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2.2.7 Ein kleiner Kulturschock

Ein ganz anderer Wiki-Effekt ergab sich nicht innerhalb der Communitys, sondern außerhalb. Kein anderes Social-Software-Projekt hat in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit, Bewunderung und Kritik erfahren wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Das große Interesse an der Wikipedia lässt sich nicht allein damit erklären, dass scheinbar aus dem Nichts innerhalb weniger Jahre die größte Enzyklopädie der Welt entstand. Aufsehen erregte vor allem, wie sie entstand: In der Wikipedia kann nicht nur jeder Benutzer eigene Artikel erstellen, sondern auch fremde Lexikoneinträge frei bearbeiten. Diese unkonventionelle Eigenschaft der Wiki-Software, die ein grundsätzliches Vertrauen in die anderen Nutzer voraussetzt, hatte erhebliche Konsequenzen. Im Falle der Wikipedia war sie der Reiz, der zum Motor des Projektes wurde.

Dass trotz dieser uneingeschränkten Offenheit über freie Kooperationen ein wertvolles Nachschlagewerk entstand, führte bei vielen Beobachtern zu Irritationen: Die gängigen Annahmen über die begrenzten Fähigkeiten selbstorganisierter großer Gruppen waren angesichts des Erfolgs der Wikipedia infrage gestellt. So hatten nur die wenigsten erwartet, dass die Qualität der Wikipedia-Beiträge trotz aller Mängel und vieler Ausreißer überdurchschnittlich gut ausfallen würde. Ebenso hatte kaum jemand erwartet, dass sich eine so große Zahl an Menschen an das mühsame Geschäft machen, das elektronisch vorhandene Wissen neu zu verkarten und im erheblichen Maß zu erweitern. Noch dazu formulierte die Wikipedia-Community ehrgeizige Ziele: Qualitätssicherung, Quellenkritik, klare Argumentationsmuster und Abgrenzung von Meinung und Kommentar vom enzyklopädischen Schreiben wurden zu zentralen Diskussionsgegenständen der Wikipedia-Autoren.

Angesichts des Beispiels Wikipedia standen nun mit einem Mal nicht nur die gängigen zentralistischen Verfahren von Wissensgewinnung, Beurteilung und Verteilung auf dem Prüfstand, vielmehr wurden wieder sehr grundsätzliche Fragen nach alternativen Arbeitsweisen, nach Kontrolle und nach Wahrheit gestellt. Die Etablierung der Social Software »Wiki« provozierte so wie keine andere Fragen nach dem gesellschaftlichen Ganzen (vgl. Ebersbach et al. 2008).

Überhaupt bedeutete die Einführung der Wiki-Technologie bereits ein mediengeschichtliches Ereignis. Im Kampf um Aufmerksamkeit und Deutungsmacht im massenmedialen Großsystem Internet hatten bis dahin die etablierten Institutionen und Unternehmen alle wichtigen Knoten- und Verteilerpunkte besetzt. Deren Position wurde unter anderem durch Wikipedia erschüttert. Mit der Wiki-Technologie an sich erweiterten sich zudem die Möglichkeiten des Mediums Internet erheblich. Noch nie war es so einfach, im Internet vom Leser zum Autor zu werden. Für viele wurde das Internet erstmals zu einem gestaltbaren Medium, zu einem Lernort. Die zukünftige Entwicklung bleibt sicher abzuwarten, aber die Netzentwicklung hat durch die Wiki-Technologie eine qualitative Veränderung erfahren.

Und hier gilt es gleich zu unterscheiden: Wikipedia ist nicht Wiki. Wikipedia ist ein Projekt, das mit einer bestimmten Wiki-Software betrieben wird. Allerdings wurde über Wikipedia die Wiki-Software populär. Die Möglichkeiten dieser Software werden aber erst nach und nach erkannt. Dabei verdecken die Debatten um Wikipedia, dass sehr viele Wiki-Projekte gar nicht zum Laufen kommen und dass Wikis nicht nur als Lexikon benutzt werden können sondern oder schon lange in Betrieben für normale Dokumentationen benutzt werden, ohne Grundsatzdiskussionen auszulösen.

2.2.8 Schattenseiten

Die Eigenschaften von Wikis können auch erhebliche Probleme bereiten und haben auch vielfach Kritik hervorgerufen.

Edit-Wars und Vandalismus. Produktiven Gruppenprozessen stehen immer auch destruktive Praktiken entgegen. Gerade bei öffentlichen Projekten wie der Wikipedia gibt es sogenannte »Vandalen«, die Texte mit Wörtern entstellen oder Passagen löschen. Bekannt geworden sind auch verschiedene Fälle von Politikern und PR-Beratern, die versuchen, einen Kandidaten oder ihr Produkt in einem besseren Licht erscheinen zu lassen.

Eine andere Erscheinung sind die schon erwähnten Edit-Wars, also Rededuelle zweier Autoren, die dann jeweils ihre Fassung eines Textes immer wieder hochladen. »Trolls« rufen in langen, überflüssigen oder provokativen Beiträgen bewusst Flame Wars hervor. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich diese Praktiken im Verhältnis zum Gesamtprojekt in Grenzen halten. Bei Intranet-Wikis spielt Vandalismus eine zu vernachlässigende Rolle.

Interesselosigkeit und mangelnde Motivation. Tatsache ist, dass viele Wiki-Projekte nicht genügend Mitarbeiter motivieren können und nicht genügend Inhalt erstellen, um einen selbst tragenden Gruppenprozess zu initiieren. Das kann viele Ursachen haben. Wichtig ist sicher, dass eine Kerngruppe das Wiki-Projekt als Teil ihrer normalen Arbeit versteht und regelmäßig Inhalte einarbeitet und administriert. Oft wird der enorme Zeitaufwand bei der Etablierung einer Community unterschätzt. Eine moderierende Begleitung ist von großer Bedeutung. Und gerade hier fehlt es nicht selten am entsprechenden Know-how, an einer Strategie oder an der Unterstützung durch einen geeigneten Träger. Ebenso schwierig ist es, wenn das Wiki nicht die Lösung für eine Herausforderung darstellt, nicht »mein Thema« ist oder unter den Beteiligten ein Delegationsdenken vorherrscht. Bei letzterem erschöpfen sich alle Energien in den Diskussionen, was »man« machen müsste und meint damit, was »die anderen« machen müssten. Um die Motivation zu erhalten, sind bei dieser tendenziell textlastigen Social Software die spielerischen Elemente von großer Bedeutung. Hier gilt es vor allem, Freiräume für verschiedene kreative, humorvolle und experimentelle Aneignungsformen des Mediums zu sichern.

Qualität und ewiges Beta. Immer wieder in der Diskussion ist die Qualität von Wiki-Texten. Da kein einzelner Autor, sondern ein Autorenkollektiv verantwortlich zeichnet, ist die Einschätzung der Richtigkeit der Einträge für den Leser möglicherweise schwierig. Auch die Vollständigkeit der Beiträge lässt sich nicht einfach verifizieren. Der Qualitätsprozess basiert in erster Linie auf der Aufmerksamkeit der Nutzer (vgl. Hammwöhner 2007)9. Hier müssen oft begleitende Maßnahmen eingeleitet werden – fachliche Begutachtung, Kennzeichnung geprüfter Artikel. In der täglichen Praxis aber auch statistisch erweisen sich die Informationen eines Wikis als nicht weniger zuverlässig als die Informationen, die von einer zentralen Redaktion zusammengestellt und verteilt werden (Giles 2005, Günderoth/Schönert 2007). Die Nutzer eines Wikis müssen sich bewusst sein, dass ein Wiki vor allem der Erstinformation dient.

Probleme kann aber auch die Willkür von Administratoren bereiten. Diese tendieren dazu, die Einträge im Wiki überzubehüten. Sei es aus Zeitmangel oder einer gewissen Schließungstendenz heraus, werden Änderungen schnell rückgängig gemacht und immer wieder voreilig als nicht adäquat zurückgewiesen. Berichte über dieses Verhalten häufen sich zurzeit in der Wikipedia, sind aber auch aus anderen Projekten bekannt. Der Unmut darüber hat sich sogar schon in einer Protestseite manifestiert:


Abb. 2.7: Die Stupidedia

Chaos und verlorene Information. Wertvolles Wissen einfach ins Wiki zu stellen genügt nicht. Damit die gesuchten Informationen auch gefunden werden können, müssen die jeweiligen Artikel verlinkt, kategorisiert und in ein – am besten – kollaborativ erstelltes Ordnungssystem eingefügt werden. Auf diesen essentiell wichtigen Bereich der Wiki-Gärtnerei wird häufig nicht allzu viel Mühe verwendet. Möglicherweise steht dann zwar alles fein säuberlich im Wiki, doch niemand weiß, was genau an welcher Stelle abgelegt wurde.

Zwang zu Neutralität und Mittelmaß. Kooperatives Arbeiten beinhaltet Kompromisse. Dadurch werden pointierte Darstellungen oder individuelle Interpretationen oft abgeschwächt. Die Stärke, viele Gesichtspunkte berücksichtigen zu müssen, kann in Open-Editing-Systemen zur Schwäche werden. Besonders gefährlich wird es, wenn aus dem Zwang zur Neutralität Sachverhalte relativiert werden. Dies kann passieren, wenn bei einem Thema wie »Holocaust« die Aussagen der Leugner gleichberechtigt neben den wissenschaftlichen Befunden stehen.

Der Zwang zur Neutralität und zum Kompromiss ist allerdings beim Großprojekt Wikipedia besonders ausgeprägt. Die zentrale Position der Wikipedia ermöglicht keine Interpretationen jenseits des gesellschaftlichen Konsenses. Jeder Internetbenutzer kann auf dieses Medium zugreifen. Das ist anders bei Projekten wie Conservapedia, eine Plattform des US-amerikanischen Neokonservativismus, die sich aufgrund ihrer geringen Bedeutung eine geschlossenere Interpretationslinie erlauben kann. Für eine wissenschaftliche Bewertung muss daher die soziale Zusammensetzung der Communitys, ihre Sozialisation und Ordnungsvorstellung in Betracht gezogen werden, auch wenn diese sich neutral und unpolitisch geben.

Autorenschaft und Urheberrechte. Die Aufgabe des Autorenprinzips führt zu weiteren Fragen: Wer ist bei kooperativ geschriebenen Inhalten rechtlich verantwortlich? Wem gehört der Text? Wenn jemand viel beiträgt, könnte er ein Copyright geltend machen. Um Konflikte zu vermeiden, stellen die offenen Wiki-Projekte die Texte unter eine Lizenz, die GNU Free Documentation Licence. Das bedeutet, der Text darf von jedem kopiert und für andere Zwecke benutzt werden. Voraussetzung dafür ist, den Ursprungstext über einen Link zur Verfügung zu stellen.

 

2.2.9 Ein eigenes Wiki erstellen

Das Betreiben eines Wikis lohnt sich auch schon in kleinen Gruppen. So wurde z. B. dieses Buch zu großen Teilen von den drei Autoren in einem Wiki verfasst. Die Frage nach einem eigenen Wiki ist daher naheliegend.

Installation auf eigenem Server oder Webspace. Wer technisch ein bisschen versiert ist, wird keine Probleme haben, ein geeignetes Wiki-System auf dem eigenen Server oder auf dem Server des Providers zu installieren. Zur Auswahl stehen eine Reihe von interessanten Open-Source-Produkten, die sich in ihren Eigenheiten jedoch sehr stark unterscheiden:

Mediawiki ist die stabile, recht komfortable und leicht zu installierende Software, auf der die Wikipedia basiert.

BlueSpice ist eine freie Mediawiki-Distribution, die Wert auf Benutzerfreundlichkeit legt und für den Einsatz in Unternehmen spezialisiert ist.

DokuWiki. Diese Software ist für die Dokumentation von Projekten bewusst einfach und übersichtlich gestaltet.

TWiki ist das wohl älteste Wiki für den Unternehmenseinsatz. Es besteht aus der Programmiersprache Perl und bietet daher viele Schnittstellen für Tüftler. Im Jahr 2008 spaltete sich ein Großteil der TWiki-Entwickler-Community ab und entwickelt ihre Version als Foswiki weiter

Confluence ist ein an sich kostenpflichtiges Wiki mit Herz für Open-Source-Communities. Es ist im Unternehmensumfeld weit verbreitet und zeichnet sich unter anderem durch die Abgrenzung von Artikeln in verschiedene Bereiche (»Spaces«) aus.

Wer Entscheidungshilfe bei der Suche nach der geeigneten Software braucht, bekommt bei WikiMatrix eine erste Vergleichsübersicht.

Gehostete Lösungen. Ganz ohne die Tücken der Installation und Pflege des Wikis funktioniert das Wiki-Hosting. Mit wenigen Klicks kann hier das eigene Wiki bestellt und meistens in wenigen Minuten in Betrieb genommen werden. Einige Wikis können gratis geordert werden, für besondere zusätzliche Funktionalitäten fällt jedoch oft eine monatliche Gebühr an. So erlaubt z. B. Wikia das kostenlose Hosting von Wikis. Das von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales gegründete Unternehmen finanziert sich über Werbung.

Nutzung einer Wiki-Extension. Die Wiki-Software wird sich nicht nur als Einzelsystem durchsetzen, sondern auch in Kombination mit anderen bereits bekannten Anwendungen. Die Verknüpfung von Wikis mit anderer Software ist schon deshalb sinnvoll, weil viele Anforderungen von einem Wiki allein nicht bewerkstelligt werden können. Daher gibt es mittlerweile Wiki-Extensions für die Integration von Wikis in Content-Management-Systemen wie Joomla! oder Drupal. Wikis werden auch kombiniert mit Blogs. Oder sie sind Teil einer Groupware mit Adressverwaltung und Kalender.

Übungsfragen

1. Wikipedia als Beispiel:

– Suchen Sie auf www.wikipedia.de nach dem Artikel »Sacco und Vanzetti«.

– Gehen Sie auf die Diskussionsseite zum Artikel. Was stellen Sie fest?

– Klicken Sie auf »Letzte Änderungen« und rufen Sie einen neu bearbeiteten Artikel auf.

– Suchen Sie die Auflistung der verschiedenen Versionen des Beitrags. Was wurde verändert?

2. Welche weiteren Anwendungsgebiete für ein Wiki fallen Ihnen ein?

3. Was könnten im Wiki Maßnahmen zur Qualitätssicherung sein?

4. Was unterscheidet das Wiki von einem klassischen Content-Management-System?

5. Welche Use Cases könnten für das Semantic Wiki prädestiniert sein?


Literatur

Lih, Andrew (2009): The Wikipedia Revolution: How a Bunch of Nobodies Created the World’s Greatest Encyclopedia. Hyperion, New York.

Dieses sehr flüssig zu lesende Buch veranschaulicht die Entwicklung der Wikipedia anhand vieler kleiner Anekdoten. Sozusagen ein Blick hinter die Kulissen.

Mayer Florian Leander (2013): Erfolgsfaktoren von Social Media: Wie »funktionieren« Wikis? Eine vergleichende Analyse kollaborativer Kommunikationssysteme im Internet, in Organisationen und in Gruppen. Reihe: Studien zur Organisationskommunikation, Band 4. LIT-Verlag, Berlin/Münster.

Eine kommunikationswissenschaftliche Doktorarbeit, die wichtige Rahmenbedingungen für die Einführung von Wikis innerhalb von Organisationen beleuchtet.

Pflaum, Wätzold (2012): Die Wiki-Revolution: Absturz und Neustart der westlichen Demokratie. Rotbuch, Berlin.

Ein Blick über den Tellerrand: Ausgehend vom Wiki-Gedanken überträgt der Autor die Wiki-Prinzipien auf andere Bereiche der Gesellschaft.

Pscheida, Daniela (2013): Das Wikipedia-Universum: Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert. Transcript, Bielefeld.

Eine ausgiebige 500 Seiten starke Doktorarbeit über die Auswirkungen von Internet-Plattformen wie die Wikipedia auf die Wissenskultur.

2.3 Blogs

Weblogs (kurz: Blogs) sind auf WWW-Seiten geführte öffentliche Tagebücher. Daher kommt auch ihr Name: Log (Tagebuch, Fahrtenbuch, Protokoll) im WWW (Web). Inhaltlich ergreifen darin Autorinnen und Autoren das Wort, die mit kurzen Texten auf Inhalte im Netz verweisen oder persönliche Erfahrungen verarbeiten.

Man könnte sagen, Weblogs sind autobiografische Dokumentationen in chronologischer Form. Die Erzählsituation ist meist die eines Ich-Erzählers. Damit greift das Weblog auf literarische Genres, wie z. B. auf die politischen Pamphlete des 18. Jahrhunderts oder den in Tagebuchform geschriebenen Roman, zurück. Wie ihre Vorläufer sind sie immer bewusst subjektiv gehalten, kommentierend, vorläufig und mit tagesaktuellen Bezügen.

Weblogs übertragen aber ihre literarischen Vorläufer nicht einfach in ein digitales Massenmedium. So werden gerne multimediale Elemente wie Videos, Tonaufnahmen oder Bilder eingebunden. Vor allem ändert sich aber dank der technischen Möglichkeiten von Content-Management-Systemen die chronologische Reihenfolge: Der aktuelle Eintrag steht ganz oben. Das hat nicht nur den Effekt, dass die Leser sofort die neuesten Einträge sehen können. Die veränderte Erzählrichtung führt auch zur Abwertung älterer Beiträge.

Ein Vergleich mit der bürgerlichen privaten Tagebuchkultur liegt nahe und greift insoweit, als Weblogs selbstreflexive Prozesse unterstützen können. Allerdings richtet sich das laute Nachdenken im WWW, anders als bei Tagebüchern, die wirklich nur mit Blick auf die private Verwendung geschrieben werden, sofort an ein potenzielles Massenpublikum. Auch die Erschließung anderer Weblogs, etwa über Trackback- und Pingbacksysteme, und die Vernetzung zu einer »Blogosphäre« ist eine grundlegende Neuerung.


Abb. 2.8: Durch die Vernetzung mehrerer Blogs entsteht die Dynamik der Blogosphäre.

Softwaretechnisch ist ein Weblog eine Anwendung im Internet, die eine Liste mit Artikeln ausgibt. Die Beiträge sind über URLs einzeln adressierbar und bieten in der Regel die Möglichkeit, Kommentare zu hinterlassen.

Bloggen gehört heute in den USA, in Frankreich und Großbritannien schon fast zum Alltag. Hierzulande war es bis vor kurzem noch ein Randgruppenhobby. Dabei entwickeln sich Blogs zu einem alternativen Informations- und Unterhaltungssystem. Die Blogsuchmaschine Technorati erfasste im Januar 2008 schon 112 Millionen Blogs und entschied 2009 auf Grund des großen Wachstums nur noch englischsprachige Blogs zu erfassen. Leider existieren keine exakten Informationen darüber, wie viele Weblogs und Corporate Blogs derzeit aktiv sind.

Merkmale:

• Chronologisch umgekehrte Reihenfolge,

• ein Autor bzw. wenige Autoren und viele Kommentatoren (Schreiben können in einem Blog meistens nur berechtigte Personen, wohingegen die Kommentarfunktion allen Besuchern offen steht),

• kurze Texte (Weblogs sind ein geeignetes Genre für kürzere Texte),

• hohe Aktualität der Beiträge,

• Authentizität durch Subjektivität (Weblogs belegen nicht nur über Verweise auf die Quellen, sondern berufen sich auch auf die Autorität der persönlichen Erfahrung),

• leichte Bedienbarkeit und

• schnelle Verbreitung durch Vernetzung.

2.3.1 Geschichte

Die Frühformen der Blogs. Das Auftreten des ersten Blogs ist schwer bestimmbar. Höchstwahrscheinlich muss man Anfang der 1990er-Jahre als Beginn ansetzen. Die Urblogs waren einfache, manuell codierte Webseiten, die von ihren Betreibern regelmäßig aktualisiert wurden (das heißt, es gab noch keine eigene Blogsoftware) und Links zu anderen interessanten Homepages enthielten. Damit fungierten sie als interessenspezifische Filter für die beginnende Informationsflut.

Die Erfinder der Begriffe Weblogs und Blogs. Der Begriff Weblog wird erstmalig von Jørn Bager 1997 gebraucht. Der Programmierer und Philosoph ist Betreiber des Weblogs Robot Wisdom. Er bezeichnet damit eine »Webpage where a Weblogger ›logs‹ all the other Webpages she finds interesting«. Die erste Definition bezeichnet also einen sogenannten Linking Blog (siehe unten); für eine andere Aussprache »we_blog« plädierte Peter Merholz in seinem Blog. Damit war die Kurzform »Blog« geboren und zudem eine Unterscheidung zu den nach wie vor existierenden Weblogs als Logeinträge getroffen.

Blogpioniere. Mitte der 1990er-Jahre kamen die ersten tagebuch- oder journalartigen Weblogs auf. Pioniere des Bloggens, von denen einige heute noch existieren:

• Dave Winer (scripting.com)

• Steve Bogart (nowthis.com)

• Cameron Barret (camworld.org)

Abgrenzung von anderen Communitys und erste Blogsoftware. 1999 wird zu einem wichtigen Datum für die Webloghistorie: Zum einen veröffentlichte der Blogger Barrett den Artikel »Anatomy of a Weblog« (Barett 1999)10, in dem er versuchte, den Blog als eigene Form zu definieren und damit von anderen Communitys, z. B. von Diskussionsformen, abzugrenzen. Zum anderen wurde in diesem Jahr die ersten sogenannten Weblog-Publishing-Systeme – eine Art Mini-CMS – wie Blogger, Pitas und Manila veröffentlicht, die den Betrieb eines Blogs stark automatisierten und damit ein besonders einfaches Publizieren von Einträgen ermöglichten. Ab nun waren keinerlei HTML-Kenntnisse mehr nötig: Ein Internetzugang und ein Webbrowser genügten. Dass sowohl die Software als auch das Hosting von Blogs in den meisten Fällen kostenlos war, machte die Plattform besonders attraktiv.


Abb. 2.9: Der allererste Blogeintrag auf Camworld

Explosionsartige Verbreitung. Durch die technischen Möglichkeiten explodierte die Anzahl von Blogs. Waren es im Frühjahr 1999 noch genau 23, so verzeichnete Eatonweb, ein Metablog der Blogs sammelte, nun täglich neue Blogs. Ebenso kamen neue Softwarelösungen und Hoster dazu. In dieser Zeit etablierte sich auch die Kommentarfunktion. Waren es zuvor mehr Linksammlungen, wurden Blogs nun verstärkt als »Onlinetagebücher« genutzt, eine Verwendung, die als die Hauptnutzung der Blogs im Gedächtnis der Medien hängen blieb – obwohl Tagebücher gerade nicht öffentlicher, sondern privater Natur sind.

Journalismus und politische Meinungsbildung. Ein weiterer Sprung im Wachstum der Weblog-Community trat in der Folge des Anschlags vom 11. September 2001 ein. Schlagartig wuchs die Community um ein Vielfaches. Tausende von Bloggern berichteten, kommentierten und lieferten Hintergrundinformationen. Das Genre des Warblogs war geboren, das sich in den folgenden Jahren besonders während und nach Katastrophen wie dem Tsunami im Dezember 2006 oder dem Irakkrieg 2003 weiterentwickelte. Die etablierten Medien konnten mit der Geschwindigkeit und der Authentizität der bloggenden Augenzeugen nicht Schritt halten und nutzten sie zum Teil selbst als Quellen. Auch die Politik entdeckte die Blogs als PR-Mittel: Im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2004 verhalfen sie dem Demokraten Howard Dean zu großer Popularität und Spendengeldern in Millionenhöhe. Mittlerweile besitzt jeder US-amerikanische Politiker ein eigenes Weblog. Im Präsidentschaftswahlkampf von Barak Obama 2008 und während der iranischen Protestbewegung 2009 wurde schließlich der Online-Dienst Twitter weltbekannt und etablierte ein neues Format: das Microblogging.

 

Corporate Blogging. Natürlich hielten Blogs auch in das Businessumfeld Einzug. Corporate Blogs dienen dabei in erster Linie dem Marketing und der PR nach innen und außen. Sie können aber auch für ein kollektives Newspublishing verwendet werden und somit die Kommunikation der Mitarbeiter untereinander oder mit den Kunden erweitern. Ähnlich einem Wiki bedürfen Blogs als wirkliche Medien »von unten« einer entsprechenden Firmenkultur. Mit der entsprechenden Unterstützung der Unternehmensleitung können sie diese aber auch fördern. Zum Corporate Blogging gehören auch Versuche einzelner Firmen populäre Blogs einfach aufzukaufen.