Buch lesen: «Urlaub - jetzt komm ich!», Seite 2

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Kollegium

Natürlich ist es ein deutlich schwerwiegenderes Schicksal mit wesentlich mehr Konsequenzen, wenn zum Beispiel Eltern ihr eigenes Kind verlieren oder ein Familienangehöriger, Freunde oder ferne Bekannte plötzlich einer schlimmen oder lebensbedrohlichen Krankheit unterliegen, als mein Eigenes. Das steht außer Frage. Blitzartig ändert sich in einer Sekunde auf die andere das gesamte Leben. Existenzen werden vernichtet. Schlagartig lässt der Blick in die Zukunft nichts Positives erahnen und ganz viele Fragezeichen kreiseln bildlich nur noch vor den Augen umher. Das ist wirklich kläglich. Vor allem dann, wenn es den Hauptverdiener der Familie trifft, alleinerziehende Mütter oder die sogenannten Workaholics, die ohne ihre Arbeit einfach nicht sein können und ohne diese nicht so recht wissen, was sie mit der neu gewonnen Freizeit anstellen sollen. So wie ich.

„Lena, ist bei dir alles in Ordnung?“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ernst stand neben mir und schaute mich mit großen Augen an. Immer noch sprachlos nickte ich, hob das DIN A4-Blatt auf und lief langsam zu meinem Schreibtisch beziehungsweise zu meinem Noch-Schreibtisch. Ich sank auf meinen Bürostuhl und starrte meinen Stunden- und Urlaubszettel an. Viele Zahlen. Ich hatte tatsächlich erheblich viele Überstunden, die mir jetzt zu Gute kamen. Gezwungener Maßen. Für mich hieß es nun Zwangsurlaub. Sollte ich mich darüber freuen, um auf dieser Variante eine vorzeitige Kündigung zu umgehen? Mag sein, dennoch stimmte mich die Tatsache traurig, denn der Vertrag lief so oder so aus. So viel zusätzliche Zeit hatte ich in das Projekt gesteckt und nun sollte alles umsonst gewesen sein? Ich hätte lachen und zugleich weinen und schreien können. Meine Gefühle befanden sich im Zwiespalt. Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich konnte es nicht sagen. Zu der in meinem Kopf vorherrschenden Leere und den vielen Fragen, die mir gleichzeitig im Kopf umherschwirrten, machte sich Traurigkeit breit. Langsam fing ich an zu Realisieren und über die Worte von Herrn Hoyer nachzudenken. Ich ließ meinen Blick durch unser Großraumbüro schweifen. Mein Team war nicht mehr mein Team, sondern mein Ex-Team. Innerhalb kürzester Zeit war nichts mehr, wie es war.

Mein damaliger Ausbilder wandte zu gerne das Zitat an: „Nichts ist beständiger als die Veränderung!“ Das wussten damals schon die Griechen, aber warum mussten sie alle ausgerechnet damit Recht haben?!

Beim Beobachten stellte ich fest, dass sie alle bereits ein Gespräch bei unserem Vorgesetzten hinter sich haben mussten, denn sie verhielten sich dementsprechend. Frau Gersten weinte, Anna schimpfte, Sieglinde stand am Fenster und starrte nach draußen, Herr Beck packte bereits wütend seine privaten Sachen in einen kleinen Karton ein und Herr Schmidt fluchte. Unterschiedlicher konnten die Reaktionen nicht sein. Unser Großraumbüro glich einer Geisterstadt. Die Sätze von Herrn Hoyer fegten wie ein eiskalter Wind durch den Raum, der die Zettel, die auf den Schreibtischen oder in den Akten lose lagen, umherwirbelte und die Arbeit der letzten Jahre nicht nur durcheinanderbrachte, sondern regelrecht orkanartig zerstörte. Ansonsten herrschten eine bedrückte Stimmung und eine benommene Stille. Das Kollegium konnte nur tatenlos und wie in Tranche zusehen. So, als ob sie neben sich standen. Unser Team ähnelte einem kleinen Häufchen Elend. Bekümmernis überkam mich und Tränen schossen mir in die Augen, als ich in die Runde blickte. Jeder Einzelne von ihnen war mir ans Herz gewachsen. Ich kannte sie seit Beginn meiner Ausbildung und nun wurden wir auseinandergerissen. Getrennt. Für immer. Es sollte uns und unsere Arbeit nicht mehr geben. Von jetzt auf gleich. Je bewusster mir die Gegebenheit wurde, umso perplexer stimmte es mich. Herzzerreißend. Ich wusste weder ein noch aus. Ich wusste nicht, wie es morgen weitergehen würde. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Vom Workaholic zum Arbeitslosen, das konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht ich! Was sollte ich denn den lieben langen Tag zu Hause machen? Putzen? Wäsche waschen? Shoppen gehen? Und dann? Ich brauchte eine Aufgabe, die mich fordert, bei der ich mich beweisen kann und die mich voll und ganz einnimmt und ausfüllt. Dazu zählte nicht die Hausarbeit. Diese erledigte ich bislang neben meinem Beruf und wie es der Satz ausdrückt, nebenbei. Nun sollte ich hauptberuflich Hausfrau sein? Dafür war ich nicht der Typ. Abgesehen von der Tatsache, dass ein Gehalt wegfiel beziehungsweise sich mein Anteil um ein deutliches in den nächsten Monaten reduziert. Michael und ich könnten vermutlich unseren Lebensstil in gewohnter Weise nicht auf Dauer weiterführen. Ihn aufgeben? Dazu war ich noch nicht bereit! Ich arbeitete doch nicht jahrelang fast rund um die Uhr, um mich nun privat einschränken zu müssen. Das Ziel war das genaue Gegenteil. Ein größeres Auto, ein Eigenheim, eine Weltreise, neue Kleidung, eine Märchenhochzeit, dies waren Dinge, die in absehbarer Zeit auf uns zukommen sollten und nicht das Auslaufen meines Arbeitsvertrages.

Herr Beck trat an meine Seite und reichte auch mir einen Karton. „Hier, für dich Lena. Du musst wissen, ich habe gerne mit dir zusammengearbeitet und du sollst wissen, dass dich an der Misere keinerlei Schuld trifft.“

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, warf ihm ein kurzes und mitfühlendes Lächeln zu und nahm die Pappkiste entgegen. Mit leiser Stimme sprach ich zu ihm: „Ich danke dir.“ Herr Beck nickte kurz, lief wieder an seinen Arbeitsplatz und packte weiter. Dieser Handlung folgte ich. Es half ja nichts.

Den kleinen, braunen Karton stellte ich auf den Schreibtisch ab, öffnete die Schieber meines Rollcontainers und die Türen des Aktenschrankes und fing an, meine persönlichen Sachen in die Kiste zu packen. Sämtliches Arbeitsrelevantes legte ich auf die Tischplatte. Als ich nach vierzig Minuten fertig war, nahm ich ein letztes Mal auf meinen Bürostuhl Platz und starrte auf den Karton. In dieser kleinen quadratischen Schachtel befanden sich nun alle meine Habseligkeiten der letzten fast neun Jahre. Verrückt und erschreckend erstaunlich zugleich. Der Stapel Hefter und Unterlagen zu meiner Projektarbeit hingegen, den ich neben dem Karton aufgetürmt hatte, erfüllte mich mit Wehmut und Stolz zugleich. Ich starrte darauf. Das war das, was ich in den letzten Jahren geschafft und erreicht hatte. Meine gesamte Energie sowie Freude und Spaß steckte darin und als ich mir dessen bewusst wurde, ereilte mich erneut Traurigkeit und Wut zugleich. Für was dies alles?

Innerlich schimpfte ich und stellte mir selbst erneut die Frage, warum Herr Hoyer uns nicht schon eher etwas gesagt hatte? Wenigstens einen Hauch einer Andeutung wäre nett gewesen! Er wusste wohl nicht, was er uns allen damit antat? Er zerstörte Zukunftspläne, Träume und auch Existenzen. Unser Team, bestehend aus sechs Kollegen, von heute auf morgen alle ohne Arbeit. Das Kollegium war aufgelöst. Es gab weder ein „uns“ noch ein „Team“. Jetzt war jeder für sich selbst verantwortlich. Jeder musste mit der Tatsache leben und für sich selbst einen Weg finden, damit umgehen zu können und auch einen Weg finden, wie es im Leben weitergehen sollte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zu frisch war die neue Situation. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich wegwollte. Einfach nur weg. Egal wohin. Raus. Mit niemanden reden, niemanden sehen, nichts machen. Einfach nur fort. Von zu Hause, von Allem. Abstand gewinnen. Das alles Revue passieren lassen, verarbeiten und in Ruhe darüber nachdenken, was heute geschah und wie mein weiteres Leben beruflich weitergehen sollte.

Als Michael von seiner Frühschicht nach Hause kam, staunte er nicht schlecht und wunderte sich gleichzeitig, warum ich schon da sei und ganz untypisch für mich, nachmittags halb vier auf dem Sofa saß. Um diese Uhrzeit und ohne Laptop auf dem Schoß, ein ganz ungewöhnliches Bild. Ich sah fern. Eine weitere Seltenheit. Er bemerkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Als er dann noch die voll geschnaubten und mit Tränen getränkten Taschentücher neben mir liegen sah, bestätigte dies seine Annahme. Michael setzte sich fürsorglich an meine Seite und nahm mich in den Arm. „Was ist denn passiert?“, fragte er nach.

Schniefend erzählte ich ihm alles. Verständnisvoll hörte er mir zu und versuchte mich zu trösten. „Wir schaffen das gemeinsam, Lena. Irgendwie wird es schon weitergehen.“ Doch das wollte ich in dem Moment nicht hören. Er hätte alles Mögliche zu mir sagen können, es wäre bei mir nicht angekommen. Um ehrlich zu sein, wollte ich auch überhaupt keine guten Tipps, tröstende Worte, motivierende Zukunftspläne oder sonst gut gemeinte Ratschläge, denn all dies gab mir meinen Job nicht zurück. Ein großer Lebensinhalt wurde mir einfach so weggenommen, ohne dass ich irgendeinen Einfluss nehmen konnte. Ich steckte in einer ausweglosen Situation, in einer Sackgasse. Am heutigen Tag brach für mich die Welt zusammen. Vor allem, weil es so unvorhersehbar geschah. Aus dem Nichts heraus. Ohne Vorankündigung. Auch wenn das für viele nicht nachvollziehbar ist, für mich fühlte es sich so an, als wäre ein geliebter Mensch gestorben. Ganz unerwartet. Aus dem Leben gerissen. Die Arbeit war meine Bestimmung und imaginärer Freund zugleich, der plötzlich von mir gegangen ist. Und nun? Nun wird eine Leere entstehen!

„Aber wir haben doch uns. Das ist doch das Wichtigste“, meinte Michael. Damit hatte er natürlich voll und ganz Recht, aber das sah ich zu diesem Zeitpunkt nicht und wollte es auch nicht sehen. Von mir selbst überrascht, überrumpelte ich ihn und schlug vor: „Ich muss hier weg. Michael, lass uns in den Urlaub fliegen. Vielleicht kann ich so von dem Geschehnis Abstand erlangen und versuchen, einfach etwas abzuschalten und neue Energie zu tanken. Wenn ich Glück habe, eröffnet sich eine neue Perspektive für mich, an die ich bislang noch nicht einmal gedacht habe.“

Michael streichelte mir über die Wange. „Wie stellst du dir das vor, Lena? Ich weiß nicht, ob ich so kurzfristig Urlaub bekomme. Ich kann lediglich morgen meinen Vorgesetzten fragen, aber es wird schwierig.“

Obwohl ich mit dieser Antwort gerechnet habe, war ich enttäuscht. Ein kurzer Lichtschein am Horizont strahlte mir entgegen, war zum Greifen nah und erlosch wieder. Vernichtet. Zerstört. Genauso wie mein Anstellungsverhältnis. Einfach so. Es machte Schnipp und weg war´s. Wo war der Magier, der das Verschwundene wieder herbeizaubern konnte? Wahrscheinlich, wie alle anderen auch, beruflich unterwegs und eingebunden. Wo auch immer, definitiv nicht hier.

Der nächste Tag

Der nächste Tag mit unveränderter Gefühlslage brach an. Michael erlangte definitiv die Kenntnis, dass er kein Frei bekam und somit bestand für mich lediglich die Alternative, den gewünschten Urlaub allein anzutreten.

Mit dieser Gewissheit machte ich mich auf den Weg in das nächstgelegene Reisebüro.

Freundlich wurde ich von einer netten Dame, von mir auf Mitte vierzig geschätzt, mit langen, dunkelbraunen Haaren und einer sehr schlanken Figur, empfangen und begrüßt. Nachdem ich ihr gegenüber Platz genommen hatte, bot sie mir einen Kaffee und ein Glas Wasser an. In ihrer Gastfreundlichkeit wollte ich sie natürlich nicht bremsen und meinte: „Sehr gerne. Vielen Dank.“ Prompt stand sie auch schon an dem Kaffeeautomaten und ließ das schwarze Heißgetränk in die Tasse ein. Das Gedeck vervollständigte sie mit einer dekorativen Serviette sowie einem runden Keks und präsentierte es mir anschließend auf einem kleinen Tablett. Dann nahm sie Platz und starrte voller Erwartungen von meiner Person auf ihren Bildschirm und wieder zurück zu mir. Nach einem kurzen Räuspern unterbrach ich den Moment des Schweigens und schilderte ihr mein Anliegen. „Ich möchte irgendwo hin in den Süden, Last Minute, für eine Woche. Der Flug sollte nicht länger als vier Stunden dauern. Das Land ist mir egal, Hauptsache es ist warm, das Hotel liegt direkt am Strand und am Meer. Das Hauptziel der Reise soll für mich Entspannung sein und das ich abschalten kann, aber trotzdem ab und an gut unterhalten werde.“

Die nette Dame nickte verständnisvoll und meinte: „Sie haben klare Vorstellungen. Das gefällt mir. Ich werde nachschauen, was sich für Sie finden lässt.“

Ich wartete geduldig und trank genüsslich meinen Kaffee. Schließlich hatte ich keinerlei Stress oder Termin- und Zeitdruck. Auf Arbeit musste ich nicht, Michael war zur Frühschicht und kam erst gegen fünfzehn Uhr nach Hause und somit lebte ich heute ganz unbeschwert in den Tag hinein. Leider auch ohne Ziel. Obwohl, im Grunde genommen hatte ich ein Ziel und zwar ein Reiseziel für mich herauszusuchen und zu buchen. Das war es aber auch schon. Melancholisch dachte ich zurück an gestern um die Zeit, als ich noch im Büro saß, an meinem Schreibtisch, links und rechts neben mir die Aktenstapel, vor mir ein großes weißes Blatt, auf dem ich skizzierte und die Daten anschließend in den Computer eingab. Immer wieder wurde ich von dem Klingeln des Telefons unterbrochen oder von Zwischenfragen und Absprachen mit den Kollegen.

Bevor ich in Selbstzweifel und Frustration versank, riss mich die Reisekauffrau rechtzeitig aus meinen Gedanken.

„Hier habe ich genau das Richtige für Sie“, meinte die Dame und drehte ihren Bildschirm in meine Richtung. „Können Sie die Bilder gut sehen?“, fragte sie sicherheitshalber nach.

Ich blickte gespannt auf den rechteckigen Kasten und nickte.

„Gut, also ...“, eröffnete sie ihre Erläuterungen und ich lauschte gespannt. Sie unterbreitete mir einige Vorschläge, die sich von meinen vorgegebenen Rahmenbedingungen sehr ähnelten. Meine Wahl fiel auf Tunesien, Monastir. Das Angebot sprach mich vom Preis-Leistungs-Verhältnis her am meisten an. Die einzige Bedingung war, morgen loszufliegen. Diese Prämisse stellte für mich kein Hindernis dar und ich schlug zu. Ich wäre ja schön blöd gewesen, mir den hoteleigenen Sandstrand und das türkisblaue Meer entgehen zu lassen!

Überglücklich über meinen Entschluss kam ich zu Hause an. „Ich fliege in den Urlaub! Zwar alleine, aber ich fliege. Ab ins Warme! Keine Fragen. Keine Antworten. Kein Nichts. Nur ich und … Urlaub!“, posaunte ich hüpfend durchs Wohnzimmer. Ich freute mich wirklich. Nicht nur über die Tatsache, dass ich der Misere entfliehen konnte oder endlich Urlaub zu haben, sondern darüber, endlich Urlaub zu machen. Zu erleben. So skurril das für einen Workaholic klingen mag.

Die Chance, in weiter Ferne abzuschalten und zu realisieren, stand im Vordergrund. Zu mir selbst sowie zu einer neuen Aufgabe zu finden, ebenfalls. Mein Plan stand. Nun hoffte ich nur noch, dass dieser glückte. Auf dem Gebiet des Verreisens und alles damit im Zusammenhang Stehende, bezeichnete ich mich eher als Laie. Kaum zu glauben, aber mein letzter Urlaub lag bereits ganze neun Jahre zurück. Abschlussfahrt der zehnten Klasse, wenn man dies überhaupt als Urlaub bezeichnen kann. Seitdem nie wieder. Abgesehen von verschiedenen Wochenendtrips mit Michael, aber diese verbuche ich unter den Begriff Kurztrip. Zugegeben, den Drang arbeiten zu müssen und zu wollen, hat mich oft von einer längeren Erholungsphase abgehalten. Bereits am Wochenende, egal, ob ich alleine oder mit Michael zusammen war, ob wir zu Hause oder in einem SPA-Hotel waren, mich überkam spätestens Sonntagnachmittag eine gewisse Unruhe. Unruhe, der Sucht der Arbeit nachzugehen. Wenn ich dieser Aufgabe nicht nachkommen konnte, stimmte mich das schlecht gelaunt. Missmutig. Ich war genervt und bereits nach kurzer Zeit auch mein Umfeld.

Natürlich sprang ich nun in ein sehr riskantes Abenteuer. Eine Woche lang Nichtstun. Keine Verpflichtungen. Versuchen, den Gedanken freien Lauf zu lassen. Ein Wagnis für mich. Dennoch überwog die Freude und Lust, mich darauf einzulassen und dem, ich nenne es mal zwangsweißem Dahingammeln zu Hause zu entkommen. Das eine Woche nicht der unendlich lange Urlaub ist und die Welt verändern würde, dessen war ich mir bewusst, aber eine Woche ist länger als zwei oder drei Tage und für mich als Arbeitssüchtige eine halbe Ewigkeit. Und dann noch alleine? Auf einmal wurde ich unsicher. Traute ich mir dies tatsächlich selbst zu? In einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht mächtig war? „Oh Gott, jetzt ist alles schon gebucht!“, sprach ich laut aus. „Lena, Du bist eine taffe und selbstbewusste Frau. Was soll denn schon schief gehen?“ Diese Frage konnte ich mir selbst mit „Nichts“ beantworten und zog ein Fazit meiner Zweifel der letzten Minuten: Es wird eine sehr amüsante Erfahrung, sich alleine auf eine Reise mit ungewissen Vorstellungen, Zielen und Kenntnissen zu begeben. Jedoch bin ich auch fest der Meinung, dass mir ausschließlich als Alleinreisende Dinge widerfahren, die ich sonst garantiert nicht erleben würde. Es beginnt bereits mit den Blicken am Flughafen, aber eins nach dem anderen.

Leider weiß ich bereits jetzt, dass ich die schönen, aber auch negativen Erlebnisse und Momente mit niemanden teilen kann. Abgesehen von der lauernden Tücke des nicht Zurechtfindens. Dies könnte zu einer großen Herausforderung für mich werden.

Liebe Leser und Leserinnen, sind Sie bereit, alleine zu verreisen und sich somit auf ein spannendes und unterhaltsames Abenteuer einzulassen? Der Gewohnheit zu trotzen und Neues auszuprobieren? Lohnenswerte Erfahrungen zu sammeln, um am Ende des Urlaubs garantiert ein positives Resümee zu ziehen? Ich schon!

Das soll nicht heißen, dass ich meinen Freund nicht liebend gerne an meiner Seite gehabt hätte, aber selbstverständlich akzeptierte ich, dass er so kurzfristig kein Frei bekam. Abgesehen davon, war ich nur eine Woche weg und nicht Monate oder für immer. Außerdem war ich aus vorbenannten Gründen meiner Überlegungen froh darüber. Selbstfindung funktioniert einfach nicht, wenn ständig mich jemand nicht mich selbst sein lässt! Mit schlechter Laune hätte ich Michael vermutlich die komplette Urlaubsstimmung ruiniert. Genau deswegen ließ er mich alleine in den Urlaub ziehen. Er wusste, wenn er dagegen redet und ich mich ihm zuliebe umentscheide und hierbleibe, ich nur grüble, mich in meinem Bett tief unter die Decke verkrieche und Trübsal blase. Insgeheim hoffte Michael, dass seine Freundin nach einer Woche Distanz nach Hause kommt, die Welt mit anderen Augen sieht, gut gelaunt und motiviert ist. Seine Lena sollte wieder so hergestellt sein, wie er sich in sie verliebt hatte. Tief in meinem Inneren hoffte ich das auch von mir selbst. Somit war meine ganz persönliche Auszeit auch gleichzeitig ein Ansporn an mich selbst. Zeit für mich. Zeit zum Nachdenken, neue Pläne zu schmieden, zum Erholen und Entspannen und es war eine kleine Auszeit von Michael. In gewissermaßen unsere kleine Auszeit voneinander, welche meiner Meinung nach einer Beziehung nie schadet. Im Gegenteil, denn dann bemerkt der Andere, ob und was ihm fehlt und die Freude, den Partner wieder in seine Arme zu schließen, ist umso größer.

Ich jedenfalls freute mich auf meinen Urlaub und auf das Wiedersehen mit Michael.

1. Tag

1. Tag Mein Koffer war gepackt und der Rucksack sehr gut gefüllt. Obwohl das Reiseziel im Warmen lag, hatte ich allerhand Klamotten eingepackt. Vom Bikini über Sportsachen, schicke Abendgarderobe, bis hin zum Pullover und lange Jeans. Man weiß ja nie, wie die Temperaturen sind und was ich zum Anziehen benötige. Dementsprechend packte ich auch reichlich Schuhe in den Koffer ein, denn viele Anziehsachen bedeuteten viele Schuhe. Für jeden Anlass das passende Outfit, so lautete meine Devise. In meinem Rucksack hingegen befand sich mehr oder weniger Freizeitbeschäftigung. Ein Buch, eine Rätselzeitung und eine Illustrierte mit dem neuesten Klatsch und Tratsch, aber auch Notwendiges wie mein Portemonnaie, das Handy, die Digitalkamera und die entsprechenden Ladekabel. So war ich gut gewappnet. Im Normalfall gehörte ich zu der Sorte, die ein Handy nicht mit in den Urlaub nehmen oder ins Kino, auch nicht in ein Fitnessstudio oder sonst irgendwo hin, aber da ich diesmal ganz alleine unterwegs war, bestand Michael darauf, dass ich es einpacke. „Falls doch mal irgendetwas mit dir ist, kannst du sofort anrufen oder eine Nachricht schicken. Außerdem bist du für mich erreichbar.“ Sicher ist sicher. Dennoch nahm ich mir vor, mein Mobiltelefon ausgeschaltet und gut verwahrt im Safe des Zimmers zu lassen. Immerhin wollte ich meine Ruhe haben und abschalten.

„Sobald du angekommen bist, meldest du dich bei mir, ja!?“, redete Michael mir ins Gewissen, als wir vor der großen Drehtür des Abreiseterminals am Flughafen standen. Ich nickte und dann fielen wir uns zum Abschied in die Arme. Ein leidenschaftlicher Kuss folgte.

Michael wollte mich nicht in das Gebäude begleiten. Abschiednehmen, auch nur für eine kurze Zeit, war generell nichts für ihn und versuchte es weitestgehend zu vermeiden. Obwohl er ein Gefühlsmensch ist, war er dafür einfach nicht geschaffen oder gerade deswegen. Es erinnerte ihn immer so an Trennung und damit verbundenen Schmerz. Ein lang gehütetes Kindheitstrauma, wie ich vermutete oder er wollte als Mann mir gegenüber einfach keine Schwäche mit einem vermeidlichen Tränenausbruch zeigen.

Ich war ihm nicht böse. Ich besaß die Gewissheit, dass er mich ungern alleine gehen ließ und mich sehr vermissen würde, auch wenn er es in der Situation nicht zugegeben und sagen konnte.

„Ich liebe dich Michael“, flüsterte ich ihm ins Ohr.

„Und ich dich, wie verrückt. Pass gut auf dich auf, hörst du Lena?“, erwiderte er.

Er machte sich große Sorgen um mich. Das fand ich niedlich. Vor Rührung schossen mir die Tränen in die Augen. Eine letzte Umarmung, dann wurde es auch schon Zeit. Um nicht den alten Lederkoffer meiner Eltern, den ich für die Reise als Meinen bezeichnet durfte, durch das große Flughafenterminal schleppen zu müssen, hievte Michael diesen sowie den Rucksack auf einen der Gepäckwagen. Dieses große braune Rechteck verfügte zwar über Räder, so dass ich diesen bequem hinter mir herziehen konnte, jedoch spürte ich bei jeder Berührung des Leders den Inhalt des Koffers. Jeder Absatz meiner Schuhe verwandelte sich in einen Dolch, die Ecken der Kosmetiktasche zu Nadelspitzen, welche lediglich von meiner langen Jeans abgehalten worden, sich direkt in meinen Beinen zu verewigen. Nicht nur blaue Flecke wären jetzt garantiert!

„Warum genau kaufte ich mir bislang noch keinen Hartschalenkoffer mit Rädern? Wer behauptete bislang, dies rentiere sich nicht? Richtig, ich vergaß, ich selbst!“. Wie sehr ich das in diesem Moment bereute! Zum Glück gab es Gepäckwagen. Ich danke dem Erfinder!

Ein letzter Kuss und dann stieg Michael in sein Auto ein. „Ich wünsche dir viel Spaß und erhole dich, mein Schatz“, rief er mir noch zu, bevor die Autotür ins Schloss fiel. Er startete den Motor und dann brauste er rasant davon. Wäre heute im Radio ein Gewinnspiel ausgerufen worden, nach dem Motto „Wer fährt am schnellsten von dem Flughafengelände? Derjenige bekommt fünfhundert Euro geschenkt, cash auf die Hand“, hätte er den Gewinn schon mal sicher gehabt. Wie bereits erwähnt, Abschiede waren einfach nichts für Michael und schon gar nicht von seiner Freundin. Durch die Heckscheibe sah ich ihn noch winken und dann hupte er kurz, bevor er um die Kurve vor und aus meiner Sichtweite verschwand.

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