Buch lesen: «Im ersten Gang geht’s immer rauf», Seite 4

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Burgruine mit Käse und Astmuseum

Stolze Schlösser, von floraler Finesse umgeben, sind ein lohnenswertes Ziel. Doch wenn eine Burgruine wie Château Lafauche am Wegesrand auftaucht, zertrümmert von Jahrhunderten und geheimnisvoll umwittert, dann ist dies Futter für die Fantasie. Besonders viel ist von der einstmals großen, mehrere Türme umfassenden Forteresse nicht übrig geblieben, aber der Blick in die Haute-Marne ist gewaltig. Außerdem gibt es im angeschlossenen Musée du Bois eine witzige Ausstellung des Künstlers Émile Chaudron (1927 bis 2003), der in manchem Zweiglein etwas Außergewöhnliches entdeckte und auf diese Weise den „Zoo du Bois“ eröffnete. Während man durch die Wunderwelt geistert, holt Monsieur Adenot, der sich um Château Lafauche kümmert, noch zwei Käse, die er aus der Milch jener Schafe zubereitet, die rund um die Ruine friedlich grasen. Fertig ist das Glück. (Kontakt: rogeradenot@gmail.com)

Ein Eckhaus beherbergt ein kleines Museum, auf der anderen Seite hat es eine Terrasse mit atemberaubendem Blick ins Land, und als sei das nicht schon genug der Sehenswürdigkeiten, gibt es noch einen Eisenbrunnen mit der heiligen Maria auf der anderen Seite. Direkt gegenüber jedoch befindet sich das, was uns heraufgelockt hat. Gerade mal fünfzehn Schritte vom Museum entfernt beginnt die Auffahrt zum Château de Lafauche. Eigentlich eine Forteresse, ein echtes Schloss war es wohl nie. Gebaut auf den Hügeln im 11. Jahrhundert, wurde es erst im 14. Jahrhundert fertiggestellt. Die Anlage ist groß und liegt strategisch günstig auf der Hügelkuppe; die Mauern waren seinerzeit eineinhalb Meter dick und verbanden nicht weniger als achtzehn Türme. Das alles wurde auch dringend benötigt, denn eigentlich hatte kein Eigentümer mal so richtig Freizeit. Alle naselang wurde er herausgefordert, belagert, beschossen oder kam selbst auf die Idee, dem benachbarten Königreich Lothringen einen Überraschungsbesuch abzustatten. Dadurch änderten sich auch die Besitzverhältnisse der Anlage ständig: Mal gehörte sie einem Grafen, dann wieder den Herzögen von Amboise, dem Gerichtsvollzieher von Chaumont, auch mal dem König von Lothringen und einigen anderen umtriebigen Großgrundbesitzern. Mittlerweile stehen nur noch einige wenige Türme der Verteidigungslinien, und die sind nach all den Jahren auch ziemlich löchrig, aber es ist dennoch ein beeindruckendes Gelände. Wir schreiten zwischen riesigen Steinhaufen umher, die vormals Teile der Verteidigungsanlage waren. Ganz oben befindet sich ein Brunnenschacht, der genauso aussieht wie jener, der im Film über den Herrn der Ringe durch Hereinwerfen einer alten Rüstung das Herannahen der feindlichen Orks ankündigt. Aber so schauderhaft scheint es hier nicht zu kommen: Es ist niemand da auf diesem einsamen Gelände. Nichts als unverbaute Aussicht, Bäume und Brunnen. Was soll’s, hinein mit dem Stein, es kann uns nichts passieren – der Renault steht nur vierhundert Meter entfernt. Stille. Es dauert lange, bis ein dumpfer Ton vom Schachtboden aufsteigt. Dann wieder Stille. Keine Orks. Mitunter lässt man sich wirklich zu den krudesten Gedanken verleiten.


Monsieur Claude Adenot am Modell von Château Lafauche

Nach der ausgiebigen Besichtigung der Burganlage wird es nun Zeit, das Museum zu erkunden, wo eine Überraschung auf uns wartet. Von wegen öde Heimatstube! Hier gibt es eine Ausstellung von Skulpturen aus Ästen und Zweigen, so famos und amüsant herausgearbeitet, dass man am liebsten alles kaufen würde. Das ist leider nicht möglich, nein, nicht ein einziges Stück steht zum Verkauf, und der Monsieur, der diese Kunstwerke schuf, ist schon vor einigen Jahren gestorben. Sein Lebenswerk bleibt, wo es ist. Es wird den paar versprengten Touristen gezeigt, die hierher finden, um Château de Lafauche zu entdecken. Monsieur Claude Adenot, der uns einlässt, erklärt, dass es zwei Organisatoren in diesem Ort gibt, einerseits die, die sich um die Burg und deren Vermarktung mit mittelalterlichen Festen kümmert. Und dann sind da noch die, die sich dem Museum und der Kunst widmen. Zufälligerweise sei er der Vizepräsident der mittelalterlichen Organisation, sein Bruder Roger ist der Präsident. Wieso er denn dann hier im Museum stehe, fragen wir uns und ihn. Monsieur Adenot zuckt mit den Schultern: „Hier muss man alles machen.“ Dazu gehört offensichtlich auch die Produktion von Käse. Le Vizepräsident verkauft uns nämlich einige frische Schafskäselaibe, produziert aus der Milch jener glücklichen Tiere, die rund um diese Burgruine das Gras kurzhalten. Nach einem letzten Blick von der Terrasse über die Dächer des Dorfes verabschieden wir uns von ihm, der Burg und den Schafen. Obwohl … ist da nicht ein dumpfes Klopfen zu hören, so, als käme es tief unter dem Berg hervor? Haben wir die Orks geweckt? Lachend wehrt Monsieur Adenot ab. Hier gebe es außergewöhnlich tiefe Verliese und Keller unter der Anlage, da wären pochende und klopfende Geräusche normal. „Der Stein“, raunt er, „wissen Sie, der Stein lebt.“


Château de Lafauche, eine Festung aus dem 12. bis 16. Jahrhundert

Wahrscheinlich lachen sie immer noch da oben in Lafauche über die beiden Touristen, die sich eilig in ihren R4 setzten und mit Vollgas zurück ins Tal brausten.

Neben der Spur … ist Johanna allgegenwärtig.

Jeanne d'Arc, Johanna, Nationalheldin der Extraklasse. An vielen Orten in Frankreich sind ihre Spuren zu finden, und keine Reise durch dieses Land, schon mal gar nicht durch die obere Hälfte, ohne dass die Leitfigur der französischen Geschichte, tragischerweise in gleichem Maße eine Leidfigur, nicht auftauchen würde. Domrémy-la-Pucelle, ein französisches Kleinkleckersdorf im Département Vosges mit lothringischem Sparflammencharme, ist der Geburtsort einer unbefleckten Göttin, die ihr Volk während des Hundertjährigen Krieges im 15. Jahrhundert gegen die Engländer und Burgunder führte und dennoch auf dem Scheiterhaufen endete. Eine Tragödie. Man muss sich das vor Augen führen: Da war das mächtige England, das nach dem Tode Karls IV. Ansprüche auf den französischen Thron ersann. Jeanne machte aus einfachen Räubern Soldaten. Zudem gab es in dieser Zeit Gerüchte, dass der Zauberer Merlin vorausgesagt habe, eine Jungfrau würde Frankreich retten. Ein Grund mehr für die anscheinend sehr willensstarke Jeanne, sich gegen ihren Vater durchzusetzen, nicht zu heiraten und für ihre Mission keusch zu bleiben. Ein Proviantzug nach Orléans war ihr erster Auftrag, begleitet von furchtlosen wie furchterregenden Kerlen wie Étienne de Vignolles, dem „Wilden“. Und obwohl es ihrem Heer gelang, die Engländer aus dem Loire-Gebiet zurückzudrängen, nahm die Geschichte doch kein gutes Ende. So weit die kurze Kurzfassung.

Ehrlich gesagt gibt es wenige andere gute Gründe, nach Domrémy-la-Pucelle zu fahren. Das Dorf an der Meuse (Maas) mit kaum mehr als einhundert Einwohnern versprüht nicht besonders viel Flair. Die Heldin kam hier trotzdem zur Welt. Hinter der kleinen Dorfkirche St. Rémy, in der Jeanne d'Arc getauft worden war, erinnert ihr Geburtshaus an ein kurzes Leben mit Ausrufungszeichen, das 1412 hier begonnen hatte. Historiker gehen davon aus, dass die Befreierin im Januar geboren wurde. Nur 19 Jahre ist sie alt geworden. Sie war 13, als sie ihre erste Vision hatte. Eine zweite folgte. Die Heiligen Katharina und Margareta waren ihr erschienen, außerdem Erzengel Michael, behauptete sie; die Engelsstimmen habe sie dort empfangen, wo heute die Basilika Bois-Chênu steht, die zwischen 1891 und 1926 entstand und im Laufe der Jahre ein bedeutender Wallfahrtsort geworden ist – auf einer Anhöhe zwei Kilometer vor den Toren des Dorfes. Sie alle sollen sie davon überzeugt haben, das französische Volk von der Unterjochung der Engländer zu befreien. Was ihr, der Jungfrau von Orléans, im Ansatz gelang, aber nicht half. Durch Verrat wurde sie in Compiègne – wir waren dort vor einigen Tagen ganz in der Nähe – von Johann von Luxemburg festgenommen und den Burgundern ausgeliefert. Die wiederum verkauften sie für 10.000 Franken an die Engländer, eine Summe, die zwar hoch war, aber ist Heldentum nicht eigentlich unbezahlbar? – Es war der Anfang vom Ende der Heiligen Johanna. Sie verbrannte auf dem Scheiterhaufen in Rouen, weil der König sich von ihr abwandte und der Bischof von Beauvais den Engländern näherstand als den Franzosen. Erst rund 24 Jahre später fiel eben diesem Karl ein, wem er eigentlich seinen Thron zu verdanken hatte, und er ließ mit großem Brimborium den Prozess noch einmal aufrollen. Nun wurde Jeanne freigesprochen – kam nur leider etwas zu spät. Arschgeige!

Es ist viele Jahre her, über den Kauf eines Renault 4 wagten wir noch gar nicht nachzudenken, da wir zum ersten Mal in Domrémy-la-Pucelle verweilten, hundemüde von einer stundenlangen Fahrt mit Staus auf Autobahnen bei grausamer Hitze und glücklich, mit dem Hotel Jeanne d’Arc an der Rue Principale überhaupt noch eine Unterkunft gefunden zu haben, bevor die Dämmerung über das Land hereinbrach. Es war schon spät geworden; in der Bar auf der anderen Seite der Straße stapelte der Maître bereits die Stühle ineinander, und die allermeisten Tagestouristen hatten sich längst auf den Weg nach Hause gemacht. Es sah aus, als wenn in wenigen Augenblicken die Bürgersteige hochgeklappt würden und die Straßenlaternen erlöschten. Das war uns gerade recht. Wir ließen uns ermattet auf die weiche, durchgelegene Matratze fallen, das Bettgestell quietschte, und wir blickten wie paralysiert ringsumher. Uns wurde schwindelig von der wild orange-grün-weiß geblümten Tapete, die als Negativdruck an der Zimmerdecke ihre Fortsetzung fand. Die Türen zum Bad und WC waren mit dem gleichen Kleide versehen worden. Eine Kammer des Schreckens, möglicherweise im Rausche des Pastis, oder was Malergesellen hier sonst so in ihrer Mittagspause einsaugen, bekleistert. Billig war’s ja, das Hotel, und sauber auch, aber das Kaleidoskopische des Raumes, diese erdrückende Enge, geboren aus maximalem Muster-Farbe-Spektrum, vernebelte unsere Sinne. Dass die Heilige Johanna in Domrémy-la-Pucelle von Visionen ergriffen worden war, konnten wir auf der Stelle nachvollziehen; wo wir auch hinblickten in diesem Zimmer, es war ein ausgesprochen intensiver Trip kokainischen Ausmaßes. Unsere Pupillen müssen denen der Römer geähnelt haben, wenn sie von Obelix eins auf die Mütze bekommen haben. Die Bar hatte mittlerweile dichtgemacht, ein Restaurant im Hotel gab es nicht, und alles, was wir noch zu essen hatten, waren ein paar puffig gewordene Kekse und Kartoffelchips. Das wild abstruse Wand- und Deckendessin hatte seine Wirkung nicht verfehlt, und unruhige Träume folgten in der Nacht. Aber seien wir ehrlich: Bei der Heiligen Johanna war die Sache weitaus ernster; es werden wohl kaum Tapeten gewesen sein, die ihre Erscheinungen hervorgerufen hatten, denn Tapeten gab es damals nicht. Hatte auch Vorteile …

Jedenfalls haben wir unser Auto, diesmal freilich den R4, heute erneut auf dem Parkplatz unterhalb der heroisch wirkenden Johanna-Statue geparkt; das Hotel befindet sich noch an derselben Stelle (wo sollte es auch hin …?), aber wir trauen uns nicht, ein zweites Mal hier Quartier zu beziehen. Die Bar hat sich verändert, die ist moderner geworden. Bürgersteige werden schon lange nicht mehr hochgeklappt, denn aus dem Geburtshaus der Lichtgestalt ist ein historisches Monument geworden, das für Besichtigungen geöffnet ist. Ein modernes Informationszentrum in unmittelbarer Nähe zeigt, wie zu Zeiten Jeanne d’Arcs sich das Bauernleben darstellte – sie wuchs in einer recht wohlhabenden Bauernfamilie auf – und welche Heldentaten die junge Frau zuwege brachte, damit Kalle Kronprinz seinen adligen Hintern wieder auf den Thron hieven konnte. So heilig kann keine Figur der Geschichte sein, als dass die Tourismusbranche auf diese Chance verzichten würde, weil sie nämlich auch Visionen hat, ziemlich weltliche, aber das ist nachvollziehbar. Und dennoch macht die ganze Anlage nicht den Eindruck, dem schnöden Mammon vollkommen ausgeliefert zu sein; die Verhältnismäßigkeit ist noch vorhanden, und die kleine Église Saint-Rémy mit dem Taufbecken von einst, dem Spiel von Licht und Schatten und den bunten Kirchenfenstern ist und bleibt in ihrer Schlichtheit ergreifender als der Glanz der Basilika vor dem eigentlichen Ort Domrémy.


Besuch bei Jeanne d‘Arc in Domrémy

Das Licht in der Kirche, die berührende, leise Atmosphäre in diesem sehr kleinen Gotteshaus ist magisch. Wir zünden eine Kerze an und verlassen schweigend Domrémy-la-Pucelle, wohlwissend, dass die Heilige Johanna uns auf dieser Reise noch öfter begegnen wird. In Orléans, wo das Maison de Jeanne d’Arc daran erinnert, dass sie einst die belagerte Stadt mit einem geglückten Proviantzug befreite. In Sully-sur-Loire, wo sie Lager bezogen haben soll. In Chinon, wo sie Charles VII. davon überzeugen konnte, ihr ein Heer anzuvertrauen, um gegen die Engländer zu Felde zu ziehen, und wo das Fensterbild im dreistöckigen Uhrturm der Burgruine ihr, der Retterin, gewidmet ist. Poitiers, Paris, Reims – die Wege, die die junge Heldin zurücklegen musste, sind Hunderte Kilometer weit. Sie hat sich ja nicht ins Auto gesetzt, wie wir das hier in aller Bescheidenheit mit 34 Pferdestärken tun, am Müsliriegel geknuspert und irgendwo bei Tours noch mal einen Kaffee getrunken, um dann entspannt unterhalb der Forteresse Royale de Chinon einzuparken, nein, sie ist geritten auf einem einzigen PS ohne Sattel, und der Zosse mit der Heldin auf dem Rücken musste, ob er wollte oder nicht, durch feindselig besetztes Gebiet galoppieren. Von dieser Reise, von den Strapazen, den Fluchten und Hoffnungen, erzählt das Fensterbild im Uhrturm der Forteresse de Chinon. Sie tat, was sie ihrer Meinung nach tun musste, um Frankreich zu befreien; selbst ein Pfeil und ein Sturz vom Pferd konnte sie nicht davon abhalten.

Es reicht nicht, all diese Ziele mit dem Finger auf der Landkarte anzusteuern; wir werden uns umtun, sie mit der Quatrelle zu erobern. Nicht ohne Friedrich Schillers „Die Jungfrau von Orléans“ im Reisegepäck, versteht sich. Ist quasi Pflichtlektüre.

„Ich kann nicht bleiben – Geister jagen mich,

Wie Donner schallen mir der Orgel Töne,

Des Doms Gewölbe stürzen auf mich ein,

Des freien Himmels Weite muß ich suchen!“

Ja, Schiller, werter Meister des geschliffenen Wortes, wir sind ja längst schon unterwegs …

Ein Tempel der kleinen Freuden. Die leise Poesie der Landstraße. Wir trinken noch was.

Es gibt da diese Bar-Tabac, eine wie viele. Hier heißt sie gerade „Chez Laurette“, und es steht zu vermuten, dass Laurette die Madame ist, der der Laden gehört. Oder er gehörte schon ihrer Großmutter, das ist natürlich auch möglich, weil diese sehr französische Gasthausmischung aus Toto/Lotto, Pferderennwetten, Zigarettenverkauf, Zeitungen, Zeitschriften, Chipstüten, Lollis für Kinder und einer entspannten Tresenkultur zwischen achtel und halbem Liter im Laufe vieler Jahre zu einer Instanz im ganzen Land geworden ist. Diese Form des Gasthauses ist ein Schmelztiegel aller Gesellschaftsschichten; gesegnet sei die Bar-Tabac. Überall gibt es welche in Frankreich. Schöne, schicke, angeranzte, hübsch-hässliche, verrauchte, verwitterte, verwunschene, saubere und welche mit klebrigen Tischen; es sind so unendlich menschliche Kneipen mit rissigen, lächelnden Fassaden, auf deren Terrassen die Katzen des Dorfes einen Napf mit Wasser stehen haben und wo die Sonnenschirme vom brennenden Gestirn in jedem nächsten Sommer ein bisschen mehr an Farbe verlieren. Es ist nicht unmöglich, dass die Menschen in der Bar-Tabac mehr ertragreiche Gedanken zur Lage der Nation zusammenspinnen, und sei es in weinbeseelten Momenten, als es die Oberen im Élysée-Palast jemals zu tun in der Lage sind, und seien sie dabei noch so nüchtern. Die Bar-Tabac ist wichtiger als Eiffelturm, Louvre und Triumphbogen zusammen, weil sie kein statisches und vor allem touristisch eingeplantes Zwischenziel ist, das man aus Reiseführern, Büchern und Fernsehen ohnehin zur Genüge kennt, sondern ein sehr lebendiger Teil der Seele dieses Landes. Nirgendwo ist sie deutlicher zu spüren.


Klassisch unterwegs: Fahren nach Landkarte

In manchen Gegenden mit teilverwaisten Dörfern, in denen der Durchreisende zu fortgeschrittener Nachmittagsstunde nach einem über und über mit Erlebnissen gespickten Tagesritt kaum noch Hoffnung verspürt, irgendwo ein prickelndes Glas Bier, einen Pétillant oder Café noir serviert zu bekommen, weil er vermutet, dass der Welten Ende womöglich schon nach der nächsten Kurve folgt – die grauen Fassaden mit den müde blickenden Fensterlaibungen lassen jedenfalls darauf schließen –, eröffnet sich ihm das rettende Lebenszeichen, wie aus dem Nichts auftauchend, in Form einer schmalen, roten Raute an einem Häusereck. Darauf steht in weißen, untereinander angeordneten Lettern „Tabac“. Fünf Buchstaben für ein Halleluja! Diese Raute, schmaler als die von Renault, aber bestimmt nicht weniger verheißungsvoll, ist wie ein Licht am Ende des Tunnels. Ein zweites Schild, zumeist in Grün gehalten, auf dem „Bar“ steht und bisweilen noch mit „Presse“ ergänzt, komplettiert die Kathedrale der Glücksritter. Angekommen. Mitten auf der Durchreise. Haben wir eben gerade erspäht und sofort angehalten.

„Madame, deux kir cassis, s’il vous plaît.“

Zwei Muntermacher für Durst und Seele. Hier puckert der Puls der Franzosen, da muss man Platz nehmen und einen heben, wenigstens einen, einer geht, auch für den Fahrer. Eine Quatrelle, dort drüben auf der anderen Straßenseite im Halbschatten geparkt, fährt nicht von allein, und vorbei sind nun einmal die „Der Gendarm von Saint-Tropez“-Zeiten, in denen die Straßen noch leer waren, kein SUV-Kühlergrill grimmig den Blick durch die Heckscheibe komplett ausfüllte und man sich fahrtauglich fühlte, solange man den Hebel für den Choke ohne fremde Hilfe gefunden hatte. Ja, so war das. Na, jedenfalls sieht sie hübsch aus, „La Quatrelle“ dort drüben auf der anderen Straßenseite, in ihrer Robe aus sandfarbenem Lackfrack und schmalem, braunem Zierstreifen. Fast schon ein bisschen edel. Das gilt gemeinhin nicht, im Grunde nie fürs Mobiliar einer Bar-Tabac. Draußen stehen Stühle aus Kunststoff an Tischen aus Kunststoff mit Aschenbechern aus Kunststoff. Alles ist Kunststoff hier, könnte man vermuten, aber zumindest das Rohrgestänge der Sinalco-Sonnenschirme ist aus Stahl. Aus dünnem, mit Rost an den Schrauben und Scharnieren, man kann nicht alles haben. Es ist trotzdem ein schöner Platz. Stockrosen quengeln sich aus der Fuge zwischen Hausmauer und Trottoir, die Geranien in den Kästen auf den Fensterbänken blühen in etwa so rosé, wie der Kir seine Robe zur Schau stellt, und von drinnen quellen muntere Gespräche in die Nachmittagsruhe der Ortschaft Sauvigny-le-Bois. Die liegt noch gerade so in der Region Bourgogne-Franche-Comté, nicht mehr besonders weit entfernt vom Loire-Gebiet, schon ziemlich mitten drin in Frankreich. Vor allem aber liegt sie an der Rue de la Liberté, an der Straße zur Freiheit. Welch ein Pathos. Wunschlos glücklich ist gerade untertrieben.

80 Kilometer pro Stunde – es lebe das Tempolimit

Dass in Frankreich die Nutzung von Autobahnen Geld kostet – geschenkt! In einem Renault 4 machen sie ohnehin wenig Freude. Wenn’s irgendwie möglich ist, sollte man auch Nationalstraßen meiden, auf denen viele Lkw die Autobahnen umfahren. Die Routes départementales – die D-Straßen – sind die beste Wahl. Wie es heißt, sind sie vor allem „für den interkommunalen Durchgangsverkehr“ gebaut worden. Guadeloupe, Martinique, Französisch-Guayana, Réunion und Mayotte mal nicht mitgerechnet, besteht Frankreich aus 96 Départements. Ein Netz aus über 375.000 Kilometer D-Straßen verbindet sie. Außerorts ist das Tempo auf achtzig Kilometer pro Stunde beschränkt! Für 34-PS-Flitzer wie den Renault 4 wie geschaffen. Vive la Tempolimit!

Da wären wir also bei „Chez Laurette“. Madame bringt noch zwei Café noir und füllt das Kump für Schnuffi mit frischem Schlabberwasser auf. Die Terrasse ihrer Gaststätte liegt kaum vier Lutscherlängen vom Bordstein entfernt. Wer nicht aufpasst und seine nach mehreren Stunden Fahrt steif gewordenen Gliedmaßen ordentlich recken will, dem fährt der nächste Traktor über die Füße. Das ist keine unrealistische Quantentheorie. In Gizeux zum Beispiel, einem Dorf samt Schloss im Département Indre-et-Loire, ist die Terrasse einer Bar nicht mehr als der vorhandene Bürgersteig. Keine zwei Meter breit. Während der Schwerlastverkehr sich langsam seinen Weg durch die engen Kurven der Ortsdurchfahrt bahnt, donnern Landwirte mit Karacho und schwerem Gerät so vehement vorbei, dass der Pétillant auf dem Tisch das letzte Bläschen gen Himmel zischen lässt, noch bevor der erste Schluck die Kehle benetzt hat. Da muss man wirklich aufpassen. Ausstrecken geht nicht. Die Füße würden über die Gosse hinaus auf der Straße baumeln. Dass sich viele Franzosen daran nicht stören, nicht am Lärm, nicht am Feinstaub, ist bemerkenswert. Aber wir sind hier jetzt gerade nicht in Gizeux, vielleicht wird uns der Weg dorthin führen, vielleicht aber auch nicht, wir sind jetzt erst einmal hier, bei „Chez Laurette“ in Sauvigny-le-Bois, wo der Sicherheitsabstand zur Rue de la Liberté, der D957, geradezu überwältigend groß ist. Etwa achtzig Zentimeter.

Jean-Marc hatte seine Zweifel. „Ihr wollt wirklich mit der Quatrelle zu uns in die Bretagne kommen? Glaube ich erst, wenn Ihr da seid! Wenn Ihr das macht, kaufe ich einen Champagner, dann lassen wir die Korken knallen.“

„Abgemacht. Fang an zu sparen, Jean-Marc.“

Sein Blick im vergangenen Jahr war eine Mischung aus Hoffnung, Heiterkeit und Entsetzen. Ein Quäntchen mehr als tausend Kubikzentimeter mit 34 PS sind nicht gerade zeitgemäß, selbst für einen, der in den Sechzigerjahren in genau einem solchen Fahrzeug seine Führerscheinprüfung bestanden hatte, damals, als die Rolling Stones „Get off of my cloud“ und „Paint it black“ spielten. Dass man damit heute noch losfährt, ist für Jean-Marc, dem niemals schlecht gelaunten Bretonen aus Larmor-Plage bei Lorient, eine besondere Sache. Für andere ist es vor allem ein Sicherheitsrisiko. Ein Auto ohne Airbag – wie kann man nur damit losfahren? Wie wäre es mit Kupplung kommen lassen, schalten und Gas geben?

Das funktioniert vorzüglich, natürlich nur, wenn man bereit ist, die nicht vorhandene Servolenkung und die berüchtigte Revolverschaltung als zwischensportliche Muskelaufbauübung in den automobilen Alltag zu integrieren. Wer genug Renault 4 fährt, muss jedenfalls nicht in die Muckibude. Den Rhombus, das Signet der Marke, forsch in den Wind gestellt, die Außenspiegel vibrieren und innen Rock ’n’ Roll. Für Laternenparker ist das ein Ritt auf der Rasierklinge; mit einem Renault 4 auf Reisen zu gehen, also nicht mal eben um die Ecke zum Supermarkt zu fahren, sondern richtig Strecke zu machen, mehrere Tausend Kilometer in einigen bemerkenswerten Wochen, verlangt einen ausgeprägten Sinn fürs Wesentliche und die Bereitschaft, Verzicht zu üben. En passant sprechen wir hier nicht von Klimaanlage, Schallisolierung, Regensensor, LED-Scheinwerfern, Einparkhilfe, um Himmels willen! Diese TL Savane, die vis-à-vis „Chez Laurette“ nach über eintausend Kilometern einen mehr als gelassenen Eindruck macht, gerade so, als wäre sie endlich richtig auf Touren gekommen, ist die schönste Verzichtserklärung auf Luxus und Pomp, ohne aber an Grandezza einzubüßen. Ach, wie sie sich anschickt, die Kilometer in sich aufzusaugen, gierig nach jedem Meter Asphalt mit ihren schmalen Reifen zu greifen und nach Jahren des Stillstands in einer gottlob trockenen Scheune endlich wieder Leben in den Kolben zu spüren. Unter der Haube eine Art Nähmaschine mit der Kraft von 34 Zossen. Immerhin: mehr als die Ente, die lahme.

In solchen Stunden und Momenten, wo das graue Band wie ein roter Teppich sich darbietet, ausgerollt, um „La Quatrelle“ zu huldigen, neben dem Citroën 2CV die zweite französische Sonnenkönigin der Straße, fügt sich die Zeit in eine andere Dimension. Sie geht nicht verloren, weil das Auto langsam fährt, sondern sie vervielfacht sich, denn die Seele hat einen Platz zum Mitreisen gebucht. Unser Innerstes hält der Geschwindigkeit stand; die Eindrücke der Landschaften, der Städte und Dörfer und Flüsschen und Himmel sickern flüsternd durch unser Gemüt und nehmen Platz im Süden unseres Herzens. Die Poesie dieses sanften Abenteuers ist durch nichts und niemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sollen sie überholen, die großen, schönen, schicken Autos, die mächtigen Boliden, die nach zwei Jahren alle nur noch die Hälfte wert sind und von keinem ihrer Fahrer unterwegs repariert werden können. Hier liegen die Dinge anders: Ein Schraubenschlüsselsatz, ein paar Lampen und Sicherungen, dazu die Strumpfhose, falls der Keilriemen schlappmacht. Aber hurra, es sieht nicht danach aus. Der R4, dieser kleine Bursche mit dem sanftmütigen Blick seiner runden Scheinwerfer, macht seine Sache prima: Frankreich breitet sich willig vor ihm aus. Hier ist sein Revier, hier auf den Routes départementales, den D-Straßen, die wie ein Netz durch das Land gesponnen worden sind. Von Alleen gesäumt, von Feldern, auf denen Traktoren Pflüge ziehen und Kartoffeln roden, von Ackerrandstreifen und Brachland gesegnet, auf denen Wildblumen wachsen dürfen, und von einem guten Geist versehen, der bis vor die geöffnete Pforte einer Bar-Tabac führt, ein Gasthaus wie „Chez Laurette“, wo die Rue de la Liberté noch ein bisschen warten muss. „Madame, encore deux kir cassis, s’il vous plaît.”

Wenn man schon mal hier ist …