice.«

»Bist du verrückt? Musst es ja nicht gleich übertreiben.«

»Warum? Wennschon, dennschon.« Yara rollte mit den Augen.

»Ich weiß nicht. Das geht bestimmt nach hinten los. Und Matteo wird das auch nicht so toll finden. Der steht auf deinen natürlichen Look.«

»Hey, ich mach mich doch nicht für einen Kerl zurecht, der mich vielleicht irgendwann sitzen lässt. Außerdem will er eh nix von mir wissen.«

»Was für ein Quatsch ist das denn? Wir reden über Matteo, deinen Matteo, den Held deiner Träume, mit dem du ewig zusammen sein wirst. Das hast du doch selbst gesagt!«

»Die Dinge ändern sich«, beharrte ich. »Was ist schon sicher? Ich dachte auch, dass meine Eltern ewig zusammenbleiben würden. Und nun?« Ich klatschte in die Hände. »Alles vorbei.«

»Klar gibt es keine Sicherheit.« Yara rüttelte verzweifelt an meinem Arm. »Aber du kannst doch nicht einfach deinen Traum aufgeben, nur weil …«

Ich unterbrach sie mit einem schrillen Lachen.

»Yara, du hast es nicht verstanden. Ich will meinen Traum bewahren. Ich will ihn nicht an eine Scheißrealität verlieren.«

»Aber mit der Ich-schmink-mich-wie-Nadja-Nice-Nummer verlierst du ihn garantiert. Wer steht denn auf so was?«

»Ich find’s eigentlich ganz cool. Mal was anderes. Und wenn Matteo ernsthaft an mir interessiert ist, dann dürfte ihn ein neuer Look nicht abschrecken, oder? Ist doch ein guter Test.«

»Na, ich weiß nicht. Ich hab gar kein gutes Gefühl dabei.«

»Du musst ja nicht mitmachen.«

»Nein, sicher nicht.« Yara wirkte plötzlich sehr niedergeschlagen, während ich ganz aufgekratzt war und auf meinem Handy das neueste Schmink-Tutorial von NadjaNice aufrief. »Isi«, versuchte sie es verzweifelt, »das bist du nicht.« Aber ich reagierte nicht und starrte verzückt auf das Display meines Handys, als könnte ich da die Lösung für alle meine Probleme finden.

»Das wird ein Schocker.«

»Ja«, sagte Yara betrübt, »das wird es sicher.« Und ehrlich gesagt, Nadja Nice sah tatsächlich nuttig aus. Aber auch verdammt cool. Und alles war besser, als einfach so weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre. Yara redete weiter auf mich ein, aber ich hörte nicht mehr zu, verfolgte gebannt, wie Nadja Nice sich das Make-up auftrug, wie sie ihre Lippen umrahmte und anschließend mit einem Pinsel knallrote Farbe auftrug. Wie sie glücklich in die Kamera strahlte, als sie fertig war, sich im hautengen Minirock um sich selbst drehte und sagte, dass sie sich wie neugeboren fühle. Ja, genau das wollte ich, eine Neugeburt. Und zwar eine aufsehenerregende, schockierende Neugeburt, die granatenmäßig in unsere Straße einschlagen und einen tiefen Krater sprengen sollte. Krawumm!

Bing! Wir blickten auf unsere Handys. Mein Herz schlug sofort gefühlte 30 Dezibel lauter. Ich konnte es nicht verhindern.

»Wow«, lachte Yara triumphierend, »das ist die Lösung, Isi, nicht Nadja Nice.« Ich starrte auf das Foto, das Lenny im Klassenchat gepostet hatte, von Matteo und mir, eng umschlungen tanzend wie ein Liebespaar und angestrahlt von Hunderten farbiger Reflexionen der Discokugel. Der Paillettenhimmel … der trügerische Paillettenhimmel. »Wie auf einem Plakat zu ’nem Liebesfilm«, schwärmte Yara, »ein Traum, oder?« Sie schüttelte mich sanft. »Isi, er wird wahr.« Ich reagierte nicht. »Yara an Erde, biep, biep.« Yara pikste mir mit den Zeigefingern in den Bauch. »Schau es dir an!« Sie hielt ihr Handy nah vor meine Augen. »Siehst du, es ist wahr. Es ist wirklich passiert. Keine Einbildung. So sieht keiner aus, der dich sitzen lässt.«

»Yara, hör auf.« Ich schob ihre Hand weg. »Wirst du dafür bezahlt?« Yara sah mich entsetzt an.

»Du willst doch nicht etwa …«

»Doch, genau.« Ich hielt mein Handy in die Höhe, sodass Yara das Display gut sehen konnte, und drückte auf Löschen. Das Foto verschwand geräuschlos … wie der Boden unter meinen Füßen, wie alles, worauf ich gesetzt hatte. Yara stieß einen spitzen Schrei aus.

»Bist du irre?« Ich versuchte ihrem flehenden Blick standzuhalten. Es kostete mich all meine Kraft. Schließlich gab Yara auf und sah traurig auf ihr Handy, das pausenlos Geräusche von sich gab. »Alle liken es«, sagte sie matt, »Suri hat zwei Füchse gepostet, mit einem Herz dazwischen … Und Josh eine Flamme …«

Ich sagte nichts, presste meine Lippen aufeinander und starrte auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne, während Yara mir beschwörend die Kommentare vorlas und beschrieb wie einer Blinden.

Für einen dramatischen Smokey-Eyes-Look brauchst du folgende Produkte … Nadja Nice lächelte von meinem Display.

»Ich geh jetzt«, sagte Yara traurig, »bitte überleg es dir noch mal. Mach nicht alles kaputt, was dir wichtig ist.« Sie umarmte mich und kletterte über den Rand des Dachs davon. Kaum war sie verschwunden, löste sich etwas Unkontrollierbares tief in mir drin und quoll mit aller Macht hervor. Ich schluchzte laut auf und drückte wie wild auf meinem Handy herum, aber das Foto war verloren. Ich verstand mich selbst nicht mehr.

»Yara«, brüllte ich ihr hinterher, »Yara.« Zu spät. Ich rief die Kontaktliste in meinem Handy auf und presste einen Finger auf Yara. Während die Verbindung gesucht wurde, erschien auf dem Display ein Foto von uns, wie wir uns lachend umarmten, beide mit Sahne auf den Nasen. Durch die Dachluke hörte ich eine Tür quietschen. Schnell drückte ich auf Beenden und stellte das Handy auf lautlos.

»Isabelle?« Mama war in meinem Zimmer.

»Ist sie nicht da?« Paul! Ich rührte mich nicht.

»Wahrscheinlich ist sie wieder bei Yara, ihrer besten Freundin«, sagte Mama.

 

»Hmmmm«, machte Paul, »ich hätte da eine Idee, wie wir die Zeit nutzen könnten.« Ich hörte schmatzende Geräusche. Igitt. Mama kicherte, Paul brummte wie ein Kater. »Hatschi«, machte er plötzlich, gleich drei Mal hintereinander. »Verdammt, gibt es hier irgendwelche Viecher?«

Mein Handy vibrierte. Yara stand auf dem Display, über unserem Foto.

»Was ist das?«, fragte Paul. »Klingt wie ein Handy.« Ich drückte den Anruf weg. »Das kam von da oben.« Eine kräftige Pranke schob sich aus der Dachluke und krallte sich daran fest. Ich hielt die Luft an.

»Vorsicht«, sagte Mama, »der ist wackelig.«

»Ach was«, sagte Paul, »ha… ha… hatschi«, machte er. Und dann verschwand die Hand und es rumpelte laut. Paul schrie auf, es gab einen dumpfen Schlag und dann war es wieder still.

»Hast du dir wehgetan?«, fragte Mama.

»Nein, verdammt«, fluchte Paul. Und endlich verließen sie mein Zimmer und die Tür knallte zu. Das musste Paul gewesen sein. Bei Mama klackte es nur leise, wenn sie die Tür heranzog. Und Papa drückte immer die Klinke herunter. Paul knallte Türen. Scheißpaul. Ich tippte eine Nachricht an Papa ins Handy. Paul knallt Türen … Bist du schon in Tokio? Gibt es da Rothaarige? Die Antwort kam sofort. Meine Hamsterbacke, hier ist es mitten in der Nacht. Ich kann nicht schlafen. Die Zimmertüren sind hier aus Papier und zum Schieben. Die Klobrille ist beheizbar und ich hab mir am ersten Tag fast den Hintern versengt. Rothaarige habe ich noch nicht gesehen, nur massenhaft junge Menschen mit Öhrchen-Mützen. Ich halte die Augen auf. Ich hab dich lieb. Dein Papa.

Bing! Ein Foto von Papa im Schlafanzug, vor einer weißen Papierwand mit einem schwarzen Holzrahmen. Ich ließ mich auf das Dach zurücksinken und blickte in den blauen Himmel. 8994 Kilometer. Das war gefühlt auf der anderen Seite der Erde.

7

Als ich Hunger bekam, kletterte ich über Balkon und Tor auf den Gehweg und schloss von außen die Wohnungstür auf.

»Da bist du ja.« Mama kam mir im Flur entgegen und umarmte mich. »Jetzt musst du unbedingt Paul kennenlernen.« Und schon stand er neben mir und hob die Hand.

»Hi, ich bin Paul.« Er war riesig und hatte kräftige breite Schultern und ein gebräuntes, rundes Gesicht.

»Hi«, sagte ich leise und schlurfte an ihm vorbei in die Küche. »Ich hab Hunger.«

»Ich koche gerade«, sagte Mama.

»Ich hol mir nur eine Banane und mach mir ein Brot.«

»Unsinn«, sagte sie nervös, »du isst natürlich mit uns.«

Wie das klang, mit uns. Als sei es schon immer so gewesen, als hätte Paul einfach so Papas Platz eingenommen.

»Keine Zeit«, log ich, »ich muss noch Hausaufgaben machen.«

»Heute? Samstagabend?« Mama zog eine Augenbraue hoch.

»Ja«, sagte ich bestimmt, »heute, Samstagabend.« Ich ging an ihr vorbei, holte mir eine Käsescheibe aus dem Kühlschrank, legte sie auf ein Stück Toastbrot, nahm eine Banane aus der Obstschale und schob mich an Paul vorbei die Treppe hoch.

»Isabelle«, rief Mama. Ich zog leise meine Tür zu und schloss sie ab. Dann nahm ich Lilly aus dem Käfig und setzte sie auf mein Bett. Bing! Eine Nachricht von Matteo. Sofort schlug mein Herz wie verrückt. Schönes Foto, oder?, schrieb er. Und noch einmal Bing! Ich bin zu Hause, mit einem zwinkernden Smiley. Ich starrte auf das Display. Noch konnte ich zurück. Er wartete auf mich. Wenn ich jetzt zu ihm gehen würde … Das wäre ganz leicht, nur 214 Meter. Zu Matteo konnte ich auch ungeschminkt gehen, sogar im Schlabberpyjama, ungekämmt und ungewaschen, mit Milchbart und Gummistiefeln. Er würde mich in seine Arme schließen und ganz fest halten. Auf Matteo konnte ich mich doch immer verlassen. Er beschützte mich, wenn mich jemand dumm anquatschte. Er war mein Oberon beim Sommernachtstraum gewesen. Er hatte mich zum Schulbüro getragen, als ich mir den Fuß verstaucht hatte. Er wartete im Schwimmbad auf meinen Blick, bevor er vom 10-Meter-Turm sprang. Und letzte Nacht hatte er mich eingeladen, zu ihm zu kommen, wenn ich ihn brauchte. Meine neuen Vorsätze verschwammen wie Wasserfarben auf dem Papier: Angst mischte sich mit Sehnsucht, Trauer mit rosaroter Hoffnung. Ich warf das Handy aufs Bett, riss die Tür auf und sprang die Treppe hinunter. So schnell ich konnte, jagte ich die Straße entlang, bis ich vor Matteos Haus stand, atemlos, mit zittrigen Knien und einem prall gefüllten Herzen. Ich blickte durch sein Fenster. Da stand er, mein Prinz. Ich wischte all meine Ängste fort, die sich düster in meine rosa Gedanken drängen wollten. Yara hatte recht, wir gehörten zusammen. Und Matteo würde mich niemals …. Und da sah ich plötzlich Lenny, der sich an Matteo drückte, als wollte er mit ihm tanzen. Wie er dabei die Augen schloss und die Lippen spitzte, als wartete er darauf, geküsst zu werden. Matteo schob ihn grinsend weg. Und dann … schlugen sie die Hände ein und krümmten sich vor Lachen. Es traf mich wie eine Ohrfeige und löschte alles Rosa aus. Ich duckte mich sofort hinter eine Hecke. Mein Herz gefror. Ich wollte schreien, aber die Dunkelheit presste sich gegen meine Brust und eine riesige Monsterwelle riss mich mit und spülte mich auf die offene See.

Wie ein Schatten der Isi, die vor fünf Minuten aus dem Haus gesprungen war, schlich ich nach Hause zurück und unbemerkt in mein Zimmer. Es war eine Wette, schrieb ich Yara. Diese ganze Dornröschen-Pailletten-Platz-im-Paradies-Show war eine Scheißwette. Und Matteo hat gewonnen. Nun war es traurige Gewissheit. Ich hatte auch noch meinen Traum verloren.

8

Den Sonntag verbrachte ich mit Nadja Nice. Ich sah mir alle Tutorials von ihr an, die ich finden konnte, und zerrte jene Klamotten aus der hintersten Ecke meines Schranks, die Mama mir für die Schule verboten hatte zu tragen: zu knappe Shorts, zu kurze oder zu enge Shirts, zu hohe Schuhe, zu tiefe Ausschnitte, zu viel Glitzer oder zu trashige Farben. Außerdem kramte ich knallblauen Eyeliner aus einer Schublade und einen babyrosanen Lippgloss. Das sollte erst mal reichen. Ich ignorierte alle Nachrichten auf meinem Handy, stellte die Imagine Dragons auf Saallautstärke, probierte verschiedene Looks aus und betete meine neue Losung rauf und runter: Manchmal ändern sich die Dinge. Lilly verpasste ich ein hellblaues Glitzerhalstuch und postete ein Foto von uns beiden auf @rabbitlove4ever, mit dem Kommentar: Lilly hatte Lust auf Neues. Es wurde gleich von einigen Followern gelikt und @kelly9 schrieb: Mein Kaninchen Diego hat sich unsterblich in Lilly verliebt. Ich wechselte Lillys Look und schnitt zwei Löcher in eine alte Puppenmütze, die ich ihr so überstülpte, dass ihre Ohren herausstanden. Unter das Pic postete ich: Lilly steht auf japanische Öhrchenmützen. Die Likes taten gut. Immerhin gab es da draußen noch menschliche Wesen, denen gefiel, was ich machte.

So gerüstet betrat ich am Montag in meinem neuen Outfit das Klassenzimmer. Es wurde schlagartig still.

Alle starrten mich an.

»Guten Morgen, ihr Spacken«, sagte ich in bester Kampfeslaune. »Was glotzt ihr denn so?« Ich schritt den Mittelgang entlang, bis ich bei meinem Platz ankam. Yara saß auf der Stuhllehne und hatte ihr Handy in der Hand.

»Wir haben eine neue Mitschülerin«, sagte Lenny, »Isi-Porn-Bella.« Ich gab ihm einen Klaps auf den Po.

»Es ist nicht alles Porn, was funkelt, du Hirni.«

»Hey, hey«, sagte Lenny, »was läuft denn hier für ’ne Wette? Hast du bei PKW Action verloren?« Ich zwinkerte zwischen meinen falschen Wimpern hindurch zu Matteo, der keine Miene verzog und mich reglos anstarrte.

»ICH nicht«, schmetterte ich Lenny entgegen, »aber du offensichtlich.« Ich hielt ihm die Hand hin und wartete darauf, dass er einschlug. Lenny zögerte.

»Ich komm grad nicht mehr mit.«

»Ach nee?« Ich ließ die Hand wieder sinken.

»War ich so besoffen oder was?« Lenny grinste mich unsicher an. So ein Verräter. Yara nahm meine Hand und zog mich zu sich.

»Isi«, sagte sie leise, »du irrst dich. Es gab keine Wette.« Und nun kam auch noch Matteo dazu. Er schob sich an Lenny vorbei und sah mich von oben bis unten an. Dann umarmte er mich wie üblich zur Begrüßung und flüsterte mir ins Ohr.

»Ich hab auf dich gewartet.« Es tat weh, seine Stimme zu hören, und haute mich fast um.

»Ich war beschäftigt«, flunkerte ich, ohne ihn anzusehen.

»Warst du beim DSDS-Casting?«, johlte Mohammed und wackelte mit den Hüften.

»Nein«, sagte ich ruhig, »ich trag ein paar alte Klamotten auf.« Ich setzte mich auf meinen Stuhl.

»Und dein Kaninchen wohl auch?«, rief Kofi von hinten.

»Korrekt. Und es freut sich über Likes.« Ich reckte einen Daumen in die Luft.

Matteo schob sich vor mich auf die Tischkante und blickte mich an. Die Kleeblattaugen. Mir war zum Heulen zumute. Ich musste wegsehen. Inzwischen hatten sich die anderen wieder abgewandt und redeten miteinander. Matteo beugte sich zu mir herunter.

»Isabelle.« So nannte er mich sonst nie. »Was ich gesagt habe, gilt immer. Ich bin da, okay? Ich weiß, wie scheißweh so was tut. Hatte wenigstens meinen Bruder.« Er kam ganz nah heran. Er roch so gut, so vertraut. »Ich kann da durchsehen«, sagte er und tippte mir an die Stelle über meinem Herzen. Der Poschek kam herein und alle liefen schnell zu ihren Plätzen.

»Guten Morgen«, sagte er und warf seine Tasche aufs Lehrerpult. Dann sah er mich. »Isabelle?« Ich nickte entschieden. »Ist heute irgendwas Besonderes?« Ich zögerte. Ich konnte doch nicht sagen: Ja, meine Eltern haben sich getrennt und Matteo hat mich hintergangen und der Scheißpaul zieht bei uns ein.

»Ja«, meldete sich Matteo. »Es gibt was zu feiern.«

»Und was?« Poschek sah ihn erwartungsvoll an.

»Heute ist Welttofutag.« Matteo drehte sich zu mir und grinste.

»Wie bitte?« Einige kicherten. Poschek kratzte sich am Ohr. »Ich werde das Thema jetzt nicht vertiefen«, beschloss er und wandte sich an mich. »Ich gehe also davon aus, dass du morgen wieder normal angezogen in die Schule kommen wirst, nachdem du heute ausgelassen gefeiert hast?« Er zog die Augenbrauen hoch. Und damit wandte er sich dem Smartboard zu und schrieb eine komplizierte Gleichung auf. Während der Klassenchat sofort auf Hochtouren lief, sahen Matteo und ich uns an. Ich lächelte. Er hatte den Test bestanden. Aber die Wette verzieh ich ihm nicht. Bing, machte mein Handy. Ich sah beiläufig auf das Display, rechnete mit Kommentaren meiner Freunde. Aber diese Nachricht kam von einem anderen Stern, aus einer anderen Galaxie … Sie war von Kim.

NadjaNice ist out. Willst du Tipps?

»Hey, du guckst so komisch. Schlechte Nachrichten?« Yara beugte sich zu mir herüber, um auf mein Handy zu sehen. Aber ich zog es weg. Ich wusste auch nicht wieso und es war auch das erste Mal, dass ich etwas vor Yara verbergen wollte. »Liebesgeflüster?« Ich nickte. Und es war auch das erste Mal, dass ich Yara anlog. Sie grinste. »Es hat ihn nicht abgeschreckt.«

»Was?«

»Dein Look.«

»Ach so. Scheint so.« Jetzt kam ich aus der Nummer nicht mehr raus. Yara war zufrieden, aber in mir rumorte ein mieses Gefühl. Plötzlich hatte ich Heimlichkeiten mit Kim. Ich starrte auf ihre Nachricht und sah an der Statusleiste, dass sie noch online war. Wartete sie auf eine Antwort? Ich gab Nein danke ein, löschte den Text aber gleich wieder. Dann suchte ich ein passendes Emoji, fand aber keines. Schließlich steckte ich das Handy weg. Keine Antwort war auch eine Antwort.

»Ziehst du nachher einen Glitzer-Bikini an?« Yara zeichnete einen weiblichen Oberkörper auf den Rand meines Hefts und drüber kritzelte sie einen Bikini, aus dem die halbe Brust rausguckte. Montag war unser Schwimmtag.

»Heute geht’s nicht.« Ich schwindelte schon wieder.

»Oh nein«, sagte Yara. »Deine Mutter?«

Ich nickte, denn das kam mir nur wie eine halbe Lüge vor. Einfach so weiterzumachen, als sei nichts geschehen, den Gefallen wollte ich Mama nicht tun. Papa in die Wüste zu schicken, einen türenschlagenden Spacko anzuschleppen und dann zu hoffen, dass ich begeistert auf diesen Familienexodus reagierte, war wie ein wilder Ritt über ein Minenfeld. Ich war das Minenfeld.

Poschek rief Kim auf. Das kam äußerst selten vor und brachte ihm einen mörderischen Blick ein. Wahnsinn. So hätte ich gern den Scheißpaul angeguckt. Langsam nahm Kim ihr Kaugummi aus dem Mund und strich ihre langen Haare über eine Schulter. Sie war perfekt geschminkt und es gefiel mir tatsächlich besser als der Nadja-Nice-Look.

»Ich hab Arithmophobie.« Es klang vernichtend. »Unheilbar.«

»Bitte?« Poschek zog einen Mundwinkel hoch, entschied sich dann aber doch gegen ein Grinsen.

»Arithmophobie.« Kim rollte mit den Augen. Mehr hatte sie nicht zu sagen. Sie steckte das Kaugummi wieder in den Mund und blickte Poschek gelangweilt an.

 

»Fräuleinchen«, sagte er und hob mahnend einen Zeigefinger. »Wir sprechen uns nach der Stunde.« Unter der Bank gab ich das Wort in mein Handy ein. Arithmophobie ist die Angst vor Zahlen. Ha, Poschek war bedient. Er änderte seine Strategie, holte einen Stapel Hefte aus seiner Tasche und klatschte jedem eines auf den Tisch. Die Mathearbeit.

»Wurzelziehen hat nichts mit Gartenarbeit zu tun, Nelly.« Klatsch!

»Und die Aufforderung, eine Unbekannte zu suchen, sollte dich nicht dazu veranlassen, frühzeitig den Raum zu verlassen, Kofi.« Klatsch!

Bei Kim zögerte er einen Moment. Man konnte fast hören, wie das Getriebe in seinem Hirn ratterte. Er schien auf etwas sehr Klebrigem zu kauen. Dann ließ er das Heft, das nur aus wenigen Seiten bestand, auf Kims Tisch segeln. Und es segelte wirklich. Daneben knallte er einen Kugelschreiber.

»Die Schule spendiert dir gnädigerweise dieses edle Schreibwerkzeug, damit du nicht mehr mit Kajal scheiben musst.« Er spitzte genüsslich die Lippen. »Setze es wohlüberlegt ein.« Kim würdigte ihn keines Blickes. Sie öffnete das Heft, überflog die zwei Seiten und schloss es wieder. Dann drückte sie ein transparentes Gel aus einem Fläschchen und rieb sich ausgiebig die Hände ein. Das war so ein Tick von ihr. Ständig desinfizierte sie ihre Hände mit dem Zeug. Sie schien nicht nur Angst vor Zahlen zu haben. Poschek rümpfte die Nase und wandte sich wieder dem Smartboard zu. Ich blickte sofort auf mein Handy, denn ein Gedanke ließ mich nicht mehr los. Angst vor Essen tippte ich in die Suchmaske. Cibophobie. Volltreffer! Die erste Mine konnte detonieren.