Buch lesen: «Im ersten Gang geht’s immer rauf», Seite 5

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Wir gehen ins Kloster. Wir steigen hoch. Ein Vogel spielt sich auf.

Es muss ein karges Leben gewesen sein, das die Zisterzienser im 12. Jahrhundert in der Abbaye de Fontenay führten, aber sie führten es im Einklang mit Gott und der Natur in Zufriedenheit und Gelassenheit. Wahrscheinlich waren sie ausgeglichener als wir modernen Menschen von heute, denn sie hatten gefunden, während wir unentwegt auf der Suche sind. Mit dem Unterschied, dass sie wussten, dennoch Suchende zu sein und wir, obwohl wir Suchende sind, fest daran glauben, gefunden zu haben. – Bevor es nun aber allzu philosophisch wird, ein paar Eckdaten: Im Jahr 1118 war die Abtei vom Heiligen Bernhard in einem sumpfigen Bachtal nahe Montbard gegründet worden. Sie ist einerseits eines der ältesten Zisterzienser-Klöster in ganz Europa und gilt andererseits vor allem als ein „zisterziensisches Prunkstück“. Die romanische Architektur der Gebäude offenbart eine erstaunliche Harmonie; die Kirche ist sehr gut erhalten, ebenso der Kreuzgang, Kapitelhaus und Skriptorium.


Himmlisches Lichtspiel in der Abbaye de Fontenay

Vor einigen Tagen, am Tisch im Saal der „Ferme de la Fosse Dionne“, hatte Bernard Clément nicht zu viel versprochen, als er den Besuch der Abbaye de Fontenay als herausragende Pracht burgundischer Geschichte mit jener Attitüde darbrachte, mit der man sonst eine Flasche Chablis öffnet. Das Gebäudeensemble ist schon in den Achtzigerjahren ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen worden, und die Gärten erhielten 2004 die Auszeichnung „Jardin Remarquable“. Regisseur Jean-Paul Rappeneau drehte hier aus gutem Grund Szenen für seinen Film „Cyrano de Bergerac“ – wo sonst könnten die Kulissen passender sein? Und in den Sommermonaten finden Theatervorstellungen und Konzerte statt. Das Kloster Fontenay, übrigens in Privatbesitz und nicht unter staatlicher Aufsicht, ist ein Hort der Kultur. Über die D905 führt der Weg an manchem anderen historischen Haus vorbei, an Land und Leuten und Kanal. Und als wir die Abtei verlassen, werfen wir einen letzten Blick auf die in der Sonne wie frisches Leben strahlenden Mauern und starten durch. Der Raps, die Wiesen und Wälder, die Flüsse und Kanäle, all das Schöne, das sich in verwitterten Fassaden und verwinkelten Örtchen darbietet, bereitet uns unbändige Freude. Die Kühlmittelkontrollleuchte flackert mal wieder kurz auf und ist wahrscheinlich eine Zustimmung des Renaults, dass es endlich weitergeht nach stundenlanger Standzeit. Er will fahren! Wir tun ihm diesen Gefallen. Wir kreuzen den Armançon mehr als nur einmal über unwiderstehlich entzückende Brücken, auf denen sich zwei Autos lieber nicht gleichzeitig begegnen sollten, und wenn eine D-Straße wie die D4 auch noch ein kleines „j“ als Zusatzbezeichnung erhält, wird das Cruisen darauf zur Bewährungsprobe für Mensch und Maschine. Eigentlich müssten am Straßenrand schon händereibend diverse Automechaniker stehen – leichter kann man keine Kunden abgreifen. Wenn gleich ein Wendehammer kommt, sollten wir uns nicht wundern.

Kommt aber nicht. Tatsächlich bessert sich der Untergrund und ist wieder als asphaltierter Weg zu erkennen, die Stoßdämpfer atmen erleichtert auf. Stattdessen fahren wir durch eines der unzähligen Dörfer, bei denen man als Durchreisender schnell die Meinung gewinnen könnte, dass die Landflucht hier kein Thema ist, obwohl das sicher nicht stimmt. In Frankreich legt man aber noch großen Wert auf das Produkt, und dazu gehören die Fachbetriebe, die es in diesen Dörfern augenscheinlich weiterhin gibt. Ein Bäcker, ein Metzger, dazu die fast schon obligatorische Bar-Tabac. Vielleicht reicht das zum glücklichen Leben, das Wichtigste wäre damit jedenfalls abgedeckt. Nun also Châtel-Censoir. Groß ist das Dorf mit seinen kaum mehr als sechshundert Einwohnern nicht, und es scheint auf den ersten Blick wenig zu bieten, für das es sich länger zu halten lohnt. Aber beinahe hätten wir das kleine Schild neben einem hell geschotterten Parkplatz übersehen: ein Pfeil, eine Treppe, eine stilisierte Kirchenabbildung. Klarer Fall für die beiden Tourismusbeauftragten im Renault 4: Wir parken ein und marschieren los. Eine steile Treppe führt über 105 Stufen bis auf den Hügel. Die Kirche ist bemerkenswert. Sie steht wie ein mächtiger Wächter über das Dorf hier oben, ihre Pforten sind geöffnet, kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Weil es mittlerweile recht heiß geworden ist (105 Stufen!), freuen wir uns über die Kühle im Kirchenschiff. Es ist jedes Mal wieder erstaunlich, dass selbst bei einsam liegenden Gotteshäusern ja irgendjemand in aller Frühe, noch begleitet vom restlichen Morgendunst und dem Gesang der Vögel, mit klingendem Schlüsselbund seines Weges zu dieser Glaubensfeste geht, ihre Pforte öffnet und am Abend den selben Weg noch einmal antritt, um alle Türen wieder zuzusperren. Dieser hoffnungsvolle Geist muss somit davon ausgehen, dass es in seinem überschaubaren Dorf, knapp vierzig Kilometer von Auxerre entfernt und abseits bekannter Touristenrouten, dennoch Menschen gibt, die sich den steilen Hügel hinaufbegeben, um dann in der Kirche einige friedliche Minuten zu verbringen. Zu gerne würden wir wissen, wer zum Einbruch der Dämmerung mit großen Schlüsseln in der Hand heraneilen wird, aber die Ruhe zu warten haben wir dann doch nicht. Zudem geht es nun die steile Treppe wieder hinunter, von wo aus der Blick über die weite Flusslandschaft der Yonne und den Canal du Nivernais reicht. Sogar einen kleinen Hafen hat Châtel-Censoir! Das sollte genug sportliche Betätigung an diesem Tag sein. Jetzt wäre ein Croissant genau das richtige. Gibt’s hier irgendwo irgendwas zu essen? An der Bäckerei sind wir vorhin vorbeigefahren, jetzt sind wir aber am anderen Ende des Dorfes und zu faul, den Weg noch einmal retour zu fahren. Also hinauf auf die D, hinaus in die Landschaft, der Tag ist ja relativ frisch, zwar schon nach Mittag, aber noch vor Kaffeezeit. Château de Faulin zur Linken, Lucy-sur-Yonne durchkreuzt. Während die Zahlenkombinationen von 21 über 951 und 144 bis hin zu 1 wechseln, bleibt der Buchstabe davor unverändert derselbe: D wie Dahintreiben. D wie Daseinsfreude. Und plötzlich: D – wie Donzy!


Marc Mercier, Chef im „Le Grand Monarque“

„Sind Sie das, Monsieur?“ – Es ist zugegebenermaßen eine bescheuerte Frage, denn natürlich ist er es, aber man lässt ja nichts unversucht, um die eigene Neugierde zu stillen. Das Foto an der Wand zeigt ganz deutlich Marc Mercier, den Maître d’hôtel und Besitzer des „Le Grand Monarque“, mit einem sehr bekannten Franzosen: Seite an Seite mit Michel Platini zu stehen, ist nicht alltäglich, „aber auch viele Jahre her“, sagt der freundliche Monsieur mit dem breiten Lächeln. Er habe eine Zeit lang für den Europäischen Fußballverband (UEFA) als Koch gearbeitet, bis er sich seinen Traum von Unabhängigkeit erfüllen konnte. Jetzt ist er sein eigener Chef im Hotel zu Füßen der Église Notre-Dame-du-Pré in der schnuckeligen Ortschaft Donzy, die am Nachmittag am Wegesrand liegt auf der Reise durch die Bourgogne-Franche-Comté, wie es Ortschaften wie diese gemeinhin zu tun pflegen: nicht aufdringlich, aber mit überwältigendem Charme zwischen Verfall und edler Patina. Etwa 1600 Einwohner zählt die Gemeinde am Fluss Nohain. Michel Platini gehört nicht dazu.


Ton in Ton: Savane und Notre-Dame-du-Pré in Donzy

Marc Mercier steht neben einem riesigen, alten gusseisernen Herd, über dem schwere Pfannen und Töpfe aus Kupfer herabhängen. „An diesem Herd habe ich mein Handwerk gelernt.“ Heute gehört er zu denen, die es verstehen, gehobene Küche kunst- und lustvoll auch auf Teller derer zu zaubern, die sich für das Essen nicht gleich hoch verschulden wollen. Im „Logis de France“-Hotelführer, quasi einer Bibel für Frankreich-Reisende, die keinen Wohnwagen hinter sich herschleppen – für einen R4 ohnehin kaum möglich (aber machbar!) – und von Wurfzelten, Isomatten und Ameisen in der Unterhose wenig halten, wird Merciers Herberge mit drei Kaminen („cheminée“) und zwei Töpfen („cocotte“) bewertet, was schon ziemlich gut ist. Angesichts dessen, was an diesem Abend auf die Teller kommen wird und – so viel sei im Voraus verraten – morgen nach dem Aufstehen als Frühstück auf und an eben jener gusseisernen Traditionskochstelle bereitsteht, die nur noch als Zierde dient, dürfte der dritte „cocotte“ in greifbarer Nähe sein.

„Le Grand Monarque“ ist eines dieser vielen Logis-Hotels, denen man von außen nicht ansieht, was drinsteckt. Noch die Vergangenheit der alten Postkutschenstation spürbar in der Fassade verankert, offenbart das Haus innen eine Mischung aus Modernität und gelassenem Charme der Vergangenheit. Wer nach opulentem Mahl und ein paar Gläsern Wein, von denen eines zu viel war, zum Zimmer in die obere Etage gelangen will, ist froh, sich am Seil im Treppenturm hinaufzuhangeln, das anstatt eines Handlaufs gespannt ist und für eine geradezu ritterliche Atmosphäre sorgt. Merciers Ehefrau Anne-Marie ist stolz auf das alles hier. „Und dass dort draußen auf unserem Hof eine Quatrelle parkt, hat es auch lange nicht mehr gegeben. Sehr lange“, sagt sie, zieht die Augenbrauen zustimmend nach oben und versucht, sich den letzten Gast mit einem Renault 4 hervorzurufen. Vergeblich. Muss sehr lange her sein. Umso schöner, dass da jetzt einer steht, der sich farblich den Fassaden angleicht. Das Fahrzeug passe perfekt ins Bild der geschichtsträchtigen Gasthausmauern und der Kirche im Hintergrund. Ein altes Haus, ein altes Gotteshaus, ein altes Auto.

Aber ein junger Wein. Auf der Terrasse, wo die Mieze des Hotels mausmäßig gerade Trübsal bläst, serviert Anne-Marie einen Cotteaux du Giennois der Domaine de Villargeau aus der Umgegend. Der Keller des Hotels offenbart noch eine Menge mehr wohlschmeckender Rebsäfte aus anderen Regionen, aber mit denen aus dem Umkreis sollte man bekanntlich beginnen. Und dieser hier ist wirklich gut. So schmeckt also Donzy! Ein paar Meter vom Hotel entfernt befindet sich ein Teich, der vom Flüsschen Nohain gespeist wird. Inmitten des Gewässers ist eine kleine Insel; von dort betrachtet ein Schwan das Nahrungsangebot, das höchstwahrscheinlich des Öfteren in Form von raschelnden Tüten mit Inhalt daherkommt. So schmeckt ihm, dem Schwan, Donzy. Und schon rauscht er auch heran und präsentiert sein flauschiges Federkleid im Stile einer Haute-Couture-Modenschau, der Angeber. Für die Könige Frankreichs waren diese stolzen Vögel übrigens Delikatessen; die direkten Vorfahren dieses Exemplars hatten viel Glück gehabt, weil Schwan heute nicht mehr in Töpfe und auf Teller kommt. Auch nicht im „Le Grand Monarque“.


Der heimliche König von Donzy ...

Ein Mühlrad dreht sich, es poltert, es plätschert und rauscht, und wer genau zuhört, wird das ewige Lied aus Verfall und Hoffnung erkennen, das in so vielen Ortschaften gespielt wird, hier vom Wasser, dort vom Wind. Donzy ist nicht arm, nicht reich, ist im Grunde so etwas wie das Paradebeispiel einer D-Straßen-Ortschaft. Bildhübsche Häuser auf der einen Seite, verlassene Betriebe und Gebäude, deren Mauerrisse mit jedem Tag größer werden, auf der anderen. Die jungen Menschen driften Richtung Paris, Auxerre, Orléans, die alten bleiben hier. Das ist das Schicksal, das sich Donzy hundertfach mit anderen Ortschaften in Frankreich teilt. Aber die D1, die haben nur wenige, die Mutter aller D-Straßen, sie führt direkt durch diese Gemeinde. Nicht dass man stolz darauf sein müsste hier in Donzy, da gibt es andere Vorzüge, aber Frankreichs Straßennetz ist mit über einer Million Kilometern, von denen rund ein Drittel auf Département-Straßen entfällt, schon ziemlich groß, und die D1 klingt doch sehr verheißungsvoll nach Anfang und Aufbruch.

Am nächsten Morgen: Der Tank ist voll, die Taschen gepackt, die Mieze schleicht ums Auto, noch immer ohne Maus. Was haben wir eingetragen ins Fahrtenbuch? Mal schauen, da steht: „Bad und WC super, mit Riesendusche samt Massagestrahl, rosafarbene Bodenfliesen; Chambre sehr komfortabel, sehr gutes Bett, breit, mit fester Matratze; Frühstück sogar mit frisch geschnittener Ananas und himmlischer Feigenmarmelade aus eigener Produktion, stimmungsvoll drapiert am gusseisernen Herd im Vorraum des Restaurants.“ Wir sagen den Merciers Dank, fahren vom Hof am nach wie vor selbstverliebten Schwan vorbei auf die D1 und brechen auf zu neuen Ufern, was sprichwörtlich zu nehmen ist, denn die Loire ist nicht mehr weit entfernt.

Ein Auto parkt ein. Wir sitzen auf bunten Stühlen. Der Käse ohne Namen.

Nichts als Stille im Dörfchen Mézilles. Das liegt daran, dass gerade Mittagspause ist. Allerdings wohnen hier auch nur um die sechshundert Menschen, die Mézillois genannt werden, was wie eine berühmte französische Zigarettenmarke klingt. Die Kirche hat schon bessere Tage erlebt. Saint-Mariens Decken schimmeln in relativem Dunkel vor sich hin, es duftet nach Kellerfeuchte. Vorne am Eingang ist ein Gerüst aufgebaut worden, eine blaue Plane verhängt einen Teil der Fassade. Die Sanierungsarbeiten für dieses „Monument historique“, einem als schützenswert eingestuften Denkmal aus dem 16. Jahrhundert, werden den Mézillois gefallen. Von der Terrasse der Bar Le Bacchus ließe sich die Bautätigkeit recht entspannt betrachten. Ist bloß gerade keiner da, weder auf der Baustelle noch in der niedlichen Tränke. Sie hat geschlossen. So ein Elend. Jedes Mal, wenn die Sekundensehnsucht nach einem belebenden Glas Sauvignon zwischen midi und après-midi am größten ist, steht man enttäuscht vor einer Türe, die nicht aufgeht. Man lugt durch das Fenster, man drückt die Klinke mehr als nur einmal, man rüttelt daran, als wenn es etwas bringen würde, und wenn man nicht aufpasst, klebt die Zunge an der Pforte fest, weil sie zu weit heraushängt. Der Groschen fällt langsam, und je langsamer er niedergeht, bisweilen in Zeitlupe, desto größer ist die Enttäuschung darüber, dass wirklich, aber auch wirklich keiner da ist, der jetzt öffnen wird. Das wäre doch eine so hübsche Gelegenheit, auf der Terrasse dieser freudestrahlenden Bar zu sitzen und verliebte Blicke auf die Quatrelle zu werfen, die auf der Place de l'Église durchschnaufen darf. Kein anderes Auto steht jetzt dort, sie hat den ganzen Hof für sich alleine. Einen Vormittag lang ist sie schon durch die Franche-Comté gescheucht worden und hat sich im Schatten des Turms von Saint-Marien die Auszeit verdient. Wenigstens ist die Kirche geöffnet. Mit Messwein ist darin nicht zu rechnen, mit Sauvignon schon mal gar nicht, aber ein kultureller Kleinstspaziergang unter göttlicher Aufsicht lässt die irdischen Gelüste vielleicht ja vergessen machen. Ob es nun das komplett aus Holz bestehende Dachgewölbe des Kirchenschiffes oder die zahlreichen Wandmalereien sind – Saint-Marien offenbart ihren ganz eigenen Charakter, wie es so viele andere Kirchen und Kapellen auch tun, die in Frankreich oft den ganzen Tag lang geöffnet haben, damit Reisende und Rastende in sie eintauchen können, um ihre Geschichte zu ergründen oder aktuelle Ausstellungen zu betrachten, die dort gezeigt werden, weil es bessere Räume für Ausstellungen eigentlich nicht geben kann. Nie wird das langweilig, die himmlischen Häuser haben zu jeder Zeit etwas zu erzählen, und je stiller es darin ist, desto mehr wird derjenige erfahren, der die Kunst des Schweigens genauso gut beherrscht wie die alten, kalten Mauern. Hier ist es das Fresko des Martyriums des Heiligen Blasius, das aus der Stille des Steins schreit. Hinter Saint-Marien gibt es einen alten Waschplatz, der ausnahmsweise nicht den Eindruck macht, dass er von der Dorfgemeinschaft mit Akribie sauber gehalten wird. Er ist am Ufer des Branlin, der sich zwischen Bach und Fluss nicht entscheiden will. Aber er fließt, fließt leise durch Mézilles, der Ortschaft, die ein Schläfchen hält. Fast wäre jetzt der Durst nach dem Sauvignon vergessen gewesen, fast hätte sich das Sirren des schmalbrüstigen Renaults, zur Abfahrt bereit, über die Ruhe der Ortschaft ergossen, wenn nicht in diesem Moment ein anderes Auto geräuschvoll auf der Place de l'Église vorgefahren wäre. Ein zweites folgt. Und in der Bar wird das Licht angeschaltet. Bacchus, der Göttliche, ein Trinker vor dem Herrn, hat doch noch ein Einsehen. Oder er ist einfach nur geschäftstüchtig, weil er weiß, was in der kommenden Viertelstunde passieren wird …

Wir sitzen draußen auf grünen Stühlen an einem roten, runden Tisch aus Stahl. Endlich mal keine Stapelsessel aus wabbeligem Kunststoff, die Namen wie „Altea“ oder „Scilla“ tragen und für fünf Euro pro Stück zehntausendfach in Discountern verkauft werden, weil selbst Baumärkte, die etwas auf sich halten, das Zeug nicht mehr unters Volk bringen wollen. Wer sie erfunden hat und clever genug war, ein Patent darauf anzumelden, sitzt vermutlich längst auf besserem Mobiliar. Indes kaufen Franzosen wie verrückt den Stapelsessel, meistens in Weiß, manchmal in gewagtem Jägergrün oder Hundekotbraun, was ihn auch nicht schöner aussehen lässt. Stapelsessel stehen überall. Sie verunstalten Balkone, sie verschandeln Terrassen vor Bars und Restaurants, in Gärten, und es ist höchst verwunderlich, dass selbst Schlossbesitzer nicht davor zurückschrecken, die Kunststoffungeheuer in Dutzenden auf hellem, edlem Kies um sonnenermattete Plastiktische zu gruppieren. Es sieht billig aus, weil es billig ist. Es gibt Häuser, windschiefe, charaktervolle Häuser aus vergangenen Jahrhunderten, mit unterteilten Fenstern, noch einfach verglast, die von hellblauen, gelben oder weißen Läden gesäumt sind und auf denen schmale Schornsteine aus rotem Klinker thronen, in deren Vorgärten Stapelsessel stehen, die wie Furunkel wirken. Man würde gerne anhalten und sie herausoperieren, um den Charme wieder herzustellen, aber weil hier in Frankreich überall diese Alteas und Scillas auftauchen, fährt man lieber weiter und versucht, darüber hinwegzusehen – was schwierig ist. Wir freuen uns, dass wir auf der Terrasse einer Bar wie Le Bacchus endlich mal nicht in einen Plastikstapelsessel gezwungen werden. Der Wein ist bestellt, die Wirtin – Geneviève Piticco mit Namen – bringt ihn mit einem Lächeln in zwei schmalen Römergläsern heraus und fragt uns, ob wir einen Käse dazu haben möchten. Natürlich, ein Käse, hervorragende Idee. Sie geht glücklich hinein und kehrt nach kaum einer Minute genauso entzückt zurück. Es ist 14:02 Uhr. „Voilà, fromage chèvre fumé“, sagt sie. Den champagnerkorkengroßen Laib hat sie geviertelt.

14:03 Uhr. Das nächste Auto parkt auf der Place de l'Église ein, es ist das vierte. Zwei Damen steigen aus, hübsch hergerichtet, schätzungsweise zwischen sechzig und siebzig Jahren alt. Sie stöckeln auf Bacchus' Bar zu, um der mézilloischen Lebensart zu frönen. Unser Blick schweift über den Platz, der umgeben ist von zerrütteter Schönheit, von alten, wundervollen Fassaden, aus denen der Putz bröckelt, und anderen, die saniert worden sind. Die Kirchturmspitze spiegelt sich im Wein. Der Käse schmeckt ausgezeichnet. Geneviève kehrt zurück, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.

„Ja, unbedingt. Sagen Sie mal, das ist ja ein vorzüglicher Käse. Wie heißt er denn?“

Die Wirtin sagt: „Chèvre fumé.“

„Nein, nein, wir möchten gerne wissen, wie er heißt. Wie sein Name ist!“

Sie wiederholt: „Chèvre fumé.“

Unterdessen parkt das fünfte Auto vor ihrer „piticcoresken“ Bar ein, gleich neben dem R4. Es ist 14:05 Uhr. Eine Dame schält sich stöhnend aus einem lausigen Blechkasten mit Beulen rundherum, zieht eine Handtasche nach, die halb so groß ist wie sie, aber als sie es endlich geschafft hat, ruft sie ein freundliches „bonjour“ herüber, trappelt auf die Bar zu und gleitet hinein wie eine Forelle ins Netz.

„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, der Käse, nein, der hat keinen speziellen …“, sagt Geneviève, wird wieder unterbrochen. Während sie versucht, den Satz zu Ende zu bringen, kommt das sechste und siebente Auto. Die Place de l'Église füllt sich. „Ah, bonjour … bisou, bisou …“ Geneviève wird von Doppelküsschen bombardiert. „Es tut mir leid, es ist einfach nur ein ‚chèvre fumé‘, weil es ein fromage chèvre fumé ist“, sagt sie. Ein geräucherter Schafskäse.

„Demnach hat er keinen Namen, unter dem man ihn im Markt finden und kaufen könnte?“, fragen wir zur Sicherheit noch einmal nach. Wir hatten nicht erwartet, dass er Horst, Heinz oder Dieter heißt, aber womöglich Chèvre fumé Mézillois oder so ähnlich.

„… hm … non.“

14:07 Uhr. Achtes Auto. Ein Lieferwagen. Zwei Typen in Blaumännern rumpeln aus dem Inneren, der eine bohrt in der Nase, der andere kramt am Gemächt herum. Er rückt da etwas zurecht und zieht die viel zu weite Hose dann hoch bis über die Hüften, bevor er die TL Savane näher betrachtet. Er blickt hinein, geht einmal herum ums Auto und sagt irgendetwas Nettes zu seinem Kollegen. Dann gehen sie in die Bar.

14:08 Uhr. Neuntes Auto. Eine ältere Dame. Will auch nicht in die Kirche, will in die Bar und einen heben. Geneviève ist schon wieder hinter dem Tresen verschwunden, drinnen, wo sie jetzt alle sitzen.

14:10 Uhr. Das Spiegelbild des Kirchturms von Saint-Marien im Glas wird kleiner. Das liegt daran, dass nicht mehr so viel drin ist. Kirchenfenster waren vorher schon kaum zu sehen, als es noch voll war, denn ein leichter Sauvignon bildet so gut wie keine aus. Drei, vier Minuten vergehen, bis der Turm in beiden Gläsern verschwunden ist. Wir würden ja gerne noch eine zweite Runde ordern, aber die Zeit drängt mindestens so spürbar wie die Promillegrenze, und irgendwann brauchen wir heute noch ein Hotel. Wir möchten zahlen und gehen.

„Madame, der Käse ist wirklich außerordentlich. Würden Sie uns noch zwei Laibe verkaufen? Wir brauchen noch Proviant!“

„Selbstverständlich. Suchen Sie sich zwei aus.“ Geneviève öffnet eine Schachtel, in der sich ein gutes Dutzend dieser Schafskäse befindet, von denen keiner einen Namen trägt. Sie führt die Schachtel unter ihre Nase und inhaliert den Duft auf eine Weise, wie Norddeutsche eine Lösung aus Wasser, Kamillentee, Kochsalz und Eukalyptusöl unter einem Handtuch versteckt und den Kopf über einem heißen Topf haltend in sich aufsaugen, wenn sie Schnupfen haben. Dann zeigt sie auf den einen Käse, zweite Reihe, ganz links und den daneben, seinen Kumpel. „Das sind die beiden besten. Aber versuchen Sie selbst.“ Sie hält uns die Schachtel unter die Nasen. Wir schnüffeln ein bisschen herum und kommen nicht ganz überraschend zu demselben Ergebnis. Die Wirtin rollt den Käse, den es anderswo nicht zu kaufen gibt, weil ein Bauer aus der Region um Mézilles das Produkt nur in kleinen Einheiten fabriziert, in Papier und verlangt fünf Euro.

„Sie haben den Wein vergessen. Den haben wir noch nicht bezahlt“, weisen wir sie auf die Rechnung hin.

„Der ist darin schon enthalten. Ich mache einfach eine runde Summe, wenn Sie nichts dagegen haben.“


Wunder-Bar: Pause mit Käse und Wein auf der Terrasse des „Le Bacchus“ in Mézilles

Zwei Gläser Wein und drei Käse für fünf Euro – nein, dagegen kann man nichts haben, und wenn es möglich wäre, hier ein Zimmer zu mieten, würden wir es auf der Stelle tun, bis zum Schlafengehen Wein trinken und Käse essen auf der Terrasse der Bar Le Bacchus. Auf der Place de l’Église stehen mittlerweile sechzehn Autos und erwecken den Eindruck, dass das Dorf am Branlin nicht so verschlafen ist, wie es vorhin noch gewirkt hatte, als wir auf der D52 hineinrollten. Mit zwei geräucherten Käselaiben im Gepäck rollen wir nun wieder raus und sind uns sicher zu wissen, dass sie die Reise weder überleben noch zu Hause ankommen werden. Wir ahnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dieses leckere Produkt ein Wiedersehen plant.

Wir haben einen guten Freund, der sich um den Garten und die Post kümmert, während wir mit Käse und Karacho über französische D-Pisten knetern. Er ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der unser Ansinnen, nach der Freiheit zu greifen, indem wir uns in ein langsames, altes Auto setzen, wirklich verstehen kann. Ricki heißt er, Ricki mit „i“, darauf legt er Wert, keiner nennt ihn Richard, und er ist sieben Jahre hintereinander immer sechs Wochen lang durch Frankreich gefahren, dann, wenn das Theater, auf dessen Bühne er als Schauspieler in der Schweiz im Scheinwerferlicht stand, Ferien machte. Für diese Reisen setzte er sich stets in seinen Citroën 2CV. Warum Ricki, auch Regisseur, Autor und überhaupt ein Mann voller Leidenschaft fürs Kochen und die Künste, seine Enten-Jahre nicht als humoreskes Stück zu Papier und auf die Bühne gebracht hatte, bleibt sein Geheimnis. Da gab es zum Beispiel diesen Nachmittag, als er auf einem Parkplatz schwungvoll galant zwischen Ferrari und Bentley einparkte. Schwups, hinein in die schmale Lücke. Ausgerechnet in Collonges-au-Mont-d’Or bei Bocuse, dem Dreisterner unter den Dreisterne-Köchen, wo vermutlich jeder Käse einen Namen hat. „Allez, allez, allez, va-t’en“, habe ihn der Parkplatz-Sheriff, kurz vorm Herzinfarkt stehend, aufgefordert zu verschwinden. Es dauerte seine Zeit, bis geklärt war, dass Ricki, quasi schon als Feinschmecker im „Weißen Rössl“ am Wolfgangsee zur Welt gekommen, tatsächlich einen Tisch bestellt hatte und sehr wohl zwischen all den Luxuslinern parken durfte. Aber wer kommt auch schon mit einer „Döschewo“ zu Bocuse!? Es muss ein traumhaftes Bild gewesen sein, man hätte es in Stein meißeln müssen. Das war Anfang der Siebzigerjahre. „Ich weiß nicht, ob es Liebe auf den ersten Blick war, der Preis, oder weil ein Freund und Kollege einen Döschi fuhr. Immerhin haben wir, die Ente und ich, in Treue vereint, so etwas wie Silberne Hochzeit gefeiert“, erinnert er sich gerne an diese Zeit zurück.

Ein Vierteljahrhundert kein anderes Auto zu fahren, nur einen Citroën 2CV, zeugt von wahrer Liebe und Geduld. Es war natürlich nicht eine einzige Ente, so lange hielten die nie. Auf den 2 CV4 in schönstem Weinrot folgte eine Ente in elegantem Beige und hieß dann 2 CV6, weil sie mit wahnsinnig starken 28 PS voranflitzte, fast 110 Kilometer pro Stunde erreichte, und das sogar in der De-luxe-Ausstattung: mit Aschenbecher. Grundsätzlich war's aber eine simple Kutsche. Die Ente war 1938 als Prototyp in Wellblech-Design und einäugig, als „toute petite voiture“ – also etwa „ganz kleines Auto“ – speziell für Landwirte auf den Markt gekommen. Zwei Bauern in Stiefeln sollten Platz finden, ein Sack Kartoffeln oder ein Fass Wein, und die Federung sollte garantieren, dass ein Korb Eier auf der Rückbank holprigste Feldwege unbeschadet überstand. Beim R4, dem Konkurrenzmodell aus dem Hause Renault, wurden Jahre später exakt dieselben Argumente aus dem Hut gezaubert. Wer Ente fuhr, sagt Ricki, der legte sich unumkippbar auf die Seite und trotzte allen noch so engen Kurven. „Sie hat jeden Elch-Test bestanden.“ Realistisch betrachtet konnte sie nur der Rost aus der Bahn werfen. Ein Stück Auspuffrohr, mal vorne, mal hinten, musste jährlich ausgetauscht werden. Aber sie war praktisch, preiswert, perfekt für Studenten, Rentner und das ideale Urlaubsauto, mit dem man am Meer unbeschadet auch in die Dünen fahren konnte, als das noch erlaubt war. Mit Sportwagen ging das nicht, die blieben im Sand stecken.

Eines Tages fuhr Ricki mit seiner Ente an einem späten Nachmittag vom Allgäu Richtung Tegernsee. Schmale Straße, es ging hoch, oben Kehre, um steil nach unten zu führen, 90-Grad-Kurve, wieder hoch mit Kehre am Scheitelpunkt. Hinter ihm ein Porsche 911 Carrera. Über Stunden. „Am Abend im Hotel Post in Tegernsee im Speisesaal kommt ein Herr an meinen Tisch und fragt, ob ich der Entenfahrer sei. Aber ja doch, sage ich ihm“, erinnert sich Ricki heute. – „Was haben Sie da für einen Motor drin? Ich konnte Sie mit meinem Porsche nicht überholen!“


Die Ente – auch eine Ikone

Es wurde trotzdem ein netter Abend, und mit Verabredung durfte der Porschefahrer am nächsten Tag auf der Autobahn Richtung München mit der doppelten Geschwindigkeit und Winkewinke überholen. Endlich war auch für ihn die Welt wieder in Ordnung, aber eben erst ab dem Zeitpunkt des Überholvorgangs, einer Sache, die Enten- und R4-Fahrer nicht interessiert, heute, da sie in der absoluten Minderheit sind und von den Millionen Wägelchen nur noch eine kleine Anzahl erhalten ist, interessiert es sie umso weniger. Das Prötteln und Rattern der Motoren ist Musik in den Ohren der Insassen, und wer auch immer zum Vorbeifahren ansetzt, man lässt es ihn tun in der Gewissheit, diese Hatz nicht nötig zu haben. Das ist kein Trotz, das ist kein Neid, das ist einfach ein großartiges Lebensgefühl. Und hier schließt sich der Kreis vom Allgäu nach Frankreich, von Ricki zu uns, von Ente zu Quatrelle. Denn vermutlich gab es nur wenige Enten, die so oft vor romanischen Kirchen abgestellt wurden. Ob Cluny, diese Ikone der Romanik, Autun, Vézelay oder im Süden Moissac und Pic du Canigou: Wo immer in „toute France“ Ricki sein Schnauferl vor Kirchen und Kathedralen parkte, wurde erst besichtigt und dann Espresso und Perrier getrunken, bevor das nächste Ziel über Frankreichs D-Straßen angesteuert wurde. Genauso sind auch wir unterwegs, die zugegebenermaßen ein weniger geschultes Auge für die Romanik haben, die aber ebenso magisch von Kirchen und Abteien, Burgen und kleinsten Ortschaften angelockt werden. Mancher Kirchturm ist schon kilometerweit im Voraus zu sehen, dann halten wir Kurs, halten darauf zu, und wenn wir angekommen sind, parken wir die TL Savane in seinem Schatten. Wie in Mézilles, wo Bacchus, der Weingott, eine Bar gleich neben der Filiale seines Chefs hat und Käse keinen Namen trägt.

PS: Das mit der Geschwindigkeit ist natürlich so eine Sache. Das Aus für Rickis Ente kam nämlich viele Jahre später, als seine Frau Beate im Sturm geschüttelt und dann noch von zwei Traktoren auf einer Bundesstraße überholt wurde. Danach wollte sie endlich „ein richtiges Auto“. Ricki gibt ihr da heute noch recht. „Die Ente war kein Auto, es war ein Zustand: Lebensgefühl und Liebe“, sagt er, der zu Hause wohl gerade die Blumen gießt und an uns denkt, wie wir an ihn, als wir die nächste „D“ auf uns nehmen. Wir fahren keine Ente, wir haben uns für den Renault 4 entschieden, der ein paar PS mehr unter der Haube hat und ein bisschen schneller rennt, der auch etwas moderner ist und womöglich sicherer und doch wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Wir wissen das und genießen es. Aber bislang hat auch noch kein Traktor zum Überholen angesetzt.

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