Buch lesen: «Im ersten Gang geht’s immer rauf», Seite 2

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Allons-y, Quatrelle, allons-y!

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Wir brechen auf. Der Motor läuft. Die Pizza schmeckt.

Es ist so weit, wir tun es tatsächlich! Jeder, der davon erfährt, hat auch gleich eine Meinung parat. Die lautet in den meisten Fällen: „Ihr seid ja vollkommen wahnsinnig.“ Oder: „Da kommt ihr ja niemals lebend wieder nach Hause.“ Oder: „Ach, ein wenig Luxus muss im Urlaub schon sein, und ich brauche eine Klimaanlage.“ – Alles Angsthasen, die das große Ganze nicht sehen, so viel steht fest. Ab und zu nagt ein kleiner Zweifel in der Vorbereitungsphase auch an uns, aber das hat doch jeder große Abenteurer! Der Termin rückt näher, es ist Frühling, wir besuchen unseren strengen Autoschrauber. Nach Erläuterung des Plans – „also erst mal Richtung Frankreich, dann einen großen Bogen um Paris, sozusagen durch die Picardie, Normandie, Bretagne, das Loire-Tal, Burgund, Champagne und Ardennen, über Belgien wieder retour oder andersherum“ – schaut der Mann erschöpft drein. Ohne langes Federlesen wird eine Komplettinspektion durchgeführt. Als Weggeschenk erhalten wir eine kleine Glühbirnenbox zur Selbsthilfe beim Leuchtmitteltausch. Super, vor allem, weil keiner von uns beiden jemals irgendeine Lampe an irgendeinem Auto gewechselt hat. Sehen wir da etwa ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln des grimmigen Meisters? Zu diesem Zeitpunkt wissen wir jedenfalls noch nicht, dass wir ihm noch dankbar sein werden für sein Präsent.

Der nächste Weg führt uns zu einem Fachgeschäft für Koffer, Taschen und Rucksäcke. Wir parken direkt auf dem Hof vor dem Hintereingang und treiben den Inhaber in den Wahnsinn, weil die Taschen zentimetergenau in den Gepäckraum passen und auch farblich gut abgestimmt sein sollen. „Nein, die da ist es nicht … nein, die auch nicht. Holen Sie doch bitte noch mal die von vorhin … ja, nein, vielleicht.“ – Der Mann ist verzweifelt, rennt rein ins Geschäft, kommt raus. Welcher R4-Liebhaber kennt nicht die Bilder des Sondermodells „Parisienne“ mit einer auf den Lack abgestimmten Kofferkollektion? Geradezu dekadent, aber es verlieh dem Bauern- und Händlerauto schon in den Sechzigerjahren einen ungeheuren Chic. Heute leider unbezahlbar. Wir bleiben also bei unseren Taschen. Nach einigem Hin und Her – der Händler ist inzwischen außer Atem – haben wir welche gefunden, die wirklich mehr als passabel mit dem Rest des Fahrzeugs harmonieren und alles aufnehmen werden, was wir für die nächsten Wochen benötigen. Und wir brauchen so einiges, obwohl wir uns ja vorher einen gewissen Minimalismus vorgegeben hatten. Nützt aber nichts, wenn unterwegs keine Wäsche gewaschen werden kann, und wir wollen es tatsächlich nicht so weit treiben wie unser alter Freund Ricki, der stolz verkündete, in den Siebzigern mit seiner Ente und sechs Unterhosen sechs Wochen durch Frankreich gefahren zu sein. Drei Tage normal getragen, vier Tage auf links gedreht, dann der Buxenwechsel! Um diesem Schlüpferengpass entgegenzuwirken, nutzen wir jeden noch so kleinen Stauraum, im Heck, unter der Rücksitzbank, im Fußraum davor, unter den Vordersitzen. Überall ist Platz. Die Reise ist gerettet.

Der Morgen graut, die letzte Nacht unter dem heimischen Federbett war herrlich. Draußen herrschen erfrischende sechs Grad Celsius, wir schreiben den ersten Mai. Sollen wir noch ein paar wärmere Jacken mitnehmen oder nicht? Passt noch ein Federkissen auf die Rückbank und brauchen wir vielleicht noch einen Heizlüfter? Alles Quatsch, denn in wenigen Tagen wird es wärmer sein. Einen Heizlüfter haben wir trotzdem eingepackt, ein kleines Gerät, das in die Steckdose kommt und einen Raum um zwei bis drei Grad Celsius erwärmen kann (wenn es ein kleiner Raum ist, ein sehr kleiner Raum …). Kommt jedenfalls auch unter die Rückbank. Und dann fahren wir tatsächlich los.

Nach den ersten fünfzig Kilometern überkommt uns der Reisehunger und wir plündern die Vorräte. Wir brauchen Zucker, vor der Frontscheibe tanzen die Schneeflocken, und wir wollen spätestens morgen die Ardennen erobern. Vielleicht war das mit den Sommerreifen doch keine so gute Idee, aber wer denkt im Mai schon an Winter? Die Wetterkapriolen wechseln sich ab, bald ist es trocken und sonnig, wir kommen voran, jetzt, da wir die Grenze zum Land der Trikolore aus Luxemburg und Belgien kommend überqueren werden und der Motor des Renault 4 so schnurrt wie „Pour un flirt“ von Michel Delpech. Je näher er seinem Mutterland entgegenkommt, desto drehfreudiger klingt sein singendes Aggregat. Bei Longwy, wo Belgien nur drei Trikolore-Fahnen schmal ist, muss die Maschine ziemlich glücklich sein. Ja, gleich, gleich fängt Frankreich an, du guter, alter, schöner Renault. Es gibt attraktivere Übergänge ins Land der blauweißroten Fahne, aber vor allem gibt es viele. Für einen muss man sich entscheiden. Der hier soll’s sein, und wir sind recht stolz, ihn zügig erreicht zu haben. Vor dem Eintritt ins „Gelobte Land“ stand zuvor die Eifel, respektive ihre Hügelketten, und die haben es für einen 34-PS-Boliden in sich. Runter geht’s mit Verve und ungeahnten Geschwindigkeiten, die Talsohle muss mit 108 Kilometer pro Stunde durchfahren werden, aber ab der Mitte der dann folgenden Steigung ist’s aus. Wir schleichen mit 56 Stundenkilometern den Rest nach oben und spüren die Ungeduld der Fahrer hinter uns. Oben angekommen, beginnt das Spiel von Neuem, aber es macht Spaß, die Strecke zu fahren.

Und jetzt sind wir hier. Und glücklich. Und wären glücklicher, wenn die Kühlmittelkontrollleuchte nicht flackern würde. Warum tut sie das? Warum gibt es überhaupt eine? Es gibt doch sonst nicht viel am Armaturenträger. Die paar Lampen neben dem Tachometer sind ein besseres Mäusekino, ein paar wenige Schalter und Hebel links und rechts vom großen Lenkrad, von denen der für den Choke wohl ohne Zweifel der wichtigste ist, weil der Motor sonst nicht starten würde, jedenfalls nicht an Tagen unter 24 Grad Celsius. Aber es lebt, das Wägelchen, schüttelt sich zwei, drei Minuten aus, zitternd, bebend, und wenn der Choke erst wieder geschlossen wird, zwei, drei Minuten, nachdem der Schlüssel im Lenkradschloss eine Vierteldrehung machen durfte, verändert sich der Charakter des Motors von rüpelhaft auf gutmütig. Als ob er eine Seele hätte.


Zersägte Dyane bei Vacherauville

Vielleicht hat er ja eine. An einer Kreuzung bei Vacherauville jedenfalls, wo eine Citroën Dyane, in zwei Hälften geteilt, zur Schau gestellt wird, vermag ihm der Schreck in die Leitungen zu fahren. Nicht hinsehen, alter Junge. Oder besser: altes Mädchen. Es ist ja „La Quatrelle“, nicht „Le“. Die Franzosen sagen auch „Die Auto“ (La voiture), weil alles, was schön ist, weiblich zu sein hat. Egal, dir wird das Schicksal der armen Dyane nicht widerfahren, du darfst fahren und fahren und …

Es ist, als würde sie fliegen, die kleine, sandfarbene Quatrelle, als würde sie ihre Flügel ausbreiten, um die Welt zu umarmen. Vier Zylinder voll Adrenalin, Gewitter, die durch die Straßen ziehen. Sie führen von einem Dorf zum anderen, die Namen zum Verlieben tragen: Arrancy-sur-Crusne, Bras-sur-Meuse, Cons-la-Grandville. Manchmal werden diese Straßen zu Wegen, verengen sich, verlieren ihre Mittelstreifen, ihre Leitplanken und Banketten, haben Schlaglöcher und Asphalt-Flicken, doch sie gewinnen an Kontur und Leben und zeichnen deutlichere Bilder dieses Landes mit jeder nächsten Kurve. Von fröhlicher Ruhe umrankt, schon einsam, aber nicht verlassen, taucht dann und wann ein kleines Dorf auf, bisweilen sind es nur ein paar lausige Häuschen, wie aus dem Nichts aus lieblicher Landschaft sich erhebend. Viele Wege führen nicht dorthin, manchmal ist es ein einziger nur, und der Grenzstein am Fahrbahngraben trägt ein „D“. Es steht für Route départementale. Die französische Département-Straße ist wie geschaffen für Entdeckungen am Wegesrand. Nationalstraßen und Autobahnen sind gebaut worden, um schnellstmöglich ans Ziel zu gelangen. Die D-Straßen aber sind selbst das Ziel, sie sind die Lebensadern Frankreichs, die Venen und Arterien des flächenmäßig größten Staates in Westeuropa. Allons-y, Quatrelle! Hier ist dein Revier!


Pause vor Château de Cons-la-Grandville

Rapsfelder blühen, weiße Kühe grasen auf frischem Grün, manchmal auch schwarzbunte, und wo die Äcker kahl sind, schimmert die Erde rötlich hervor, es ist, als ob noch heute, über hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, das Blut Abertausender Soldaten als Mahnung an die Welt zum Himmel hinaufleuchtet. Es dauert nicht lange, bis die D66 das erste Gräberfeld dieses furchtbaren Wahnsinns preisgibt. Über 7000 deutsche Soldaten liegen hier begraben, nur hier, auf diesem einen schlimmen Gottesacker. Graue Kreuze, Leid für Leid. Hier war die Hölle auf Erden. Wer mag Jakob Mose gewesen sein? Ein Name von vielen auf diesen stummen Kreuzen, hinter denen tragische Schicksale stecken. Verdun und das mächtige Beinhaus von Douaumont, in denen die Überreste von 130.000 Soldaten zur ewigen Ruhe gebettet liegen, sind nicht weit entfernt; das hier ist nur die Spitze des Eisbergs. „La guerre c'est de la merde“, hatte Jean-Marc zu uns schon vor Jahren gesagt. Jean-Marc, der niemals schlecht gelaunte Bretone mit dem großen Herzen, längst ein Freund geworden, den wir mit dem R4 erreichen wollen. Krieg ist Scheiße. Wie recht er hat, wenn man hier steht, mit einem Stein auf der Brust, und eine Träne tropft hinab auf das Grab von Jakob Mose.

Stumme Zeugen des Krieges

Die Stadt Verdun wird für immer und ewig mit der grauenhaften Schlacht im Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht. In diesem fast ein Jahr dauernden Gemetzel (1917 bis 1918) ließen hier etwa eine Million Soldaten ihr Leben. Das unvorstellbare Blutbad zwischen Deutschen und Franzosen hat Narben hinterlassen, die heute in der Region durch zahlreiche Kriegsgräberfelder dokumentiert werden. In den Hügeln nördlich von Verdun wurden neun Dörfer komplett dem Erdboden gleichgemacht – nichts ist von ihnen geblieben, nur Granatentrichter und Steinhaufen. Im Beinhaus von Douaumont („Ossuaire de Douaumont“) wurden etwa 130.000 nicht identifizierte französische und deutsche Soldaten zur letzten Ruhe gebettet. Tausende weiße Kreuze stehen auf den ehemaligen Schlachtfeldern vor dem Beinhaus als stumme Zeugen einer furchtbaren Zeit. (Info: verdun-douaumont.com).

Für die Männer und Frauen aus neun Dörfern, die in der „Roten Zone“ der Schlacht von Verdun lagen, war der Erste Weltkrieg, um im Jargon zu bleiben, besonders große „merde“. Von Douaumont, Bezonvaux und den anderen sind nur Granatentrichter geblieben; sie wurden vollkommen ausradiert und nie wieder aufgebaut. Geisterdörfer, die uns erinnern lassen an das Leid, die Widerwärtigkeit des Hasses. Der Hund des Krieges hört niemals auf zu bellen. Auch das gehört zum Reisen, denn wer den Himmel erfahren will, darf die Augen vor der Hölle nicht verschließen.


Gräberfeld an der D66

Gut, dass der Renault 4 aus nicht ganz so alter Zeit unser Begleiter ist. Seine Silhouette, vom Gräberfeld durch die Ansammlung der Kreuze wie ein stummes Lächeln des Trostes herüberleuchtend, bringt die Freude zurück. Eine Freude auf vier schmalen Reifen. Es war nicht schwierig, sich für ihn entschieden zu haben. Egal, wie schön die anderen R4-Farben auch leuchten mögen, die beigefarbene Savane ist für die nächsten Wochen so etwas wie ein rollendes Zuhause, und wir fühlen uns sicher und geborgen, als wir nach der Dorfbesichtigung wieder einsteigen. Und es fühlt sich unglaublich frei und abenteuerlich an, dass wir hier auf einem Waldparkplatz stehen und eine große Reise vor uns liegt. Was wäre, wenn nun der Motor nicht mehr anspränge, das Kupplungsseil risse oder die Lichtmaschine ausfiele? Solche Gedanken, die uns bei ersten Ausfahrten zu Hause noch beschäftigten, verschwinden nach und nach. In welcher Einöde wir uns auch befinden, wir sind auf den eigenen vier Reifen hingefahren. So wie jetzt auch von diesem Wald, wir möchten etwas anderes sehen, die Botschaft des alten Krieges ist unverändert aktuell und ist angekommen. Wir schrauben uns über steile Straßen durch die Ardennen. Die, die hinter uns fahren, wirken nicht immer so zufrieden wie wir, aber das stört uns nicht, irgendwann können alle überholen. Die Heizung arbeitet erfreulich zuverlässig, draußen vor der Scheibe mischt sich der Regen mit Schneeflocken, und das im Mai! Die Ardennen bilden eine Hügelkette mit durchgehenden, dichten Wäldern, die auf den Kämmen plötzlich licht werden und dann einen großartigen Ausblick über die grandiose Landschaft bieten. Bei der nächsten Abfahrt ins Tal spüren wir eine Tankstelle auf, auch das wird uns in den nächsten Wochen begleiten. Da, wo es passt, wird direkt vollgetankt, kein Risiko eingehen, dass wir in einer menschenleeren Gegend plötzlich wegen Spritmangel liegenbleiben. Wir würden nun gerne auch etwas einwerfen und suchen nach dem vertrauten Bar-Tabac-Schild.

… halt mal: Da ist ein Hotel! Die Rapsfelder, die wir gesehen haben, die Kirchtürme, die aus weiter Ferne zu allen Himmeln aufstiegen, die Kühe und Wiesen und Flüsse und Brücken und Schlachtfelder vermischen sich in der Hoffnung auf ein Abendbrot, sei es auch nur ein bescheidenes und kein Vier-Gänge-Menü. Alles, was wir heute gesehen haben, wollen wir Revue passieren lassen bei einem schönen Abendessen. Im mondänen Speisesaal eines Restaurants, in dem eilfertige Kellner dampfende Teller heranschleppen und zum Entrée Kristallgläser mit prickelnder Füllung servieren. Wäre schön gewesen, aber es soll heute anders kommen. Denn das Hôtel Le Relais in Vacherauville, das wir in der Nähe von Verdun notgedrungen nehmen müssen, weil alle anderen in der Umgebung ausgebucht sind, hat an diesem Montagabend wie an jedem Montagabend sein Restaurant geschlossen. Kein „diner“, leider. Obwohl wir also nach Hunderten Kilometern keine große Lust verspüren, erneut den Choke zu ziehen, schwingen wir uns dennoch in den Wagen und fahren ins nächstgelegene Städtchen. Belleville heißt es, ist auch belle und liegt an den Ufern der Meuse, die wir als Maas kennen. Weil wir Hunger haben, entern wir die erste Gaststätte, die wir erblicken. Wir gehen hinein, bestellen nach kurzer Zeit ein Hauptgericht plus Bier, um darauf anzustoßen, wie gelungen doch dieser erste Reisetag mit der Quatrelle gewesen ist. Der Kellner ist nicht ganz so beflissen, das Porzellan nicht vorhanden, aber das Essen dampft, das Bier erfrischt, und wir sind zufrieden, obwohl hier öfter mal das Telefon klingelt und ein Mopedfahrer hereinschneit, um etwas abzuholen und auszuliefern.

So ist das eben in einem Pizza-Eck mit Bringdienst …

Am nächsten Morgen ist der italienische Einstieg in unser französisches Reiseabenteuer verdaut. Wir haben wie die Murmeltiere geschlafen und von der Meuse geträumt, an deren Ufern wir gestern Abend noch flanierten, und wir sind froh, uns im Hôtel Le Relais für ein Zimmer mit „chambre lit 160“ anstatt „140“ entschieden zu haben. Die Zahl steht für Zentimeter. 140 davon sind im Doppelbett zu wenig für eine gute Nacht. Es gibt viele Hotels im Land unserer Nachbarn, die beide Varianten anbieten und dabei sogar noch so tun, als ob die 160er-Standard-Matratze absoluter Luxus wäre. Nach zu vielen Nächten auf weichen Schmalhansunterlagen fallen wir darauf nicht mehr rein. Wir haben deshalb gut geschlummert, werden von Regentropfen, die an das Fenster klopfen, sanft geweckt. Frühstück. Klamotten packen. Schnell noch das Öl geprüft, den Reifendruck. Abfahrt.


Abendrundfahrt in Belleville-sur-Meuse

Die Melodie der vier Pötte ist ein stetes Lied in Dur, obwohl wir auf einer Straße fahren, die nach Moll klingt. Südwärts führt die Reise. Am Rand stehen weiße Kilometersteine mit der Aufschrift „Voie Sacrée“. Diese Route, rund 56 Kilometer lang, führt von Verdun nach Bar-le-Duc. Es handelt sich um die ehemalige Versorgungsstrecke im Ersten Weltkrieg, über die Truppen, Material und Nachschub an die Front transportiert wurden, dorthin, wo wir gestern die Tausenden Kreuze sahen. Heute erinnern die auffälligen, mit Soldatenhelm gekennzeichneten Kilometersteine an ihre Geschichte, und die Nummer hinterm D: 1916 – das Jahr der Schlacht von Verdun. Vor dem Eisentor des Château de Thillombois – das prickelnde Herz der Champagne rückt näher – ist ein kurzer Stopp vonnöten, weil im zwölflampigen Mäusekino neben dem Tachometer die Kühlmittelkontrollleuchte flackert. Mal wieder. Rechts ran, Motorhaube auf, nichts dampft. Der „Dieter-Korp-Ratgeber“ wird gezückt; mal sehen, was er zu diesem Phänomen schreibt: Der Flüssigkeitspegel ist perfekt zwischen „min“ und „max“ eingependelt. Kein Grund zur Sorge, da ist wohl höchstens ein kleiner Wackelkontakt in der Elektrik. In diesem Wagen gibt’s wenigstens noch eine, woanders nur noch Elektronik. Wir schauen auf den Motor, rütteln an den Schläuchen, schließen die Haube – und siehe da: Das Problem ist gelöst! Wenn das so weitergeht, werden wir noch zwei recht passable Automechaniker.


Blauregen-Opulenz nahe Sedan

Kirchturmspitzen ragen von fern in den Himmel, kleine Dörfer, teils hübsch restauriert, teils mit der Patina des unumkehrbaren Untergangs versehen, leuchten wie Edelsteine, manchmal leuchtet auch die Kontrolllampe wieder. In Bar-le-Duc regnet es, in Brillon-sur-Barrois schon nicht mehr. Ein Ortsname wie himmlischer Geigenklang. Das Waschhaus in Haironville verführt zum Fotografieren, die Brücke über das Flüsschen Saulx ebenso. Wasser plätschert, kein Champagner, aber es klingt so, als ob es welcher wäre. Und als einige Zeit später ein Schild auf Château Joinville am Wegesrand hinweist, wird erneut ein Tagesplan durchkreuzt, der keiner war. Merke: Wer morgens nicht weiß, wo er abends schlafen wird, muss keinen Plan haben. Der Morgen trägt ihn bis zur Dämmerung, die immer irgendwann irgendwo ein Ziel für ihn bereithält. In diesem Fall ein schönes Schloss in einer noch schöneren Stadt.

„Bonjour Madame, bonjour Monsieur. Bienvenue au Château du Grand Jardins Joinville.“ – Es ist ein Juwel von mehreren in der Champagne. Alle Welt spricht von den weißen Schlössern der Loire, vergleichbar wenige von den Châteaux de Champagne, und wenn, dann nur im Zusammenhang mit dem oft überbewerteten Prickelwasser. Dieses Schloss hier mag nicht die Strahlkraft eines Château Villandry haben, es ist kleiner, aber der große Renaissance-Garten mit seinem Bachlauf, den verschiedenen Gehölzen, hundertjährigen Bäumen und den Kunstwerken sowie einem romantisch um das Gebäude angelegten Park wird uns in Erinnerung bleiben, auch weil es gerade einen tüchtigen Schauer gibt, der andere Besucher davon abhält, zwischen Beeten und Bäumen im Schutz eines Regenschirms auf den Kieswegen zu flanieren. Draußen vor dem Tore perlen unzählige Tropfen auf dem Lack des R4 und funkeln wie Diamanten; es ist das einzige Auto, das hier gerade steht. Die Petites Cités de Caractère, die kleinen Städtchen, haben wirklich Charakter, das zeigt Joinville uns deutlich, und führe der Weg bei einer nächsten Reise wieder durch die Champagne, stünden auch Sézanne, Vignory und Châteauvillain auf der Wunschliste sehr weit oben. Ach nein, lieber nicht, ohne Plan ist die Wahrscheinlichkeit größer, sie auch wirklich anzusteuern …

Aber so viel sei vorweggenommen: Joinville ist erst der Anfang – wir werden noch einige weitere fulminante Entdeckungen in anderen kleinen Städten mit Charakter auf dieser R4-Exkursion machen. Die Quatrelle läuft. Ihr Motor schnurrt zufrieden, so als ob sie sich bedanken würde, dass sie auf ihres Mutterlandes Département-Straßen in die Gewissheit des Abenteuers geschickt wird, ja, es hat den Anschein, dass sie sich wirklich wohlfühlt. Nichts kann diesen tapferen Renault davon abhalten, bis an die Atlantikküste vorzudringen.

Wir kaufen Gift. Einem Mann ist nicht zu helfen. Wir haben die Schlange nie gesehen.

Wir haben so eine Ahnung, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis der Renault 4, unser treuer Blechbegleiter mit dem Hartplastikkühlergrill, eines Morgens von alleine startet und sehnlichst darauf wartet, dass wir – salzbuttercroissantgefettelt und Marmeladenreste in den Mundwinkeln tragend – endlich einsteigen, damit er die nächsten Boulevards der Träume ansteuern darf. Sein Motor klingt kernig jetzt, nach einigen Hundert Kilometern, als wir gegen halb zehn am Hotel „Auberge de la Pleine“ in La Rothière aufbrechen und aus der Tiefe der vier Zylinder pröttelnd dem frischen Morgen ein hübsches blaues Dünstlein verpassen. Es ist der Duft des Abenteuers. Wir schnüren dem Motor mit der Starterklappe die Luftzufuhr enger und knattern auf die D396 und D619. The Sound of Musik. In Ailleville verkauft eine Mutter mit ihren Kindern Maiglöckchen am Straßenrand. Wie nett sie winken. Keine dreihundert Meter weiter schon wieder ein Tischchen mit kleinen Sträußen, Kinder, Mutter und Mémé. Sie grüßen und lachen. Ja, den Renault 4, ihre Quatrelle, lieben sie hier in Frankreich abgöttisch, und wenn einer dann auch noch mit deutschem Kennzeichen durch ihre Heimat saust, huldigen sie dieser Ikone, als säße der Heiland persönlich am Steuer.

Dachten wir recht eingebildet. Stimmt aber nicht.

Ein Blick auf den Kalender hätte gereicht. Am Maifeiertag verkaufen Kinder kleine Blumensträuße als „porte-bonheur“, als Glücksbringer, für einen guten Zweck. Armen, Alten, Versehrten wird das Geld gegeben. Und es ist gleichfalls ein erster Frühlingsgruß, den sich manche ans Revers heften, andere in die Vase stellen. Ab Bar-sur-Aube, einem Städtchen im Département Aube, Teil der Champagne, duftet es im Fahrzeuginneren dann auch lieblich nach den weißen Blüten des Frühlingsbringers. Es ist ein Vergnügen, den Kindern beim Verkauf der Blumen zuzusehen. Unwillkürlich fliegt ein Gedanke nach Deutschland. Könnte das dort nicht auch eine schöne Tradition werden? Vermutlich nicht, weil Horden entsetzter Mütter und Väter auf der Straße protestierten, mit Plakaten und Flüstertüte ausgerüstet, weil das Maiglöckchen – ausgerechnet im Jahr 2014 vom Botanischen Sondergarten Hamburg-Wandsbek auch noch als „Giftpflanze des Jahres“ gekürt – ihre Lütten meucheln würde. „Finger weg, Kinder, das ist kein Salat!“ Allein der Anblick könne dazu führen, dass die toxischen Inhaltsstoffe aus den Pflanzensäften über die Pupille direkt in die Blutbahn der kleinen Racker fließt. Aus den weinerlichen Tönen der Helikoptererziehungsberechtigten würden sich Gesundheits- initiativen herausbilden, die eine Enquete-Kommission in der Bundesregierung zur Folge haben dürfte, woraufhin sich der Krankenkassenbeitrag schlagartig erhöht. Und das alles wegen eines Krautes, das übrigens nicht giftiger ist als im Discounter billig eingekauftes Spielzeug fernöstlicher Herkunft. Aber zumindest wäre die Katastrophe verhindert, dass die lieben Kleinen Maiglöckchen anfassen. In Frankreich dürfen sie das, und es ist kein Fall bekannt, in dem ein Kind noch am Abend des Feiertags mit Vergiftungserscheinungen in eine Klinik eingeliefert wurde, nur weil es diese Blumen verkaufte.


Spartanisches Interieur – immerhin mit Maiglöckchen

In Bar-sur-Aube sitzt eine Mutter auf den Treppenstufen ihres Hauses und schaut ihren Söhnen beim Verkaufen zu. Nur wer ein Herz aus Stein hat, würde an ihnen vorbeigehen, ohne einen Strauß zu kaufen. Zwei Euro. Ob die nun wirklich bei den Armen landen oder sich die Buben später davon ein Eis kaufen, ist gar nicht mehr so wichtig. Viel wichtiger bleibt festzustellen, dass die Jungs, sechs und zehn Jahre alt, in der Lage sind, freundlich Guten Tag zu sagen. Ist das nicht verrückt? Kinder, die Guten Tag sagen! Der Vergiftungsgrad scheint weit vorangeschritten zu sein, da kann doch was nicht stimmen. Und dann sogar noch ein „Merci“ und „Au revoir“ nachgeschoben, einfach so, aus heiterem Gemüt. Ob das ansteckend ist?

Herrgott, Bar-sur-Aube ist wirklich schön, mit und ohne Maiglöckchen. Die Baralbins müssen stolz auf ihre Stadt sein. Fassaden wie von Gauguin gemalt, schmale Gassen, die um Häuser führen, deren blaue Fensterläden die Strahlkraft des Himmels übertreffen, und am Vormittag fällt das Sonnenlicht durch die farbigen Fenster der Kirche Saint-Pierre wie göttlicher Segen auf den kalten Stein des im 12. Jahrhundert entstandenen Bauwerks. Burgundische Frühgotik. Die Pracht ist von außen weniger zu erkennen; Gottes Haus wirkt hier mehr wie eine wehrhafte Burg, wurde mit einer Holzgalerie versehen, die außen herum verläuft und die früher ganz irdisch den Händlern als Verkaufsraum diente. Aber kaum das Hauptportal durchschritten, hat dieses Meisterstück etwas Majestätisches. Nicht weit entfernt strömt gemächlich die Aube durch die Stadt. Auf dem Plateau von Langres brechen sich ihre Wasser in einer Höhe von kaum 380 Metern Bahn und fließen nach 248 Kilometern bei Marcilly-sur-Seine in die, ja, in wen wohl, in die Seine natürlich. Bar-sur-Aube ist wohl eines ihrer schönsten Ufer, daran besteht kein Zweifel. Und wenn ein Fluss nicht nur Städten, sondern einem ganzen Département seinen Namen gibt, muss das wohl einen hübschen Grund haben. Wir verlassen Bar-sur-Aube mit seinen Maiglöckchenverkäufern und bemalten Häusern und driften perlenwasserwärts über die Champagnerroute D74 nach Colombé-le-Sec.


Charmantes Städtchen: Bar-sur-Aube

Radfahrer winken und machen große Augen. Einen R4 ohne Rost haben sie in Frankreich seit Jahrzehnten nicht gesehen. „Une bonne voiture“, rufen sie. Und eines, das so sehr in diese Landschaft passt. Man möchte in ihre Tiefe greifen, sie sich seinem Innersten einverleiben, sie spüren wie den Nachklang von Schampus und Burgunderwein. Man möchte einen Vorrat an Eindrücken, Düften und Bildern in Flaschen und Fässern abfüllen, um an tristen Wintertagen davon zu kosten. Vor uns nichts als Freiheit und ein zufrieden sirrender Motor, über uns der Himmel. Und dann steht da plötzlich ein riesengroßes Kreuz, weithin sichtbar in dieser Landschaft aus Rebstöcken, Feldern und Wald. Es ist die Gedenkstätte für General Charles de Gaulle, erster Präsident der Fünften Republik Frankreichs, und die Erinnerung an die französische Exilregierung während des Zweiten Weltkriegs. Das Lothringische Kreuz in Überüberübergröße, ein fast 45 Meter hohes Monstrum, das ohne Fundamente 950 Tonnen wiegt, weil es aus 36.525 Pflastersteinen und 1638 rosa Granitplatten gebaut wurde. Solange der Wind nicht stärker als 150 Kilometer pro Stunde bläst, wird es sicher nicht umfallen, so haben es jedenfalls die Architekten damals versprochen. Man könnte folglich, gemessen an der Höchstgeschwindigkeit eines Renault 4, mit Vollgas daran vorbeifahren, und dieses Lothringische Kreuz würde standhaft seinen Dienst als Bewahrer der Erinnerung tun, ohne auch nur ins leiseste Zittern zu geraten. Das ist aber ohnehin graue Theorie, denn in Colombey-les-Deux-Églises ist ein solches Tempo gar nicht möglich. Es würde den armen Maiglöckchen, die hübsch drapiert aus dem Aschenbecher hervorlugen, auch nicht guttun. Übrigens ein Aschenbecher ohne Zigarettenanzünder, was wunderlich ist. Man würde annehmen, es sei nie ein französisches Auto ohne Heißmacher für Gauloises und Gitanes gebaut worden, denn immerhin gilt Frankreich bis heute als letztes Tabakparadies der westlichen Welt. In der Tat hatte es ab Werk aber in keinem der über 8,1 Millionen gebauten Exemplare jemals einen Zigarettenanzünder gegeben.

Lignol-le-Château hat einen putzigen Namen, die edlen Kupferlaternen an der Ortsdurchfahrt lassen auf gut situierte Champagnerhersteller schließen. D, D, D – es wird zum Lieblingsbuchstaben. Immer tiefer gelangen wir über manch magere Piste in die Seele dieses Landes. Die „Route du Champagne“ schlürft der kleine Renault, wie wir es mit dem Schaumwein tun: mit Genuss. Die D47 ist eine schmale Straße, auf der wenig Verkehr unterwegs ist, die D619 serviert schönste Ausblicke, tief in das Land hinein, die D3 ist sogar so wenig befahren, dass hier rechts vor links gilt! Es wäre aber doch anzunehmen, dass ein R4 grundsätzlich Vorfahrt hat …? „Es sei denn, er trifft auf einen 2CV.“ In der Bar du Château in Vendeuvre-sur-Barse lässt ein Handwerker, der gerade Mittagspause hat, keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Ente in Frankreich noch beliebter ist. Enten haben eine bessere Lobby. Während sie oft fein restauriert als Liebhaberobjekt gefahren werden, vermag der R4 sein Image als verlässliches Arbeitstier selbst ein Vierteljahrhundert nach Auslieferung des allerletzten „Bye-bye“-Modells irgendwie nicht loszuwerden. Ein Makel ist das nicht; ohne Zweifel ist „La Quatrelle“, zu jeder Zeit das praktischere Fahrzeug der beiden Klassiker gewesen. Sie sind aber in der Tat so grundverschieden, dass jeder Vergleich ein kleines Verbrechen ist. Hier die Ente, der Citroën mit dem leicht fröschelnden Motörchen, da der Renault, dessen 34-PS-Aggregat den Klang einer sirrenden Nähmaschine hat. Müsste dem Handwerker gefallen. Aber er stichelt. Wir sind gekränkt.

„Monsieur, die Ente hat weniger PS und ist langsamer!“

„Stimmt“, sagt er.

„Und sie ist unpraktischer. Der Renault hat einen größeren Kofferraum und bessere Sitze“, legen wir nach.

„Stimmt“, sagt er.

„Außerdem ist die Quatrelle nicht so reparaturanfällig und günstiger im Unterhalt. Und sie schwankt nicht wie ein Schiff auf offener See.“

„Stimmt“, sagt er.

„Gut, dann ist die Sache doch klar. Der R4 ist das bessere Auto!“

„Non, jamais!“

Dem Mann ist nicht zu helfen. Wir lenken das Gespräch in eine andere Richtung und fragen, warum das Schloss auf der Straßenseite gegenüber leer steht. Immerhin sei es doch ein „Monument historique“ und infolgedessen von beachtlichem Wert. Noch dazu sehe es hübsch aus und sei von einem ansprechenden Park umgeben. Der Enten-Fan rät uns, zur Gemeindeverwaltung zu gehen. „Es steht zum Verkauf. Kaufen Sie es doch“, sagt er und grinst mit Bierschaumschnäuzer.

„Danke, Monsieur. Das würden wir unbedingt tun wollen, aber die Quatrelle war teuer. Fürs Château wird das Geld wohl nicht mehr reichen.“