Buch lesen: «Mütter», Seite 5

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MICHAELA KAISER, Jahrgang 1955 und in Berlin geboren, lebt und arbeitet seit nunmehr zehn Jahren in Beckum. In ihrer Kindheit reiste sie mit ihren Eltern, Artisten aus Leidenschaft, mit einer renommierten Reitertruppe in verschiedenen Circus-Unternehmen durch ganz Europa. Die Themen ihrer Bücher sind also eine logische Folge ihres Berufes und ihrer Vorlieben. Die Pferde hat sie mittlerweile aufgegeben und sich mit ihrem Lebensgefährten, ihrem Vater und drei Hunden in der Püttstadt niedergelassen. Nach einem sehr bewegten und unruhigen Lebensabschnitt genießt sie die beschauliche Ruhe in Beckum und hat sich nun ganz ihrem früheren Hobby, dem Schreiben, zugewandt.



Als Heinrich in den Krieg zog …

Eine Familiengeschichte nach einer wahren Begebenheit.

Gerda blickt auf die Tür, die sich hinter ihrem Sohn schließt und lässt sich zurück in die Kissen sinken. Sie ist so unendlich müde, dass ihr sogar das Denken schwer fällt. Die wenigen Stunden, in denen es ihr gelingt, wach zu bleiben, sind schon ohne die geringste Bewegung so anstrengend, dass sie nur noch einen einzigen Wunsch hat: Dieses beschwerliche und so schmerzhafte Dasein soll doch bitte endlich ein Ende haben.

Die Lider sind schwer, doch sie zwingt sich dazu, die Augen offen zu halten. Denn wenn sie sie schließt, dann wird sie einschlafen, und sie muss doch überlegen, muss nachdenken, muss sich endlich darüber klar werden, ob sie ihrem Sohn die Wahrheit sagen oder diese doch lieber mit ins Grab nehmen soll.

Gerda seufzt und schließt nun doch die Augen. Augenblicklich schläft sie ein.


Ludwig sinkt vor dem Krankenzimmer auf einen Stuhl. Wie er dieses Krankenhaus hasst! Bei jedem Besuch scheint seine Mutter ein Stückchen weniger zu werden, immer zerbrechlicher und dünner wirkt sie. Nicht nur, dass der in ihr wütende Feind sie von innen aufzufressen scheint, nein, auch dieses sterile und unfreundliche Krankenhaus scheint ihr alle Energie zu rauben. Er wünscht sich, dass sie zu Hause hätte bleiben können, dort, in ihrem vertrauten Umfeld; doch nach dem Sturz und der gebrochenen Hüfte kann er sie nicht mehr alleine pflegen. Was soll er nur tun, was nur?

Eine Schwester kommt mit geschäftigem Schritt den Gang entlang geeilt.

„Na, wie geht es uns denn heute?“

Ihre aufgesetzt muntere Miene löst eine wilde Aggression in ihm aus; am liebsten würde er ihr all seine Wut und Frustration so lange um die Ohren schlagen, bis dieses Grinsen aus ihrem Gesicht weicht. Zornig blickt er sie an. Sie wird eine Spur bleicher und geht schnell weiter.

Ludwig weiß, dass seine Mutter bald sterben wird, er kann es nicht verhindern, er kann ihr nicht helfen. Er weiß aber auch, dass jeder Besuch ihn ein Stück seiner eigenen Lebenskraft kostet und ebenso, dass er nicht mehr oft kommen kann. Nicht, wenn er selber weiter funktionieren soll; seiner eigenen Familie weiterhin eine Stütze sein soll. Stöhnend erhebt er sich und verlässt eilig den Flur, das Krankenhaus; flieht vor der Mutter, vor der Krankheit.


Rolf hält vor seinem Elternhaus und steigt aus dem Wagen. Seit die Mutter im Krankenhaus liegt, bewohnt der ungeliebte Bruder das große Haus alleine. Eigentlich steht es ja ihm zu, schließlich ist er der Ältere, wenn auch nicht der leibliche Sohn, aber immerhin der Ältere. Und als solcher hat er doch die älteren Rechte, oder? Das muss ein für alle Mal geklärt werden, jetzt und hier. Ludwig muss das doch einsehen.

Auf sein Klingeln hin öffnet sein Bruder. Rolf macht kein Federlesen über seine Absichten.

„Hör mal, wir müssen über das Erbe sprechen, das muss doch rechtzeitig …!“

„Was? Bist du von Sinnen? Mutter lebt noch, wie kannst du da schon …?“

„Wir müssen das jetzt klären, das Haus hier zum Beispiel …!“

„Hör du mal genau zu, du abgedrehter Spinner, Vater hat dir dein Haus finanziert und an diesem hier hast du gar keine Rechte, also verzieh dich!“

Entschlossen drängt Rolf sich an seinem Gegenüber vorbei. Ludwig ist so verblüfft, dass er keine Anstalten macht, den Bruder daran zu hindern.

Durch das laute Wortgefecht ist auch die Frau auf den Besuch aufmerksam geworden und kommt, mit dem jüngsten Sohn auf der Hüfte, aus dem Wohnzimmer.

„Warum schreit ihr denn so herum, jetzt ist Marco aufgewacht!“

„Dein Mann will nicht …!“

„Rolf will unbedingt …!“

Beide reden gleichzeitig und funkeln sich dabei zornig an.

„Es geht doch gar nicht nur um das Haus, aber Mutter hat doch noch andere Wertsachen. Das Konto und der Schmuck, da muss doch rechtzeitig eine Aufstellung angefertigt werden, sonst kommt da noch was weg!“

Die Kontrahenten stehen sich im Flur gegenüber und keiner weicht einen Schritt zurück.

„Solange wie ich dich damit nicht alleine lasse, kommt da auch nichts weg!“

„Willst du damit sagen, dass ich davon was unterschlagen würde?“

„Aber ganz sicher!“

Rolf wird ganz blass und fängt an zu stottern.

„Das ist eine böswillige … eine unglaubliche … wie kannst du nur … und ich habe … und immer …“

„Halt die Klappe und hör mir zu: Du wirst keine Aufstellung von irgendwas machen, wenn, dann machen wir das zusammen und was das andere betrifft, ich erinnere dich an den Kredit, den Vater dir …“

„Das Geld hat er mir geschenkt!“, kreischt Rolf.

„Hat er nicht, es war bloß dein Glück, dass er tot war, bevor du es zurückzahlen solltest und dass Mutter dir das erlassen hat, aber es war nie ein Geschenk. Also, hör zu, und wenn du nochmal dazwischen redest, schmeiße ich dich eigenhändig raus. Du wirst keine Aufstellung anfertigen und du wirst auch deine Hände von Mutters Konto lassen. Lilo und ich, wir haben uns um Mutter gekümmert und wir hatten auch die Kosten. Wenn noch was da sein sollte, wenn diese ganze Sache ausgestanden ist, dann teilen wir, aber nicht vorher, hast du das verstanden? Und jetzt mach, dass du nach Hause kommst! Weiß deine Frau eigentlich, was du so treibst?“

Damit öffnet er die Tür mit unmissverständlicher Geste. Rolf zögert noch einen Moment, dann marschiert er hindurch und Ludwig schließt die Eingangstür mit einem heftigen Knall.

„Na, das war ja wieder mal typisch!“ erklärt Lilo und schiebt sich den Jungen auf die andere Hüfte.

„Lass den bloß nicht ins Haus, wenn ich nicht hier bin. Auf keinen Fall darf der alleine hier herum spazieren. Der bringt das fertig und macht Mutter deswegen im Krankenhaus an, ich fasse es nicht!“

Damit verlässt Ludwig den Flur und verschwindet in seiner Werkstatt. Heute muss er noch einen Auftrag erledigen, das Wohnzimmer von Reuters wartet auf einen neuen Anstrich; na, er ist froh, dass er sich damit verspätet hat, sonst wäre Rolf in die Wohnung gekommen, während er nicht da gewesen wäre. Nicht auszudenken; Lilo hätte ihn sicherlich auch ins Zimmer der Mutter gelassen, unter irgendeinem Vorwand hätte er sich da schon Zutritt verschafft. Die ganze Situation belastet Ludwig mehr und mehr.


Gerda öffnet die Augen und blinzelt in den trüben Morgen. Wie spät ist es, welcher Tag ist es, Morgen oder Abend, wo bin ich, denkt sie. Dann fällt es ihr wieder ein. Der Krebs, der Sturz und jetzt das Krankenhaus. Ein Blick zur Wanduhr zeigt ihr halb sechs, draußen alles still, also ist es wahrscheinlich Morgen. Welcher Tag? Gestern war Ludwig da, vielleicht Montag? Oder war das schon vorgestern? Sie weiß es nicht und das Denken erschöpft sie. Sie will die Augen wieder schließen, als ihr der wieder alles in den Hintergrund drängende Gedanke durch den Kopf schießt. Das Problem! Sie muss das Problem lösen! Was soll sie tun! Wem nützt es, die Wahrheit zu wissen, wem schadet es? Soll sie überhaupt etwas sagen oder weiterhin schweigen, so wie all die Jahre, so wie es abgemacht gewesen war? Doch jetzt, am Ende ihres Weges, drängt es sie, dem Sohn die Wahrheit zu gestehen, ihm, dem Einzigen, wenigstens ihm – doch, ja, er soll alles wissen.

Sie beginnt zu träumen, ja, damals … als ihre junge Ehe von der Kinderlosigkeit überschattet war … die beiden Fehlgeburten, nach denen ihr Arzt ihr geraten hatte, jede weitere Schwangerschaft zu vermeiden, …“Das wird eh nichts mehr!“ waren seine Worte, … und dann der Mann … fort, im Krieg, und alles wurde anders …


Gerda öffnete die Türe und rief laut: „Paul? Paul, bist du schon da?“ Seit Heinrich, ihr Ehemann, im Krieg war, wohnte Paul bei ihr, ihr jüngerer Bruder. Paul hatte eine schiefe Hüfte, deswegen durfte er bleiben, während die gesunden Männer eingezogen wurden. Er war nur ein paar Jahre jünger als sie und trotz seines Hinkens sah er unverschämt gut aus. Seit einem halben Jahr war er mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft verlobt und manchmal verbrachte er die Abende bei ihr. Doch heute hatte er ihr versprochen, früher da zu sein.

„Wir sind hier!“ kam es aus dem Nebenzimmer; dort hatte Paul sich eingerichtet.

Wir, dachte Gerda; hat er die Erna mitgebracht? Die kommt doch sonst nie mit? Mit zwei schnellen Schritten war sie an seiner Tür und öffnete diese. Dort saß Paul auf seinem Bett und spielte mit einem kleinen Jungen. „Schau mal, Rolf, das ist die Tante Gerda, sag ‚Hallo, Tante Gerda!‘“ „Hallo, Tante Gerda!“ echote der Knirps ohne sein Spiel mit dem kleinen Holzauto zu unterbrechen. Über seinen Kopf hinweg traf ihr Blick den Pauls und sie signalisierte ihm stumm:

„Wer ist das?“

Paul erhob sich und sagte zu dem Kleinen:

„Spiel schön weiter, ich muss was mit der Tante Gerda besprechen, bist du auch lieb, wenn ich weg bin?“

Der Junge nickte nur, warf Gerda einen Blick zu und wandte sich wieder seinem Auto zu, das er mit viel „Brumm-brumm“ über imaginäre Täler und Berge lenkte.

„Gerda, schau mal …“ begann Paul, doch Gerda unterbrach ihn.

„Wo kommt der Junge her? Wo sind seine Eltern, oder hast du …?“

„Der Kleine ist der Sohn von Ernas Kusine, deren Mann ist gefallen, sie hat gestern die Nachricht bekommen. Darüber hat sie sich so aufgeregt, dass sie zusammengebrochen ist und ins Krankenhaus musste. Man weiß noch nicht, wie lange sie dort bleiben muss und sie hat außer der Erna keine anderen Verwandten. Und wie soll Erna ganz alleine den Jungen versorgen? Ich hab gesagt, ich frage dich, sonst muss er ins Heim.“

„Wie, du fragst mich, soll ich mich um ihn kümmern?“

„Ja, du könntest ihn offiziell als Pflegekind aufnehmen, hab mich schon erkundigt, du würdest auch ein kleines Gehalt dafür bekommen, vom Jugendamt, du musst dich nur als Pflegestelle registrieren lassen und ich helfe dir natürlich …“


So kam Rolf zu ihr; übergangsweise, wie sie glaubte. Seiner Mutter ging es aber nicht besser, sie schwand dahin wie eine welke Blume und verlor mit ihrer Lebensenergie auch jedes Interesse an dem Kind. Aus einem halben Jahr, wie ursprünglich vorgesehen, wurde ein Jahr und wenige Monate danach brachte Paul die Kunde, dass die Mutter des Jungen an dem heftig wütenden Grippevirus verstorben war. Er, Paul, hatte sich als Vormund des Jungen angeboten und Gerda konnte so die Pflegschaft behalten. Sie schrieb all diese Neuigkeiten an Heinrich, doch seine Antworten kamen spärlich. Das war 1944, und der Krieg tobte immer noch an allen Fronten. Kurz nach der Dauerpflegschaft schrieb Heinrich, dass er gefangen genommen und in ein Lager in Ostpreußen gebracht worden war. Er hatte nur einen Brief schreiben dürfen und er wusste nicht, wann er sich wieder würde melden können. Gerda verbrachte die nächsten beiden Jahre in Ungewissheit über sein Schicksal. Doch der Krieg war schließlich zu Ende, die mühsame Aufbauarbeit hatte begonnen und im Winter 1946/​47 wurde das Leben erst sehr schön und dann sehr kompliziert …


Wieder schläft Gerda ein. Sie träumt von Rolf, von dem kleinen, verlassenen Jungen, den sie schon beim ersten Anblick in ihr Herz geschlossen hatte. Mit seinen glatt gekämmten, blonden Haaren, den kurzen Hosen und dem weißen Hemd, wie er da auf Pauls Bett saß und so konzentriert mit seinem Auto spielte. Seine kleine Hand in ihrer, sein kleiner Körper an ihrer Seite, wenn er nicht einschlafen und noch ein wenig in ihrem Bett kuscheln wollte. Sie träumt, wie es damals gewesen war, nur sie und Paul und der Kleine …


Im Frühjahr 1947 hatte sie immer noch keine Nachricht von Heinrich, doch sie hoffte, dass er bald kommen würde. Sie war nun alleine mit Rolf, denn Paul hatte seine Erna geheiratet und lebte am anderen Ende der Straße. Um über die Runden zu kommen, hatte sie in ihrem Wohnzimmer eine Schneiderwerkstatt eingerichtet und nähte für andere Leute. Trotzdem reichte das Geld nicht wirklich und es war oftmals erschreckend kalt in der Wohnung; sie konnte sich einfach nie genug Kohlen kaufen. Rolf hatte eine Erkältung bekommen, sie hielt schon seit vier Wochen und es wollte und wollte nicht besser werden. Ende März, als es schon wärmer zu werden begann, gesellte sich der Husten hinzu. Der Junge sollte eigentlich eingeschult werden, konnte jedoch mit dieser Erkältung in keine Klasse aufgenommen werden.

Gerda hatte alle Hausmittel ausprobiert, die sie kannte und die ihr von Bekannten empfohlen worden waren. Nichts half lange; immer wieder kehrten die laufende Nase, der Husten zurück. Schließlich raffte sie sich dazu auf, mit dem Bus ins Nachbardorf zu fahren und den dort ansässigen Kinderarzt aufzusuchen. Der Bus fuhr nur unregelmäßig und manchmal gar nicht, doch an dem Tag hatten sie Glück. Pünktlich hielt der schnaufende Diesel an der Haltestelle und sie stiegen ein. Obwohl bereits Frühling in der Luft lag, wehte doch ein eisiger Wind und sie hatte den Jungen warm eingepackt, mit einem zusätzlichen Schal und einer dicken Wollmütze. Auch im Bus war es kalt und sie fror, bis sie nach einer Stunde endlich ankamen. Der Kinderarzt war ein sehr netter, sehr adretter und höflicher Mann. Er war von hochgewachsener Gestalt, hager und mit dichtem Haar. Seine grünen Augen musterten sie eindringlich, dann wandte er sich Rolf zu. Gerda zog ihm den Schal vom Gesicht.

„Er plagt sich schon ein paar Wochen, manchmal wird es besser, dann wieder schlechter. Und jetzt noch dieser Husten …“

Wie auf Bestellung keuchte der Junge ein paar Mal.

„Na, das hört sich ja gar nicht gut an. Dann komm mal her, setz dich hier hin … ja, genau da, und jetzt mal tief einatmen …!“

„Isst er genug? Scheint mir ein bisschen dünn auf den Rippen!“ meinte der Doktor, während er mit seinem Stethoskop Rolfs Rücken abhorchte.

„Seit er den Husten hat, nicht, na ja, Kohl und Kartoffeln sind ja auch nicht wirklich nach seinem Geschmack!“

„Dann erzähl mir doch mal, was du gerne isst? Magst du denn Pudding? Oder möchtest du gerne einen Apfel? Hier, ein Schokoladenbonbon, magst du so was?“

Rolf strahlte und stopfte sich die klebrige Süßigkeit gleich in den Mund.

Der Arzt ließ das Stethoskop sinken.

„Gott sei Dank, eine Lungenentzündung hat er nicht, aber die Bronchien sind ziemlich verschleimt; hier, ich gebe Ihnen etwas, das sollte ihm helfen. Können Sie nächste Woche noch einmal vorbei kommen?“

Gerda zögerte. Natürlich wollte sie, dass Rolf gesund wurde, aber noch so eine teure Fahrt mit dem Bus …

Der Arzt bemerkte ihr Zögern und fragte auch gleich, wo sie denn wohne.

„Ach so, das trifft sich gut, ich hab schon einige Patienten dort, ich sage Ihnen was; ich komme bei Ihnen vorbei, dann kann ich mir den Rolf noch mal anschauen und Sie brauchen die lange Fahrt mit dem Bus nicht noch einmal zu machen. Ist ein Weg, machen Sie sich keine Sorgen, Sie müssen für den Hausbesuch auch nichts extra zahlen, das wird schon …!“

So lernte Gerda Martin Rochland kennen. Und sie genoss seine Gegenwart, seine Aufmerksamkeit, seine Männlichkeit. Martin kam einmal in der Woche, anfangs um nach Rolf zu schauen, dem es kontinuierlich besser ging, doch er stellte seine Besuche auch nicht ein, als der Junge wieder gesund war. Und dann merkte sie, dass sie wieder schwanger war …


Fast erschrocken kehrt Gerda in die Gegenwart zurück. Sie sieht sich um; nein, sie ist alleine, niemand ist Zeuge ihrer Träume gewesen. Trotzdem ist sie verwirrt, sie hat Schwierigkeiten, die jetzige Gegenwart von der Vergangenheit zu trennen; wie lange ist das alles schon her? Letztes Jahr, zwei Jahre … nein, es muss länger her sein, denn sie erinnert sich daran, dass Ludwig vor wenigen Tagen noch hier war und der ist ja auch schon größer, sind da nicht auch schon Enkel? Und seine Frau, richtig, wie heißt sie noch gleich? Der Name will ihr nicht einfallen, Lotte … Lore … Luise … Verdammte Schmerzmittel, hoffentlich, hoffentlich … Und wieder driftet Gerda in die schmerzlose, selige und wunderschöne Traumwelt ihrer Vergangenheit zurück.


Als erstes vertraute sie sich Paul an, ihm konnte sie immer alles sagen und er würde sie verstehen. Sie wollte dieses Kind unbedingt haben; nach den schmerzlichen Verlusten am Anfang ihrer Ehe würde sie es austragen, komme da, was wolle. Doch sie wusste auch, dass sie sich, Heinrich und den kleinen Rolf vor bösen Zungen behüten musste. Nun, Gerede würde nicht ausbleiben, aber sie wollte dem vorbeugen, wenigstens so weit, dass es niemand wagen würde, öffentlich an Heinrichs Vaterschaft zu zweifeln. Paul hatte eine rettende Idee. Sie sollte der aktuellen „Straßenzeitung“ Irene, einer schrecklich geschwätzigen Nachbarin, „vertraulich“ mitteilen, dass sie ihren Mann besuchen würde, er habe eine Möglichkeit gefunden, für einige Stunden das bewachte Gelände zu verlassen, sie dürfe es aber niemandem sagen; nicht, dass der Plan verraten würde. Sie sehne sich so sehr nach Heinrich und wolle ihm doch endlich den Bub zeigen, das Pflegekind, er habe schon so oft nach ihm gefragt. Dann würde sie mit Rolf für einige Tage zu Tante Alma nach Königswinter fahren. So könne sie in einigen Monaten, wenn die Schwangerschaft sichtbar würde, eine plausible Erklärung für ihren Zustand haben und Irene würde das ihre tun. So würden nur Paul, Tante Alma und Heinrich die Wahrheit wissen. Ach, Heinrich, was würde er dazu sagen? Doch sie schrieb ihm die Wahrheit und bat ihn um Verzeihung. Heinrich schrieb zurück, er wisse immer noch nicht, wann er wieder nach Hause käme, aber wenn, dann freue er sich auf sie und die Kinder. Fast fünf Jahre war er nun fort; der Krieg war doch schon lange vorbei, warum nur konnte er nicht endlich nach Hause kommen? Er durfte jetzt jeden Monat zwei Briefe schreiben, wisse aber nicht, wie es weiter ginge. Wenn er wieder da wäre, würde sich schon alles zum Guten wenden, sie sollte sich keine Sorgen machen.


Gerda wird wach und sieht Rolf an ihrem Bett sitzen. Zuerst denkt sie, es ist Heinrich, aber dann fällt ihr ein, dass ihr Ehemann schon vor vier Jahren diesen Unfall hatte, damals, als das Auto ihn auf dem Fahrrad überrollte. Und dann wurde sie krank. War das vor oder nach Heinrichs Heimkehr gewesen? Ach nein, Heinrich kam ja im Frühjahr nach Ludwigs Geburt aus dem Lager wieder und dann hatte er eine Anstellung als Maler bekommen und sie hatte weiter genäht; ja, genau, und Ludwig und Rolf waren zur Schule gegangen … und Rolf sitzt nun hier und ist ein Mann … also ist das alles schon länger her.

„Hallo, Mutter …!“ sagt Rolf, doch sie driftet schon wieder davon.


Ludwig steht auf dem Krankenhausflur und zögert. Er will die Mutter besuchen, doch er fürchtet sich vor ihrem Anblick. Dieses knochige Häufchen Elend in dem viel zu großen Bett, die vielen Schläuche, der Geruch; nein, das ist nur noch die Hülle der lebenslustigen Frau, die er als seine Mutter kannte. Nimmt sie ihn überhaupt noch wahr? Die beiden letzten Male, als er hier war, ist sie nicht aufgewacht und er ist, beinahe erleichtert, nach nur zehn Minuten wieder gegangen, fast geflüchtet. Er setzt sich, steht wieder auf, läuft ein paar Schritte hierhin, dann dorthin; geht in die Cafeteria, trinkt einen Kaffee, kommt wieder, steht vor der Türe und kann sich nicht überwinden, hineinzugehen. Wie viele Wochen liegt sie nun schon hier, schwindet dahin, wird immer weniger. Als sie letzte Woche bei Bewusstsein war, da hat sie ihn immer so durchdringend angeschaut, als wollte sie ihm etwas sagen. Ludwig hat nur ihre Hand gehalten und zum Fenster hinaus geschaut. Aber was sollte sie ihm denn schon sagen wollen, es ist doch alles schon besprochen worden. Dass er und Rolf nun völlig zerstritten sind, das weiß sie glücklicherweise nicht und er wird es ihr auch nicht sagen.


Nun fasst er sich doch ein Herz und öffnet vorsichtig die Tür. Im Krankenzimmer der Mutter ist es still, die schmale Gestalt liegt reglos im Bett und ohne die Geräusche der Maschinen wüsste er nicht, ob sie noch atmet. Erleichtert und doch mit schlechtem Gewissen schließt er die Tür wieder und geht. Was bringt es, wenn er sich an ihr Bett setzt? Sie schläft oder ist bewusstlos, in jedem Fall merkt sie nicht, ob er da ist oder nicht.


Gerda öffnet die Augen, als sie den schwachen Luftzug von der sich schließenden Tür verspürt. Hoffnungsfroh schaut sie zur Tür, doch niemand ist da. Dabei hatte sie so sehr gehofft, dass ihr Sohn endlich kommen würde, denn sie hat sich ganz fest vorgenommen, wenn er das nächste Mal da ist, dann wird sie ihm die Wahrheit sagen. Sie wird ihm sagen, dass Heinrich nicht sein Vater war, sie wird ihm sagen, wie das damals wirklich war und sie wird ihm sagen, dass er noch zwei Halbschwestern hat; Martins Töchter, viel jünger als er, und sie wird ihm sagen, wo er seinen leiblichen Vater finden kann. Danach kann sie in Frieden einschlafen und sie hofft, dass sie nicht mehr aufwachen muss. Nicht mehr diese Schmerzen ertragen, die ständigen Medikamente, die Erniedrigung der Pflege durch fremde Hände. Sie wird ihrem Sohn auch das Versprechen abnehmen, mit seinem Wissen vorsichtig umzugehen und sie wird ihm sagen, dass sie nun sterben möchte. Keine weiteren Medikationen, keine weiteren Untersuchungen, bitte!!

Sie seufzt und schließt enttäuscht die Augen. Dann eben morgen; morgen wird er sicher kommen, morgen wird sie es ihm sagen, morgen wird alles entschieden sein, alles gesagt, alles getan. Und Rolf soll noch einmal kommen, einmal noch möchte sie ihn sehen, seine Hand halten, auch wenn er nicht immer der Sohn war, den sie sich gewünscht hatte, so war er doch immer ihr Sohn gewesen. Zufrieden und erleichtert, dass sie nun endlich die wichtige Entscheidung getroffen hat, gibt sie sich dem Schlaf hin, lässt sich fallen, tiefer und tiefer, und ihr letzter Gedanke ist – wo hatte sie das nur gelesen? – dass der Schlaf der kleine Bruder des Todes ist.


Der Anruf reißt Ludwig und Lilo um halb sechs Uhr morgens aus dem Schlaf. Die Stationsschwester informiert ihn darüber, dass seine Mutter an diesem Morgen um 5 : 05 Uhr verstorben ist. Gesagt? Nein, gesagt habe sie nichts mehr, sie sei einfach eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.


Der kostenlose Auszug ist beendet.