Buch lesen: «Flupp!», Seite 2

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Das Blaue Gebirge

Als Tante Pim am anderen Morgen in die Küche kam, lag Betrüger-Schorschi noch schlafend auf seiner Pritsche.

„Man könnte ihn beinahe für ein Kind halten“, dachte Tante Pim. „Wahrscheinlich ist es falsch, ihn diese gefährliche Reise machen zu lassen! Auch wenn er ein Betrüger ist, so ist er immerhin mein Neffe!“

Sie beugte sich zu ihm hinunter und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar.

Betrüger-Schorschi fuhr erschrocken hoch.

„Was machst du da?“ fragte er.

„Nichts“, sagte Tante Pim. „Ich habe mir nur überlegt, ob es nicht zu gefährlich ist, dich ins Blaue Gebirge fahren zu lassen.“

Betrüger-Schorschi schnappte nach Luft.

„Ich wäre auch ohne den jungen Hubel ins Blaue Gebirge gefahren“, meckerte er. „Je gefährlicher umso besser.“

„Ich weiß, ich weiß“, antwortete Tante Pim. „Du willst reich und berühmt werden. Aber vor allem musst du dem jungen Hubel helfen!“

Sie stellte Wasser auf den Herd und deckte den Tisch. Dann ging sie in den Garten und pflückte einen kleinen Strauß Pfefferminze. Der Korb stand noch wie gestern im Garten. Die Beine der Flupppuppe blähten und senkten sich über dem Korb.

War die Flupppuppe wirklich das geeignete Flugmittel, um in das Blaue Gebirge zu kommen?

Tante Pim hatte da ihre Zweifel. Doch sie hatte keine andere Wahl: Der junge Hubel brauchte dringend ein Flugfahrzeug! Und außer Betrüger-Schorschis Flupppuppen-Korb konnte sie auf die Schnelle keines auftreiben. Sie zuckte mit den Achseln und ging wieder in die Küche zurück. Dort warf sie die Pfefferminzblätter in die Teekanne und goss heißes Wasser darüber. Für Betrüger-Schorschi machte sie Kaffee. Er konnte Pfefferminz-Tee nicht ausstehen.

Als Betrüger-Schorschi endlich angezogen am Tisch saß, fragte Tante Pim: „Du weißt also, was auf dich zukommt?“

„Klar!“ antwortete Betrüger-Schorschi mit vollem Mund. „Ich fliege mit der Flupppuppe ins Blaue Gebirge in die Stadt der Kinder. Dort finde ich den jungen Hubel und biete ihm großzügig meine Hilfe an.“

„Wie du weißt, ist das Blaue Gebirge eine Wind- und Wetterscheide“, sagte Tante Pim. „Wenn du Pech hast, dreht der Wind permanent und du fliegst auf der Stelle. Oder du kommst in einen der heftigen Stürme, für die das Blaue Gebirge so berüchtigt sind. Und selbst wenn du mit dem Wetter Glück hast, musst du noch lange nicht die Stadt der Kinder finden. Soweit ich vom jungen Hubel weiß, liegt sie versteckt hinter einem riesigen Felsvorsprung.“

„So versteckt, dass ich sie nicht finde, liegt sie sicher nicht“, sagte Betrüger-Schorschi und schluckte den letzten Bissen hinunter.

„Soweit ich vom jungen Hubel weiß, gehen in die Stadt der Kinder gewöhnlich keine anderen Leute. Die Kinder bleiben lieber für sich.“

„Und warum?“

„Um sich zu schützen selbstverständlich!“ sagt Tante Pim. „Soweit ich vom jungen Hubel weiß, haben sich die Kinder in diese Stadt zurückgezogen, weil sie eine ausgegrenzte Minderheit sind. Dort leben Menschen, die nicht erwachsen werden.“

„Du meinst, das sind keine Kinder, sondern alberne Erwachsene? Verkrüppelte Oskar Mazeraths, Hugos in den besten Jahren und verzauberte Pippi Langstrumpfs?“ Betrüger-Schorschi stieß ein keckerndes Lachen aus.

„Soweit ich vom jungen Hubel weiß“, sagte Tante Pim unbeeindruckt, „sind es ganz gewöhnliche Kinder, die aus unerfindlichen Gründen nicht erwachsen werden!“

„So etwas gibt’s doch gar nicht!“ rief Betrüger Schorschi aufgebracht. „Und wenn du noch weiter von diesem jungen Hubel redest, werde ich nicht in die Stadt der Kinder fahren, sondern mein Glück alleine versuchen! Der junge Hubel ist mir nämlich schon jetzt so unsympathisch, dass ich wirklich keinen Wert darauf lege, ihn näher kennen zu lernen.“

„Ist ja schon gut“, sagte Tante Pim beschwichtigend. „Ich hole jetzt eine Landkarte und erkläre dir die ungefähre Lage der Stadt.“

Sie kramte in einer Küchenschublade und zog eine Landkarte hervor. Dann breitete sie die Karte auf dem Küchentisch aus und tippte mit dem Finger auf einen Gebirgszug.

„Hier fliegst du zu den Alpen. Wenn du die Zugspitze direkt vor dir hast, musst du dich rechts halten. Nach ungefähr hundert Kilometern fliegst du dann auf einen Gebirgskamm zu, der blau schimmert. Das ist das Blaue Gebirge. Die Stadt der Kinder liegt am südöstlichen Zipfel des Gebirges, hier.“

„Aha“, sagt Betrüger-Schorschi.

Er kramte in seiner Hosentasche und zog ein Karamelbonbon daraus hervor. „Möchtest du auch eins?“

Tante Pim schüttelte ungeduldig den Kopf.

„Dann ist ja alles klar“, sagte Betrüger-Schorschi und steckte sich das Bonbon in den Mund. „Am besten breche ich gleich auf.“

„Das ist eine gute Idee“, meinte auch Tante Pim und klappte die Landkarte zusammen. „Ich packe dir noch eine große Tasche mit Essen und Trinken ein. Das ist doch der eigentliche Grund, warum du bei mir vorbeigekommen bist?!“

“Wenn alles klappt, kann ich schon morgen früh da sein“, überlegte Betrüger-Schorschi.

„Ja, wenn ...“, meinte Tante Pim.

Sie ging in die Speisekammer und holte: zwei Gläser eingelegte Gurken, fünf Laibe Brot, ein Kilo geräucherten Schinken und einen ganzen Laib Käse, drei Pfund Butter, mehrere Gläser Marmelade und einige Dosen Fisch. Als Dessert sozusagen, legte sie noch zehn Tafeln Schokolade und einige Pakete Nussmischung darauf und packte dann alles in eine große Leinentasche. Außerdem stellte sie ihm zwei Kästen stilles Wasser dazu.

„Reicht das oder willst du noch mehr?“ fragte Tante Pim.

Betrüger-Schorschi glaubte kaum, dass er mit Brot, Marmelade und Dosenfisch eine anständige Mahlzeit würde kochen können. Aber durfte er mehr verlangen? Wohl kaum. Er schüttelte also brav den Kopf und nuschelte etwas, das sich wie „danke“ anhörte.

Er stand auf, nahm die Tasche und ging damit nach draußen zur Flupppuppe. Tante Pim kam mit den beiden Getränkekisten hinterher und stellte sie in den Ballonkorb.

Betrüger-Schorschi schaute skeptisch in den bewölkten Himmel: „Hoffentlich regnet es heute nicht.“

„Ich glaube nicht“, sagte Tante Pim. „Zumindest haben sie im Wetterbericht nichts davon gesagt. Und der Wind wird euch schnell Richtung Süden tragen.“

“Wenn er nicht dreht“, bemerkte Betrüger-Schorschi und kletterte in den Korb.

Er wünschte der Flupppuppe einen guten Morgen und fragte sie, ob alles in Ordnung wäre. Als die Puppe zufrieden mit den Beinen wackelte, reichte er seiner Tante zum Abschied die Hand: „Danke, Tante Pim. Mal sehen, ob ich deinen Auftrag erfüllen kann.“

„Ich habe dir zu danken, dass du diese gefährliche Reise machst“, erwiderte Tante Pim.

„Ich wäre auch so geflogen!“ meinte Betrüger-Schorschi. „Aus deinem kleinen Jungen ist ein selbstbewusster Mann geworden, der keine Angst mehr vor Gefahren hat.“

„Dann sieh zu, dass dem jungen Hubel nichts passiert!“ sagte Tante Pim und band das Seil los.

Betrüger-Schorschi öffnete die Klappe in der Flupppuppe und lies Gas in ihre Beine strömen. Die Beine wurden prall und der Korb löste sich langsam vom Boden.

Tante Pim gab dem Korb einen kräftigen Schubs, winkte Betrüger-Schorschi zum Abschied zu und verschwand dann im Haus.

Die Flupppuppe war einfach eine Wucht!

Sie zog ab wie eine Rakete und Tante Pims Haus unter ihnen war nur noch ein kleiner Punkt zwischen anderen.

Hier oben gab es nur ihn und die Flupppuppe. Hier oben war er frei!

Betrüger-Schorschi sog die Luft tief in seine Lungen ein und freute sich, dass er so lebendig war. Er winkte ein paar Bussarden, die neben ihm kreisten und streckte einem Flugzeug, das in einiger Entfernung an ihnen vorbeiflog, die Zunge raus.

„Euch werde ich es allen noch zeigen!“ rief er. „Ihr Angeber und Nichtsnutze! In Wirklichkeit kann es doch kein Flugzeug mit mir und der Flupppuppe aufnehmen! Euch schickt niemand als Sonderbotschafter ins Blaue Gebirge! Euch schickt man höchstens nach Mallorca oder auf die Malediven!“

Betrüger-Schorschi ballte die Faust in Richtung Flugzeug und lachte. Nach ein paar Sekunden war das Flugzeug aus seinem Blickfeld verschwunden.

Nachdenklich sah Betrüger-Schorschi auf die Kondensstreifen, die vom Flugzeug übrig geblieben waren.

„Hast du das gesehen, Flupppuppe? Die kümmern sich gar nicht um uns! Die tun so, als ob es uns überhaupt nicht gäbe! - Aber keine Sorge! Wenn wir erst einmal einen ungefährlichen Zugang ins Blaue Gebirge gefunden haben und mit den Diamanten klimpern, dann werden sie vor uns winselnd auf die Knie gehen!“

Wie zur Bestätigung wackelten die langen Beine der Flupppuppe im Wind. Trotzdem war Betrüger-Schorschis gute Laune wie weggeblasen. Plötzlich sah er sein Unternehmen in einem anderen Licht:

Was, wenn die die Bewohner des Blauen Gebirges wirklich so gefährlich waren wie ihr Ruf? Was, wenn sie ihn wirklich fangen würden und es ihm überhaupt nicht gelingen würde, einen Weg zurück zu finden? Was, wenn dann womöglich er die Hilfe des jungen Hubels brauchen würde, um lebend wieder zurück zu kommen?

Zugegeben, gestern, als er neben den sagenhaften Flupppuppenbeinen seine Suppe geschlürft und ihn Tante Pim mit ihrer Bewunderung für den jungen Hubel angestachelt hatte, war ihm die ganze Sache leicht erschienen: Zuerst würde er den jungen Hubel verschwinden lassen, dann einen gefahrlosen Ausgang aus dem Blauen Gebirge finden, sich genug Diamanten für ein ausschweifendes Leben bei Seite schaffen und sich schließlich die eigentlich für den jungen Hubel gedachten Lorbeeren aufsetzen.

Aber heute, bei Tageslicht und frischer Luft um die Nase, hatte er doch seine starke Bedenken. War es nicht viel zu gefährlich, ins Blaue Gebirge zu fliegen? Dorthin, von wo es so gut wie kein Zurück mehr gab?

War es nicht wahnsinnig aus diesem Land Diamanten schmuggeln zu wollen? Und konnte er, Betrüger-Schorschi überhaupt etwas erreichen, was vor ihm noch niemandem gelungen war?

Andererseits: Warum sollte ausgerechnet der junge Hubel die geeignete Person für diese gefährliche Mission sein? Jemand, der sich vor allem um das Aussehen seiner Haare und Fingernägel sorgte? Dann doch schon viel eher er, Betrüger-Schorschi! Denn er war nicht nur viel mutiger und verwegener als dieser Milchbubi, sondern er hatte auch noch die Flupppuppe! Die Flupppuppe war sein Trumpf in der Hand, denn sie würde ihm in jeder Not helfen!

Gemeinsam mit ihr würde er alle Gefahren sicher bestehen! Mit ihr würde er einen Weg entdecken, die Diamanten und Edelsteine aus dem Land zu bringen. Und dann würde ihm die Welt zu Füßen liegen und der Reichtum des Blauen Gebirges sicher sein!

Eine starke Böe riss den Ballon ein wenig nach oben und der Korb schwankte. Betrüger-Schorschi lachte heiser und sang das Flupppuppenlied. Nach der dritten Strophe hängte er eine neue, selbst gedichtete Strophe an:

Ich bin die tolle Puppe

nur mit mir gibt’s Suppe

seit heut’ ist auch mein Freund dabei

mit ihm gibt’s Ruhm und Geld wie Heu,

ich trage ihn jetzt übern Berg,

zu Abenteuern, Kind und Zwerg

auf meinen zarten, schlanken,

flugsichren Hinterpranken

Die Beine der Flupppuppe wackelten im Takt von Betrüger-Schorschis neuer Strophe mit. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass die Flupppuppe mit dem Text nicht ganz einverstanden war. Vielleicht würde ihm bald eine bessere Strophe einfallen, doch im Moment musste diese ausreichen.

Betrüger-Schorschi drehte sich auf die andere Seite des Korbs und pfiff überrascht: Die Alpen waren schon erstaunlich nahe! Er musste sich beeilen, an Höhe zu gewinnen.

Schnell öffnete er die Klappe der Flupppuppe und ließ mehr Gas in ihre Beine strömen. Die Beine blähten sich auf und rissen den Korb nach oben.

Auf den Wiesen unter sich konnte Betrüger-Schorschi als braune Punkte ein paar Kühe sehen. Hin und wieder glaubte er, winkende Wanderer ausmachen zu können.

Sie stiegen höher und höher hinauf bis sie schließlich auf die Berge hinabsehen konnten. In der Ferne erkannte Betrüger-Schorschi die Umrisse der Zugspitze. Unter ihnen schlängelte sich eine schmale Straße den Berg empor. Wenn sie in dem Tempo weiterfahren würden, würden sie schon am Abend beim Blauen Gebirge sein.

„Nur noch ein paar hundert Meter bis zur Zugspitze!“, rief Betrüger-Schorschi der Flupppuppe zu. „Danach müssen wir uns rechts halten und Kurs aufs Blaue Gebirge nehmen.“

Die Flupppuppe wackelte mit den Beinen und zog den Korb noch ein paar Meter nach oben. Gerade so weit, dass der Korb eine halbe Stunde später über den Sendemast der Zugspitze fliegen konnte ohne ihn zu streifen.

Ein paar Touristen zeigten verdutzt auf den Flupppuppen-Ballon. Aber bevor Betrüger-Schorschi ihnen ein stolzes „Hallo“ zurufen konnte, waren sie außer Sichtweite.

Plötzlich schwenkte der Ballon seitlich ab und verlor wieder an Höhe. Betrüger-Schorschi schaute ängstlich zur Flupppuppe. Aber sie schien zu wissen, was sie tat.

Er überließ ihr deshalb das Steuern und betrachtete die Berg-Landschaft. Die Gegend wurde immer kärger und kärger. Bäume und Sträucher gab jetzt fast nicht mehr. Nur Felsen, Licht und Schatten. Hin und wieder konnte man eine Gämse oder ein verirrtes Schaf ausmachen, aber im Wesentlichen war alles öd und leer.

Die Sonne stand schon ziemlich tief, als Betrüger-Schorschi bemerkte, dass die Felsen anfingen, bläulich zu schimmern. Das Blau-Rot der Kämme und Spitzen verfärbte sich am Bergrücken ultramarin und lief in den Schluchten nachtblau aus.

Da, wo das Licht der untergehenden Sonne nicht mehr hinreichte, ragten schwarzblaue Kanten in den Himmel und verschluckten tiefschwarze Krater und Schluchten den letzten Lichtschimmer.

„Wow!“ dachte Betrüger-Schorschi beeindruckt. „Das also ist das Blaue Gebirge!“

Er war so in das farbenprächtige Schauspiel vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie der Himmel immer dunkler wurde und die Wolken sich in einiger Entfernung zu einem mächtigen Turm aufbauten.

Erst als es donnerte, schaute Betrüger-Schorschi sich erschrocken um und sah den Turm aus blau-schwarzem Dunst. Ein kalter Wind fing an zu blasen und riss am Ballonkorb.

Plötzlich kam der Turm in Bewegung und kreiselte schnell auf sie zu!

„Flupppuppe!“ rief Betrüger-Schorschi. „Siehst du den Wolkenturm?“

Die Flupppuppe rührte sich nicht.

„Ist das nicht ein Wirbelsturm?!“ schrie Betrüger-Schorschi.

Die Beine der Flupppuppe schienen davon unbeeindruckt.

„Hörst du mich nicht?“ schrie Betrüger-Schorschi. „Ein Wirbelsturm kommt auf uns zu! Lass uns von hier verschwinden! Flupppuppe! Warum tust du denn nichts? Siehst du den Wirbelsturm nicht?“

Doch, die Flupppuppe sah den Wirbelsturm. Aber sie hatte keine Angst vor ihm. Im Gegenteil, sie flog direkt auf ihn zu!

„Flupppuppe! Flupppuppe, rette uns!“ schrie Betrüger-Schorschi und riss verzweifelt an den Seilen, die den Korb mit dem Ballon verbanden.

Aber umsonst! Der kreiselnde Turm war jetzt nur noch ein paar Meter von ihm und der Flupppuppe entfernt!

Betrüger-Schorschi klapperte vor Angst mit den Zähnen.

Wäre er doch nie so größenwahnsinnig gewesen, ins Blaue Gebirge zu fliegen! Wäre er doch nie so gierig nach Reichtum und Ruhm gewesen! Was war das schon gegen das Leben? Nichts! Er aber wollte leben!

Und die Flupppuppe? Warum half sie ihm nicht? Waren ihre Beine nicht mehr flugfähig? Hatte der Sturm das Plastik geknickt? War ihr gemeinsames Abenteuer schon beendet, bevor es überhaupt begonnen hatte?

Flupppuppe! Fluuupppuuuppe! Fluuuupppuuuppppeeeee ...

Der Turm aus Wind und Sturm riss die Flupppuppe samt Korb und Betrüger-Schorschi an sich, schleuderte sie ein paar Mal im Kreis, verschluckte beide und raste tobend davon.

Der Torwart

Als Betrüger-Schorschi zu sich kam, fand er sich in einem dunklen Raum wieder. Es brauchte einige Zeit, bis er heraus gefunden hatte, dass der Raum eine Höhle war und er auf einer Holzpritsche lag.

Er richtete sich langsam auf und machte in dem dämmrigen Licht einen Tisch, mehrere Stühle, zwei Regale mit Töpfen, Geschirr, Büchern, Kleidern, einen Holzofen und ein Spülbecken aus.

Wenn er sich richtig erinnerte, waren er und die Flupppuppe im Blauen Gebirge in einen Wirbelsturm geraten und abgestürzt.

Aber was war dann passiert?

Offensichtlich hatte ihn jemand gefunden und in Sicherheit gebracht.

Oder war er gar nicht in Sicherheit, sondern hier in der Speisekammer der Höhlenbewohner?

Einen Topf, der groß genug war, einen Menschen darin zu kochen, konnte er zwar nicht entdecken, aber vielleicht bevorzugten diese Höhlenbewohner ‚Mensch auf Spieß’?

Wo überhaupt war die Flupppuppe? Und wo war sein Ballonkorb?

Betrüger-Schorschi fröstelte.

Egal, ob die Höhlenbewohner Freund oder Feind waren, ohne die Flupppuppe war er aufgeschmissen! Denn wie sollte er ohne sie die Stadt der Kinder, den jungen Hubel oder einen geeigneten Weg aus dem Gebirge zurück finden? Wie sollte er ohne die Flupppuppe im Blauen Gebirge überhaupt irgend etwas unternehmen können?

Aber vielleicht war er auch gar nicht mehr im Blauen Gebirge und der Sturm hatte ihn ganz woanders hingeschleudert?

Betrüger-Schorschis Herz klopfte laut. Obwohl er Angst hatte, wollte er sich unbedingt Klarheit über seine Situation verschaffen.

So leise wie möglich stand er auf und schlich zum Höhleneingang. Vorsichtig spähte er hinaus:

Ah!

Oh!

Wow!

Welch erfreuliche Überraschung!

Keine fünf Meter von ihm entfernt stand auf einem Felsvorsprung sein Ballonkorb! Neben ihm stand ein völlig harmlos aussehender dünner Mann, der ihm sicher nichts anhaben konnte. Und das beste an dem Bild, das ihm draußen geboten wurde, war, dass neben dem Mann ein große, schlanke Frau mit sagenhaften Beinen stand! Komisch, dass es eine so attraktive Frau nötig hatte, sich mit einem solch schwächlichen Männchen abzugeben!

Die Frau aber war wirklich eine Wucht! Sie hatte nur einen schwarzen Bikini, schwarze hochhackige Schuhe und eine schwarze Fliegermütze an! Die langen Bänder der Fliegermütze fielen neckisch über ihre runden Schultern.

Betrüger-Schorschi hatte sich noch nicht völlig an der atemberaubenden Frau satt gesehen, als ihm plötzlich auffiel, dass die Flupppuppe fehlte!

Entsetzt stöhnte er auf: Wo war die Flupppuppe?

Hatte der Sturm ihre Beine tatsächlich geknickt und war sie ohne ihn in die Tiefe gestürzt? Oder hatte sie sich ohne den Korb an den Beinen retten können? Oder waren die beiden da draußen weit gefährlicher als es auf den ersten Blick aussah? Hatten sie die Flupppuppe vielleicht verschwinden lassen?

Ohne lange zu überlegen, trat Betrüger-Schorschi aus der Höhle und herrschte die beiden an:

„Sie da! Haben Sie mir die Flupppuppe gestohlen? Geben Sie mir sofort meine Flupppuppe wieder!“

„Der frühe Vogel fängt den Wurm“, sagte die Bikini-Dame.

Betrüger-Schorschi zuckte zusammen.

Die Stimme der Frau kam ihm bekannt vor! Aber woher?

Der schmächtige Mann schüttelte missbilligend den Kopf und sagte zu der Frau: „Gute Manieren scheint er nicht zu haben!“

„Das Gleiche kann ich von Ihnen behaupten“ antwortete Betrüger-Schorschi. „Sie haben mir offensichtlich die Flupppuppe gestohlen!“

„Wohl kaum“, sagte der Mann. „Ich weiß nicht, warum, aber die Flupppuppe scheint einen Narren an Ihnen gefressen zu haben. Sonst hätte sie Sie nie hier her gebracht.“

„Aha!“ sagte Betrüger-Schorschi. „Und warum haben Sie sie mir dann weggenommen?“

Der Mann sah Betrüger-Schorschi erstaunt an und sagte zur Bikini-Dame: „Ich sehe nach, ob die Suppe warm ist.“

Die Bikini-Dame nickte, zeigte auf ihre schlanken, prallen Beine und sagte: „Ich komme gleich. Suppe am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen!“

Betrüger-Schorschi erschrak.

Jetzt wusste er, woran ihn die Stimme der Bikini-Frau erinnerte: An die Flupppuppenstimme im Radio!

Wie konnte das sein?

War die Bikini-Dame etwa die Flupppuppe?

Unvorstellbar!

Er war sich sicher, dass die Flupppuppe nur aus Beinen bestand. Mehr gab es bei ihr nicht zu sehen!

Aber wie konnte sie dann jetzt und hier als ganze Person vor ihm stehen?

Das Ganze war einfach ein Irrtum. Die Stimme der Frau hörte sich einfach nur nach der Flupppuppe an. Aber sie war nicht die Flupppuppe!

„Endlich gibt es wieder Suppe, Flupppuppe!“ rief der Mann aus dem Höhleneingang heraus. „Seit zwei Jahren warte ich darauf!“

Betrüger-Schorschi schwindelte.

Die Frau war also doch die Flupppuppe!

Es war zu verrückt, um wahr zu sein!

„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, sagte die Flupppuppe zu Betrüger-Schorschi und ging mit federnden Schritten in die Höhle.

Betrüger-Schorschi schluckte: Egal wie verrückt die ganze Sache war. Die Frau war trotzdem ein Traum! Ihre Stimme klang wie Samt, die Fliegermütze betonte ihr süßes Stupsnäschen und der Bikini gab ihr ein verwegenes Aussehen. Und ihre Beine waren einfach unbeschreiblich: schlank, prall, zart, stark, weich, hart ... alles in einem!

Kaum zu glauben, dass es eine so tolle Frau gab! Und unfassbar, dass diese Frau mit ihm, ausgerechnet mit ihm, auf Abenteuerreise gehen wollte!

Er pfiff das Flupppuppenlied und bemerkte erst jetzt, dass man von dem Felsvorsprung aus eine herrliche Aussicht hatte:

Direkt ihm gegenüber, nur durch eine kleine Schlucht von dem Felsvorsprung, auf dem er stand, getrennt, glitzerte ein Berg wie ein riesiger, blauer Turmalin!

‚Das Blaue Gebirge!’ dachte Betrüger-Schorschi. ‚Wir sind tatsächlich im Blauen Gebirge!’

Er streckte die Hand nach dem Edelstein-Berg aus und sagte leise: „Mit diesen Steinen werde ich reich! Mit dem gefährlichen Auftrag des jungen Hubels berühmt und mit der Flupppuppe glücklich!“

„Die Suppe ist fertig!“ rief sein Gastgeber aus dem Höhleneingang.

Betrüger-Schorschi riss sich von dem glitzernden Schein des Berges los und ging in die Höhle.

Als alle um den Tisch saßen und ihre Suppe schlürften, sagte der Gastgeber zu Betrüger-Schorschi: „Ich bin hier übrigens der Torwart! Ich bewache das Tor zwischen dem Blauen Gebirge und deiner Welt.“

„Aha“, sagte Betrüger-Schorschi. Mehr fiel ihm dazu nicht ein.

„Übrigens haben wir mit Leuten aus deiner Gegend bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht“, fuhr der Torwart fort. „Ihr versteht unsere Gesetze nicht und wollt uns statt dessen immer eure Gesetze aufpressen.“

„Sehr angenehm“, sagte Betrüger-Schorschi und dachte an den blauen Edelsteinberg. Der Tag heute ließ sich prächtig an: Erst die Überraschung mit der Flupppuppe und jetzt der Turmalin.

„Was ist daran angenehm?“ fragte der Torwart aufgebracht. „Tatsache ist, dass wir eigentlich niemanden mehr von euch durch das Sturmauge lassen. Sie durften nur durch, weil Sie die Flupppuppe mitgebracht hat. Ich hoffe, Sie machen uns keinen Ärger! - Wer sind Sie überhaupt?“

„Ich?“ schreckte Betrüger-Schorschi aus seinen schönen Gedanken auf.

Er räusperte sich, setzte sich aufrecht hin und sagte: „Ich bin Betrüger-Schorschi! Anerkannter Arzt, offizieller Flugbegleiter der Flupppuppe und jugendliche Geheimwaffe von Tante Pim!“

„Tante Pim?“ fragte der Torwart und zog seine Schultern fragend nach oben. „Nie gehört. Wohnt sie im Blauen Gebirge?“

„Das nicht“, sagte Betrüger-Schorschi. „Aber sie hat mich hier her geschickt, um einen wichtigen Auftrag zu erledigen.“

„Ein wichtiger Auftrag?!“ fragte der Torwart misstrauisch. „Das muss ich wissen. Als Wärter des Tors bin ich für alle wichtigen Aufträge zuständig, die von Drüben kommen!“

Betrüger-Schorschi wand sich auf seinem Stuhl. Er war in geheimer Mission unterwegs. Sicher durfte er niemandem erzählen, worum es bei dem Auftrag ging. Und schon gar nicht jemandem aus dem Blauen Gebirge! Offensichtlich konnte der Torwart die Menschen jenseits des Gebirges sowieso nicht leiden. Wie viel weniger würde es ihm gefallen, wenn er erfahren würde, dass sich die Menschen aus seinem Land entschlossen hatten, die Steine aus dem Blauen Gebirge auszuführen?!

„Es hat etwas mit der Stadt der Kinder zu tun“, sagte er deshalb ausweichend.

Stadt der Kinder?“ sagte der Torwart erstaunt. „Die gibt’s hier nicht!“

„Doch, doch“, beharrte Betrüger-Schorschi.

Es konnte nicht sein, dass es die Stadt hier nicht gab! Schließlich hatte der junge Hubel in seinem Brief davon berichtet!

„Glauben Sie mir“, sagte der Torwart. „Ich kenne das Blaue Gebirge wie meine Westentasche und bin mir sicher, dass es hier keine Stadt der Kinder gibt!“

„Es muss diese Stadt aber geben!“ sagte Betrüger-Schorschi aufgebracht. „Vielleicht kennen Sie die Stadt nicht, weil sich deren Bewohner so gut wie möglich von der Außenwelt abschotten. In der Stadt wohnen lauter Kinder oder kindische Personen. Niemand, der erwachsen geworden ist.“

„Ach!“ sagte der Torwart. „Sie meinen Entenhausen?“

Betrüger-Schorschi zuckte unsicher mit den Achseln.

„Gibt es dort ein Großes Huhn?“ fragte er.

„Eigentlich nicht“, meinte der Torwart. „Aber vielleicht meinen Sie Henriette Huhn, diese alberne Freundin von Minnie Maus und Klarabella Kuh? - Warum, was ist mit ihr?“

„Sie hat dem jungen Hubel die Haare abgefressen!“ erwiderte Betrüger-Schorschi.

„Das hört sich ja schrecklich an“, sagte der Torwart und sah belustigt zur Flupppuppe. „Wahrscheinlich hat er ihren Hut verrutscht. Wer ist der junge Hubel überhaupt?“

Betrüger-Schorschi schaute irritiert zur Flupppuppe. Warum kannte der Torwart weder die Stadt der Kinder noch den jungen Hubel? Schließlich musste der junge Hubel doch auch durch das Sturmauge ins Blaue Gebirge gekommen sein. Oder etwa nicht?

Und warum hörte sich beim Torwart alles so anders an als bei Tante Pim?

Die Flupppuppe bemerkte seine Verwirrung und fragte den Torwart: „Vielleicht liegt die Stadt der Kinder auf der anderen Seite des Gebirges?“

„Gut möglich“, sagte der Torwart. „Aber warum seid ihr dann zu mir gekommen?“

„Weil es wieder Zeit für Suppe bei euch ist“, antwortete die Flupppuppe.

„Wie wahr!“ sagte der Torwart und schenkte der Flupppuppe Suppe nach. „Tatsächlich brauchen wir dringend deine Hilfe!“

„Was gibt es denn?“ fragte die Flupppuppe.

„Das Baby will nicht mehr essen!“

„Oh!“ machte die Flupppuppe und legte ihren Suppenlöffel zur Seite. „Habt ihr es schon mit Pudding probiert?“

Der Torwart nickte.

„Mit gezuckerter Milch und Keksen?“

Wieder nickte der Torwart.

„Dann probiert es mal mit Leberpastete“, sagte die Flupppuppe zuversichtlich. „Das hat bis jetzt immer geholfen!“

„Dieses Mal eben nicht!“ rief der Torwart aus. „Selbst die Leberpastete hat es dieses Mal verschmäht!“

Die Flupppuppe schüttelte ungläubig den Kopf. Es konnte nicht sein, dass das Baby nicht einmal mehr Leberpastete essen wollte!

„Halt! Stopp!“ rief Betrüger-Schorschi. „Ich verstehe überhaupt nichts mehr! Auf welcher Seite vom Blauen Gebirge sind wir denn hier?“

„Auf der richtigen!“ sagte der Torwart knapp. „Wir sind hier, aber Sie sind von drüben!“

„Aber was machen wir denn dann hier?“ fragte Betrüger-Schorschi die Flupppuppe.

„Suppe essen!“, wiederholte die Flupppuppe und unterhielt sich weiter mit dem Torwart über das Baby.

„Um welches Baby geht es eigentlich?“ fragte Betrüger-Schorschi irgendwann dazwischen. „Was fehlt ihm denn?“

Eigentlich hatte er für Babys nichts übrig. Aber er konnte es nicht leiden, in einem Gespräch links liegen gelassen zu werden. Immerhin war er neben seiner momentanen Agenten-Tätigkeit auch Arzt und er konnte den Torwart sicher durch ein paar schlaue Bemerkungen beeindrucken.

„Von dem Baby natürlich“, sagte der Torwart ungeduldig. „Jeder kennt das Baby!“

„Baby ist einfach Baby“, erklärte die Flupppuppe. „Es hat keinen Namen, denn niemand weiß, zu wem es gehört und woher es gekommen ist. Eines Morgens saß es plötzlich oben auf dem Kessel-Berg. Und seitdem sitzt es da und schreit, wenn es Hunger hat.“

„Warum holt es denn keiner vom Berg runter?“ fragte Betrüger-Schorschi verwundert.

„Weil es dafür viel zu groß ist!“ sagte die Flupppuppe. „Das Baby ist dreißig Meter hoch, fünfzehn Meter breit und wiegt 200 Tonnen.“

„220 Tonnen“ korrigierte der Torwart. „In den letzten beiden Jahren hat es noch mal zugelegt!“

Betrüger-Schorschi schluckte. „Und wer füttert das Baby?“

„Warum sind Sie eigentlich hier?“ knurrte der Torwart, „Warum sind Sie überhaupt mit der Flupppuppe mitgekommen, wenn Sie von uns offensichtlich keine Ahnung haben?“

„Weil er mir mit Rat und Tat zu Seite stehen kann!“ sagte die Flupppuppe überzeugt.

Betrüger-Schorschi wuchs ein paar Zentimeter. Ein Kompliment aus dem Mund dieser Frau war mehr als er verlangen konnte!

Der?“ fragte der Torwart skeptisch. „Wie denn?“

„Er ist Arzt!“ erinnerte ihn die Flupppuppe. „Sicher weiß er, wie man das Baby wieder zum Essen kriegt.“

Die Flupppuppe lächelte den Torwart bezaubernd an und erklärte Betrüger-Schorschi: „Alle aus dem Blauen Gebirge müssen das Baby füttern. Weil das Baby so viel isst, wird es langsam knapp mit den Lebensmitteln. Vor allem Milch, Kekse und Puddingpulver gibt es fast nirgends mehr zu kaufen.“

„Schokolade gibt’s auch fast keine mehr!“ sagte der Torwart.

„Warum wird es dann noch gefüttert?“ meinte Betrüger-Schorschi. „Wenn es so schwer ist, würde ihm eine Diät sicher nicht schaden!“

Der Torwart sah Betrüger-Schorschi vernichtend an.

„Andere Länder, andere Sitten“, meinte die Flupppuppe vermittelnd.

„Weil das Baby sonst wütend wird!“ knirschte der Torwart zwischen den Zähnen. „Und wenn das Baby wütend wird, reißt es riesige Steine vom Berg, schmeißt sie ins Tal und zerstört dabei unsere Häuser!“

„Aber dann könnt ihr doch froh sein, wenn es zur Zeit gar nichts essen will!“ sagte Betrüger-Schorschi.

„Im Gegenteil!“ rief der Torwart. „Dann ist es noch unausstehlicher! Wahrscheinlich hat es vom vielen Essen Bauchweh und ärgert sich jetzt, dass es nichts mehr essen kann. Auf jeden Fall schmeißt es zur Zeit mit noch mehr Steinen um sich als sonst!“

„Nicht sehr sympathisch, dieses Baby“, fasste Betrüger-Schorschi die Fakten zusammen.

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