Buch lesen: «Mütter», Seite 3

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DÖRTE MÜLLER, geboren 1967, lebt zurzeit mit ihrer Familie in den Niederlanden. Sie schreibt Kurzgeschichten, Kinder- und Jugendbücher, die im AAVAA Verlag erscheinen.



Essen ist fertig

„Mami, gehst du mit mir aufs Klo?“

„Geh’ allein, ich koche gerade!“

„Allein traue ich mich aber nicht …!“

„Ich kann jetzt wirklich nicht mitkommen, ich bin gerade am Kochen …! Frag doch deine Schwester!“

„Nee, die frage ich nicht!“

„Katha, geh mal mit Max aufs Klo!“

Schnell runter in den Keller, ich brauch noch das Gemüse. Oje, die Milch kocht über … Was riecht hier so angebrannt? Jetzt das Pulver rein, Topf von der Herdplatte … Wo sind eigentlich die Bratwürstchen? Noch im Kühlschrank, stimmt ja!

„Mama, ich kann bald nicht mehr aufhalten!“

„Dann geh doch endlich! Es ist nicht gut, wenn man aufhält!“

„Ich habe aber Angst!“

„Angst? Vor wem denn?“

„Da ist ein Monster im Badezimmer!“

„Quatsch! Es gibt keine Monster! Und schon gar nicht um zwölf Uhr mittags … Katha, jetzt geh’ doch endlich mit Mäxchen auf die Toilette!“

„Hab’ keine Zeit, ich bin gleich auf Level drei!“

„Ich muss kochen! Kann mir jemand mal aus dem Keller das Gemüse holen? Der Pudding brennt gerade an! Ulrich! Hilf mir mal schnell mit den Kindern!“

„Elke, ich habe ein Problem. Hast du zufällig meine Brille gesehen? Eben hatte ich sie noch …!“

„Im Badezimmer … Ulrich, kommst du mal schnell?“

„Aber im Badezimmer ist sie nicht!“

„Katha, lauf mal schnell in den Keller!“

„Ich kann jetzt wirklich nicht, Mama! Wieso muss ich immer in den Keller?“

„Wollt ihr Kartoffelbrei oder lieber einfach nur Weißbrot zu den Würstchen?“

„Ich will endlich aufs Klo!“

„Na gut, aber dann schnell, schnell, beeil dich!“

„Nee, jetzt will ich nicht mehr!“

„Dann bleib eben da sitzen! Willst du lieber Kartoffelbrei oder Weißbrot?“

„Ich esse gar nichts! Doofe Mama!“

„Telefon! Kann mal einer dran gehen?“

„Hat jemand von euch meine Brille gesehen? Sie kann doch nicht weg sein …!“

Schnell noch den Tisch decken … die Würstchen sind gleich fertig. Jetzt noch Kartoffelbrei anrühren … wo ist mein Gemüse? Mist, ich muss ja noch in den Keller …!

„Kann mal einer das verdammte Telefon abnehmen?“ Dann geh ich eben selber.

„Meier? … Katha, ist für dich!“

„Mann! Jetzt bin ich draußen!“

(Etwa sieben Minuten später)

„Essen ist fertig!“

„Ohne meine Brille bin ich halb blind. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie furchtbar das ist …!“

(Etwa fünf Minuten später)

„Essen!“

(Etwa drei Minuten später)

„Alles wird kalt!“

„Ich habe meine Brille wiedergefunden. Stellt euch vor, ich hatte sie die ganze Zeit auf …!“

(Etwa zwei Minuten später – alle fassen sich an den Händen)

„Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb!“

„Mäxchen, jetzt komm unter dem Tisch hervor, die Pfütze machen wir später weg …!“


LUCI VAN ORG

Berlinerin Jahrgang 1971, trat schon im Alter von 12 Jahren als Sängerin in Blues-Clubs auf. Mit 16 unterschrieb sie ihren ersten Plattenvertrag, sang mit 19 als EENA den Titelsong zum Film Go Trabi Go und war nebenher Kunst- und Anglistikstudentin. 1994 wurde sie mit LUCILECTRIC (Mädchen) mal kurz zum gefeierten Popstar. Heute ist sie als Musikerin die weibliche Hälfte von MEYSTERSINGER und Bandleaderin von ÜEBERMUTTER. Wenn sie nicht gerade Musik macht, illustriert die praktizierende Heidin Bücher wie Thors Hammer -Ein Kinderbuch, schreibt Romane, Drehbücher oder Theaterstücke und ist Schirmfrau des VEID. e. V. Als verheiratete Mutter eines elfjährigen Sohnes hat sie die folgende Geschichte selbstverständlich vollkommen frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten zu realen Vorkommnissen und lebenden Personen sind unbeabsichtigt und wären rein zufällig.


© Victor Hildebrand


Weihnachten haben wir Sex

„Du …“

„ … Hmja?“

„Klingt jetzt vielleicht … irgendwie blöd, aber … sollten wir nicht … langsam mal wieder …?“

„Aber … unbedingt! Was dachtest du denn?“

„Phh … dass wir … halt schon sehr lange nicht mehr …“

„Sooo lange ja nun auch nicht.“

„Seit elf Wochen, genau genommen.“

„Das ist aber doch wohl nicht meine Schuld! Ich hatte neulich ja wohl nicht meine Tage?“

„Erstens habe ich gar nicht gesagt, dass das deine Schuld ist und zweitens kann ich ja wohl nichts dafür, wenn mir da unten was rausläuft.“

„Früher hat dich das auch nicht gestört.“

„Da war ich ja auch besoffen.“

„Du warst immer besoffen, wenn wir Sex hatten …?“

„Nein, Mann! Nur wenn ich gleichzeitig auch meine Tage hatte. Nach drei Gin Tonic tat der Bauch nicht mehr so weh.“

„Wir haben noch Gin. Von Silvester.“

„Ich hab aber nicht meine Tage.“

„Du hast doch gerade gesagt, wir sollten mal wieder.“

„Aber doch nicht so!“

„Besser so als gar nicht.“

„Maaann! Wenn wir schon nur noch alle paar Wochen, dann doch wohl bitte nicht so zwischen Tür und Angel.“

„Wir können ja morgen noch mal richtig.“

„Sehr witzig, morgen ist Elternabend in der Kita. Beim letzten Mal konntest du dich danach drei Tage nicht mehr bewegen vor Rückenschmerzen.“

„Diese Zwergenstühle sind eben nix für ‘n Einsneunzig-Mann.“

„Heißt das, ich muss alleine da hin?“

„Och, bitte! Wenn du wiederkommst, erwarte ich dich auch nackt unter der Decke und vom gesparten Geld für den Kindersitter kaufen wir ne Flasche Wein.“

„Nüchtern wäre das ja auch nicht zu ertragen.“

„Was?“

„Echt mal, ich meine, kannst du dir vorstellen, noch geil zu werden, nachdem du dich vorher zwei Stunden über Laternenumzüge, Kuchenbasar und prügelnde Vierjährige unterhalten hast? Und dann dieser Geruch. Gekochte Möhren und Kinderkacke. Da musst du ne Stunde am Stück duschen, bis das wieder weggeht.“

„Kannste doch machen. Und hinterher kommst Du nackt zu mir ins Bett.“

„Dann isses aber elf.“

„Ja, und?“

„Max muss am Donnerstag um halb acht in der Kita sein. Die fahren doch da auf diesen Bauernhof.“

„Von elf bis halb acht ist ne Menge Zeit.“

„Wir müssen aber spätestens um halb sechs aufstehen, wenn wir pünktlich sein wollen.“

„Wollen wir denn?“

„Also wirklich! Max freut sich total auf den Ausflug!“

„Und wenn schon. Früher haben wir doch auch bis Sonnenaufgang durchgefickt und sind danach arbeiten gegangen.“

„Sagt der, der morgens neben das Klo pinkelt, weil er im Stehen noch schläft …“

„Sagt die, die beim Vorabendprogramm aufm Sofa einpennt …“

„Da muss man wenigstens nix putzen danach.“

„Nur falls es dich interessiert, jetzt habe ich auch keinen Bock mehr.“

„Dann bin ich ja beruhigt.“

„Darf ich dich nochmal daran erinnern, dass du mit dem Thema angefangen hast?“

„Ich habe gesagt, wir sollten ‘mal wieder’. Nicht ‘jetzt sofort’.“

„Gut, bitte, mach doch n Vorschlag.“

„Freitagabend. Wir könnten Max früh ins Bett bringen und den Wäschetrockner anmachen, damit er nichts hört.“

„Und wenn wir wieder neben Max einschlafen? Wie letzten Samstag?“

„Dann machen wir es, wenn wir wieder aufwachen.“

„Nach ner halben Nacht im Kinderbett? Ich hab von der letzten jetzt noch Rückenschmerzen.“

„Sind Rückenschmerzen jetzt die Migräne das Mannes, oder was?“

„Glaubst du etwa, ich will mich drücken? Nein, will ich nicht! Ich will Dich! Ich finde dich sexy!“

„Ich dich doch auch!“

„Ich bin nur …“

„ … so müde. Ich weiß. Ich doch auch.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Jetzt bin ich aber irgendwie erleichtert.“

„Wieso?“

„Weil ich dachte, nur ich hab keinen Bock. Ich hab mich halt … schuldig gefühlt, irgendwie.“

„Brauchst du nicht. Echt nicht. Ich meine, ich hab ja auch keinen B …, also … du weißt schon.“

„Ja, natürlich. Schlaf gut, Schatz. Ich liebe Dich.“

„Ich dich auch. Gute Nacht.“


„Und … wenn wir ausschlafen und den Wäschetrockner am Samstagmorgen anschalten?“

„Ja, morgens wär super! Da sind wir dann ja auch wieder fit.“

„Alles klar! Also waschen wir einfach abends noch was und stopfen es nach dem Aufwachen gleich in die Trommel.“

„Und davon wacht Max dann auf und kommt rein.“

„Wieso?“

„Der Trockner läuft doch sonst nie so früh.“

„Und wenn schon. Dann erkläre ich ihm einfach, dass es Mama gar nicht schlecht geht, obwohl sie so schreit.“

„Wenn Max plötzlich beim Ficken reinkommt, geht’s mir aber schlecht.“

„Dann schließen wir eben die Tür ab.“

„Als ob du noch einen hochkriegst wenn du weißt, dass dein Sohn an der Tür lauscht.“

„Vielleicht hast du Recht. Ich meine, ich will ja auch nicht, dass er Angst bekommt.“

„Angst?“

„Na, Mama quiekt und kreischt so komisch und die Tür ist zu. Also mir wäre das nicht wirklich geheuer gewesen, so mit vier.“

„Als ob du dabei keine Geräusche machst.“

„Nicht so laute wie du.“

„Von wegen! Kurz bevor du kommst, bist du total laut.“

„Wie bitte? Das würde ich doch wohl mitkriegen.“

„Tust du aber nicht.“

„Also echt! Ich werde ja wohl am besten wissen, was ich für Geräusche …“

„Und wieso wache ich dann nachts immer auf, wenn du kommst?“

„WAS?“

„Nu werd doch nich gleich rot. Ich mach‘s mir doch auch ab und zu, wenn ich nicht schlafen kann.“

„Wirklich?“

„Klar, du wachst davon nur nie auf.“

„Obwohl du immer so schreist?“

„Mache ich dann doch gar nicht.“

„Wie? Du kannst das auch … ganz ohne?“

„Vergiss es. Ohne Ton macht’s absolut keinen Spaß.“

„Warum tust du’s dann?“

„Was soll ich denn sonst machen, wenn wir wochenlang nicht ficken?“


„Und wenn wir es machen, nachdem wir Max in den Kindergarten gebracht haben?“

„Im Auto vor der Arbeit?“

„Viele Menschen vögeln im Auto.“

„Wenn sie keine eigene Wohnung haben.“

„Haben wir ja auch nicht mehr. Irgendwie …“


„Wir müssen es einfach schaffen, dass Max endlich auch mal bei Finn pennt und nicht diese kleine Kröte nur jedes zweite Wochenende bei uns.“

„Max will aber nun mal nicht woanders schlafen.“

„Warum zählt immer nur, was Max will? Man muss Kindern auch mal Grenzen setzen.“

„Das mit dem Abholen machst du dann, wenn er abends um Elf immer noch heult.“

„Bei Oma hat er immer gern geschlafen.“

„Hör auf! Wenn ich da dran denke fang ich an zu heulen.“

„Tut mir leid.“

„Wie schnell das alles ging. Nicht zu fassen.“

„Dieses Arschloch!“

„Phhh … Gerald ist aber schon sehr nett zu Oma. Und auch zu Max.“

„Nett? Den Platz in Omas Bett hat er ihm weggenommen, der Scheißkerl!“

„Erstens kann Gerald nichts dafür, dass Max woanders noch nicht alleine schläft und zweitens ist Oma total aufgeblüht, seit er da ist. Gestern waren sie bei ner Grateful-Dead-Covershow und haben zusammen einen gekifft, hat sie erzählt.“

„Während wir hier festhängen. Streu nur Salz in meine Wunden.“ „Wir werden uns dran gewöhnen müssen. Ich meine, vierundachtzig ist ja kein Alter, heutzutage.“


„Du …?“

„Ja?“

„Klingt jetzt vielleicht bisschen blöd, aber … Lina und Martin gehen doch immer in diesen Swinger-Club drüben an der Ecke.“

„Vergiss es!“

„Nun sei doch nicht so verklemmt.“

„Bin ich doch gar nicht. Es ist nur …“

„Was..?“

„Oma und Gerald gehen da hin.“


„Es reicht! Gerald muss weg!“

„Wie willst du das denn machen?“

„Was weiß ich! Koks, Geld, Nutten …, jeder Mensch ist käuflich.“

„Und Oma heult sich die Augen aus.“

„Ach, komm! Die sagt doch selbst immer, dass es in Geralds Alter jeden Moment vorbei sein kann und dass jeder Tag ein Geschenk ist und so.“

„Einen Mann zu Grabe tragen ist aber was anderes, als von ihm verlassen zu werden.“

„Echt?“

„Warte mal!“

„Was denn?“

„Gerald ist Diabetiker!“

„Ja, und?“

„Und wenn er Mittagsschlaf macht, schafft es nicht mal Max, ihn aufzuwecken. Ich meine, so‘n kleiner Pieks is ‘n Scheiß gegen Max.“

„Was …?“

„Ne Überdosis Insulin kannste nicht nachweisen, Mann! Vollkommen sichere Sache.“

„Sag mal, verstehe ich das gerade richtig, dass du …? Das wäre Mord!“

„Aber Gerald wäre weg.“

„Und Oma?“

„Die hat bisschen Stress mit der Beerdigung und Weihnachten ist alles wieder gut.“

„Meinst du?“

„Klar. Und man soll ja auch aufhören, wenn’s am schönsten ist.“


„Weihnachten ist erst … in sieben Monaten.“

„Weißt Du noch letztes Jahr? Da hat Max am Dreiundzwanzigsten bei Oma übernachtet und Heiligmorgen hatten wir so richtig geilen, entspannten Sex.“

„Wir … sind Ostern bei denen eingeladen, oder?“

„Jepp.“

„Und Weihnachten … haben wir dann Sex?“

„Ja. Weihnachten haben wir Sex.“


CHRISTIAN KRUMM

geboren 1977 in Krefeld, ist promovierter Historiker und Heavy-Metal-Autor. Seine Bücher geben Einblicke hinter die Kulissen der Szene und stets ist er auf der Suche nach Themen, die bislang unbeachtet geblieben sind. Zusammen mit Holger Schmenk schrieb er 2010 Kumpels in Kutten. Heavy Metal im Ruhrgebiet, ein Buch über die Szene der Metal-Metropole Ruhrpott. Das Buch Do It Yourself. Die Geschichte eines Labels (2012) portraitiert die Dortmunder Plattenfirma CENTURY MEDIA. Dass der Metal auch exzellenten Romanstoff bietet, bewies er mit At Dawn They Sleep (2014). Mit Morgoth Uncursed lieferte er 2015 in der Edition Roter Drache seine ersten Bandbiografie ab. Zeitgleich mit dieser Anthologie erscheint im gleichen Verlag sein Buch Traumschrott, eine Sanmmlung mit 12 Kurzgeschichten.



Das wundersame Bild

Die blonde Frau in den übergroßen Jeans und der weiten Joggingjacke wurde von dem Polizisten aufgefordert, sich zu erheben und zog damit die Aufmerksamkeit des jungen Thor auf sich. Während er sie durch das Schaufenster mit der Aufschrift „Antiquariat Koreander“ beobachtete, fiel ihm auf, dass ihr blondes Haar unter ihrer grauen Stoffmütze herausragte. Es schimmerte rotgolden in der winterlichen Nachmittagssonne, was einen eigenartigen Kontrast zu ihren Ringen in der Nase, den Lippen, den Ohren und den Augenbrauen bewirkte. Sie muss ein schwieriges Leben haben, dachte Thor, und alleine die Tatsache, dass die Frau kein Geld von ihm haben wollte, hinterließ bei ihm ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Es mochte wohl in der ganzen Stadt keinen sensibleren Menschen gegeben haben als ihn, und unglücklicherweise hatte ihm seine Mutter beigebracht, dass man immer selbst daran schuld war, wenn man zurückgewiesen wurde.

Während Thor noch dem Polizisten und seiner unfreiwilligen Begleitung nachsah, griff der alte Herr Koreander nach dem elektronischen Bilderrahmen, der auf einem Tisch zwischen einer überteuerten Ausgabe von Kellers „Die Leute von Seldwyla“ und einer strahlend weißen Reiterfigur Friedrichs des Großen stand.

„Na, mein Junge“, sagte der Trödler, „willst du tatsächlich dieses alte Ding? Und zwanzig Euro sind dir nicht zu teuer? Für ein wenig mehr bekommst du einen neuen.“

„Ja, ich finde es schön, es passt in mein … in meine Wohnung.“

„Soso, in deine Wohnung. Ich dachte, du wohnst noch bei deiner Mutter.“

Mutter, schon wieder musste Thor an seine Mutter denken und natürlich fielen ihm dabei die Wurstbrote wieder ein, die noch in seinem Rucksack lagen. Herr Koreander ging langsam hinter die mechanische Kasse und hämmerte mit seinen knorrigen Zeigefingern auf die Tasten ein. Thor hatte die Brote wieder nicht gegessen, weil er die Wurst schon lange nicht mehr mochte. Doch hielt er seine Mutter für zu sensibel, als dass er es ihr hätte sagen können. Immerhin handelte es sich bei diesen Broten um eine seiner wenigen noch erhaltenen Gewohnheiten aus der Zeit, da sein Vater noch bei ihnen gewohnt hatte. Es gab darüber hinaus nicht viel, an das sich seine Mutter erinnern konnte, ohne dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Deshalb nahm Thor die Brote noch immer jeden Tag mit.

„Die Besitzer dieses Rahmens haben den Preis festgesetzt“, sagte Herr Koreander, „sie bestanden darauf. Er stand lange im Schaufenster. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das Ding für diesen Preis nicht loswerde. Aber sie sagten, das wäre nicht schlimm. Dieses Ding sei ein Fluch, sagten sie. Es könnte ruhig für immer hier bleiben.“

„Stimmt denn etwas damit nicht?“

„Nun, wer weiß? Vielleicht ist er von Dämonen besessen. Aber mach dir keine Sorgen. Die ganze Familie war noch gesund und wohlauf. Sie sagten nur, es sei nicht gut, diesen Rahmen im Haus stehen zu haben. Ganz besonders nicht für junge Männer.“

„Und warum?“

„Ja, das weiß der Himmel. Wenn du mich fragst, Junge, dann müssen Sachen nicht hundert Jahre alt sein, um verzaubert zu sein. Glaub mir, unsere Welt hat ihren Zauber nicht verloren. Die meisten Menschen sind nur blind dafür geworden. Es gibt bestimmt einen Grund, warum sie den Rahmen zurückgegeben haben. Weißt du was? Ich verkaufe ihn dir für fünf Euro. Die tauchen ohnehin nie wieder hier auf und wenn doch, sage ich ihnen, er sei gestohlen worden.“

„Ja, wenn das geht.“

„Natürlich. Es ist ein alter Digitalrahmen, für Leute in Deinem Alter gehört so ein Ding wahrscheinlich ins Museum. Also, fünf Euro und er gehört dir.“

Herr Koreander gab Thor eine löchrige Plastiktüte mit der Aufschrift „Metzgerei Honigblut“, kehrte ihm den Rücken zu und beugte sich ohne ein weiteres Wort über sein Kassenbuch. Er zählte nicht einmal die Münzen, die Thor ihm auf die kleine Plastikschale neben der Kasse gelegt hatte – was den jungen Mann, der mit einem auffordernden „Auf Wiedersehen“ den Laden verließ, zwangsläufig denken ließ, der alte Trödler hätte sich nur für ein Verkaufsgespräch so nett und redselig gegeben. Eine solche Kaltblütigkeit, dachte Thor, ließe sich niemals mit dem feinsinnigen Gespür für alte Dinge in Einklang bringen, das ein Trödler von Natur aus haben müsse, und er kam nicht umhin, sich trotz des Preisnachlasses betrogen und ausgenutzt zu fühlen.

Auf die Passanten, die sich in den Abendstunden noch in den Straßen aufhielten, muss Thor einen seltsamen Eindruck gemacht haben. Er hielt das in Plastik eingewickelte Ding wie ein Tablett vor sich und schritt bedächtig über die große Straße, ohne das Läuten der Straßenbahn zu bemerken, die ihn um nur knapp drei Meter verfehlte. Erst als er an der Metzgerei Honigblut vorbeikam, verflog das beklemmende Gefühl und die Freude über den Bilderrahmen stieg. Wahrscheinlich war Herr Koreander einfach zu beschäftigt gewesen und hatte ihn deswegen ohne viele Worte aus dem Laden gehen lassen.


Zuhause an seinem Schreibtisch legte er die Wurstbrote neben sich, um sie noch zu essen, bevor seine Mutter ihn zum Abendessen rufen würde. Doch er vergaß sie bald, wie er auch den Rest der Welt um sich stets vergaß, wenn er als „Aegon Targaryen“ einen Text in einem der vielen Internet-Foren für Fantasygeschichten und Rollenspiele schrieb, galt er doch in diesen Kreisen als eine maßgebliche Autorität. Mittlerweile existierten, fein säuberlich nummeriert, an die hundert Profile mit seinem Namen. Aber bis auf „Aegon Targaryen42“, der über gewisse Aspekte esoterischer Fragen zu den Religionen der HALO-Allianz äußerst umfassend informiert war, hatte keiner je einen solchen Status erreicht wie Thor. Heute ging es um die vorab veröffentlichte Betaversion der sechsten World-Of-Warcraft-Erweiterung „Legions“, über deren Qualität man sich innerhalb unterschiedlicher Communities stritt. Der Bilderrahmen stand zwischen seinen Schätzen, die auf den Kommoden und Regalen seines Zimmers aufgereiht waren: Figuren und Bilder von Sagengestalten mystischer Welten, Tiere, Menschen, Elfen, Zwerge, Ungeheuer und tapfere Krieger. Alles, was diese bestimmte Sehnsucht in ihm auslöste; alles, was ihn sich fragen ließ, warum die Wirklichkeit nicht genau so faszinierend und voller Zauber sein konnte, wollte er stets um sich haben.

Erst nach dem Abendessen, als er sicher war, dass seine Mutter nun nicht mehr in sein Zimmer kommen würde, begann er damit, Fotos auszusuchen und spann bis tief in die Nacht schöne Geschichten um sein Leben herum, in denen er mutig, klug, geachtet und begehrt war.


Als Thor am nächsten Morgen aufwachte, sah er verträumt auf die wechselnden Bilder des Rahmens; die vielen Fotos von Rollenspielen, Conventions und Network-Partys. Sein Kopf lag schwer auf seinem Unterarm, während er die Abende in sein Gedächtnis zurückrief, wie bei einer Hommage, die auf ihn anlässlich der Auszeichnung für sein Lebenswerk gehalten wurde. Als der Rahmen schließlich eine Serie von Bildern der letzten Spielemesse zeigte, die er unsortiert eingefügt hatte, erhob er sich und ging in die Küche. Ein Zettel seiner Mutter lag auf dem Tisch. Er beugte sich neugierig darüber und stellte fest, dass es sich um eine Einkaufsliste handelte. Zu seinem Unmut hatte seine Mutter wieder ‚Wurst‘ mit aufgeschrieben. Ganz unten war außerdem der Satz notiert: „Thor einen Zettel schreiben“, und er bekam für einen kurzen Moment ein schlechtes Gewissen, weil sie sich doch solche Mühe gab. Dann erinnerte sich Thor wieder daran, was er in der Küche wollte, nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und ging wieder in sein Zimmer. Schon im Türrahmen hielt er inne. Etwas fehlte auf seinem Schreibtisch. Dort, wo er gestern die Wurstbrote hingelegt hatte, stierte ihn nur noch Darth Vader von seinem Mousepad entgegen, als wollte er sagen: Auch wenn Du es Dir noch so wünschst, ich bin nicht Dein Vater. Ja, dachte Thor, dabei hätte ich von Darth Vader als Vater wenigstens noch etwas lernen können, statt nur, wie man seine Mutter von ihrer gescheiterten Ehe ablenkt. Er nahm einen Schluck Cola und wollte fast würgen. Sie schmeckte abgestanden und bitter.

Während er noch überlegte, wie er seiner Mutter erklären sollte, warum er die Brote nicht gegessen hatte, wechselte der Rahmen auf seiner Kommode wieder das Bild. Thor erstarrte, als er es sah. Das Foto, das nun nach den Spielemesse-Bildern angezeigt wurde, war keines aus seiner Sammlung. Unverkennbar war er selbst die Person auf dem Bild, doch saß er in einer mittelalterlichen Kriegsmontur auf einem sich aufbäumenden Pferd. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Kampfeslust und Siegeswillen, sein Schwert schien – vielmehr als eine Waffe – ein Werkzeug der Gerechtigkeit und des Anstands zu sein. Es war eine Szenerie, die in der realen Welt so niemals stattgefunden hatte, höchstens in seinen Träumen. Er und sein Pferd waren eins, gleich einem Zentauren, und jeder musste wissen, dass, sobald er das Schlachtfeld betreten würde, die Schlacht unwiederbringlich entschieden war.

Je länger er das Bild ansah, desto unwirklicher kam es ihm vor, bis er zuletzt selbst vor den Spiegel in seinem Zimmer trat, um ganz sicher zu gehen, dass er und der Mensch auf dem Pferd tatsächlich wesensgleich waren. Es bestand kein Zweifel.

Als seine Mutter vom Einkaufen nach Hause kam, überfiel sie ihn wie üblich mit etlichen Erzählungen; dass sie sich Sorgen um seinen Appetit mache, dass der neue Bilderrahmen ihr gefiele, obwohl sie nichts von diesem ganzen Elektronikkram verstünde und dass ihr neuer Nachbar geklingelt und mit ihr einen Kaffee getrunken habe. Thor hörte diese Geschichten und es war, als erlebe er sie durch ein Fenster aus einer anderen Welt, als säße er als Herr auf seinem Schloss und lenke sich nur ein wenig ab, bis er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten widmen musste.


Dieses Gefühl begleitete ihn noch immer, als er schließlich zur Universitätsbibliothek kam, wo er neben seinem Germanistikstudium mit Schwerpunkt Mittelalterliche Literatur als EDV-Berater arbeitete. An seinem Arbeitsplatz angekommen, fand er seine Kollegen Hendrik und Vanessa in Aufruhr vor. Das zentrale System war abgestürzt. Während Hendrik sich um die zahlreichen Beschwerden kümmerte, versuchte Vanessa sich an einer ersten Diagnose. Die Schlange der Studenten, die wegen ihres VPN-Clients oder ihrer Mailquota um Rat fragen wollten, wurde immer länger. Von hinten riefen die Ersten, wann es denn endlich einmal weiterginge. Einige schimpften, wieder andere machten sich über die Unfähigkeit der Angestellten lustig. Als Thor Vanessas Gesicht sah, hatte sie Tränen in den Augen. Direkt vor ihr stand ihr Ex-Freund, mit dem sie erst vor ein paar Tagen Schluss gemacht hatte, zeterte laut und sah Vanessa dabei mit vor Wut verzerrtem Gesicht an. Da ging Thor hinter dem Beratungstisch hervor, stellte sich vor die versammelte Meute und rief:

„So, Leute, wir haben hier Probleme mit dem Server, falls es jemand noch nicht mitbekommen hat. Wir wissen noch nicht, woran es liegt oder was genau kaputt ist. Im Moment können wir eure Anfragen nicht bearbeiten. Also macht irgendetwas anderes, geht in die Cafete oder in die Lesesäle, ihr müsst eben einen Nachmittag mal ohne Internet auskommen.“

In der Menge tuschelte es und einige riefen immer noch Beschwerden. Doch Thor wich nicht von der Stelle und nach und nach verschwanden die Studenten, bis schließlich der Platz vor dem Beratungstisch leer war. Hendrik sah verwundert aus und Vanessa lächelte Thor an.

„Hendrik, lass das Telefon erst einmal klingeln“, sagte Thor, „versuch, jemanden von der Serverfirma zu erreichen. Vanessa, du überprüfst mit dem Diagnosetool, ob ein Software-Fehler vorliegt und ich gehe in den Serverraum und schaue, ob dort alles in Ordnung ist.“

Im Serverraum fand Thor sofort die Ursache für die Störung. Eine Ratte hatte sich dort eingenistet und einige Kabel angenagt. Nachdem er die Kabel ersetzt und die Ratte in die Freiheit entlassen hatte, ging er über den Campus zurück zur Bibliothek. Er spürte einen Anflug von der Energie, die ihn häufiger beim Schreiben eines Forumsbeitrags befiel; ein unzweifelhaftes Gefühl, dass die Dinge nur so sein konnten, wie er sie sah, und nicht anders, als müsse man sie nicht mehr überdenken.

Mitten in diesem Moment der Klarheit begann sein Herz plötzlich kräftiger zu schlagen. Von weitem sah er Fiona Gratmüller auf sich zukommen. Sie war die schönste Frau auf dem Campus und seit Monaten heimlich Thors heftiger Schwarm. Er senkte den Kopf und schaute aus dem Augenwinkel auf ihr blondes Haar und den eleganten Schwung, mit dem sie ihre mit den Buchstaben „LV“ bedruckte Tasche am Ende ihres Armes baumeln ließ. Einen einzigen Wortwechsel hatte es bisher zwischen ihnen gegeben, als sie ihre Unterlagen mit den Worten „Kannst du da mal eben drauf aufpassen?“ auf Thors Arbeitstisch gelegt hatte und sofort weitergegangen war. Auf dem obersten Papier hatte er ihren Namen gelesen. Das Blut war ihm in den Kopf geschossen, als sie ein paar Minuten später alles wieder abholte und ihm bezaubernd lächelnd ein „Danke“ zuhauchte. Seitdem sah er sie fast jeden Tag am Kopierer stehen, und von seinem Schreibtisch aus musste Thor sie einfach anschauen, so oft es möglich war. Nun begegneten sie sich außerhalb der Bibliothek und da sonst kein Mensch zu sehen war, mussten sie sich unweigerlich beachten. Er konnte sehen, dass sie den Kopf gesenkt hielt, während sie auf ihn zukam. Bloß nicht hinschauen, aber es auch bloß nicht verpassen, falls sie schaut, schoss ihm immer wieder durch den Kopf. Er wollte es und wollte es nicht, kam sich klein und unbedeutend vor angesichts dieser Frau, die ihn eigentlich gar nicht ansehen konnte, ansehen sollte, weil … nun, der Grund lag wohl im Aufbau dieses Universums selbst, das so viel weniger magisch war, als all die anderen, die Thor kannte. Wieso nur war ausgerechnet er im unmagischsten aller existierenden Universen gelandet? Fiona hatte sich bis auf wenige Meter genähert, da schaute sie plötzlich hoch und lächelte. Thors Herz schien stehen zu bleiben und er quetschte ein heiseres „Hallo“ aus seiner Kehle. Als er daraufhin auf ihren Lippen eine leichte Bewegung sah, die ein „Hallo“ zu formen schien, strömte ein wohliger Schauer durch seinen ganzen Körper. Er sah ihr noch einmal hinterher und war sich sicher, dass auch sie sich kurz zuvor nach ihm umgedreht hatte.


„Jetzt, da mein Ex endlich weg ist, können wir uns wieder häufiger treffen“, sagte Vanessa, als sie später nebeneinander an ihren Arbeitstischen saßen und Ruhe eingekehrt war, „das war ja fürchterlich mit seiner Eifersucht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich nur zuhause gesessen.“

„Wir haben uns ja immerhin noch auf der Arbeit gesehen.“

„Ja, aber das wird jetzt wieder anders. Lass uns wieder DVD-Abende machen, so wie früher. Du warst der einzige, mit dem das wirklich Spaß gemacht hat.“

Thor erinnerte sich gut an die Abende mit Vanessa, nachdem sie seine Arbeitskollegin geworden war: die gemeinsame Zeit auf dem Sofa; das Beobachten, das Näherrutschen, die Hoffnungen und Träume, die diese Abende immer wieder in ihm genährt hatten und die vielen Stunden, in denen er sich Gedanken darüber gemacht hatte, wie er Vanessa dazu bringen könnte, sich in ihn zu verlieben. Als er sie kennengelernt hatte, konnte er es kaum glauben, wie perfekt sich ihre Vorlieben und ihre Charaktere ergänzten. Doch letztlich war es nur Schmerz. Immer wieder. Thor musste an das Bild vom „Dies Academicus“ denken, das er in seinem Bilderrahmen gespeichert hatte. Es war das einzige, auf dem er und Vanessa zusammen zu sehen waren und der Tag, an dem das Bild entstanden war, für ihn der Höhepunkt einer Reihe von Treffen mit ihr. Er hätte schwören können, dass es sich jenes Mal um eine Art Rendezvous gehandelt hatte. Wie gut erinnerte er sich noch an das schwarze Kleid, das sie getragen und um wie viel hübscher sie dadurch auf ihn gewirkt hatte. In einem Festzelt auf dem Campus war eine Leinwand aufgebaut gewesen, weil ein Spiel der Weltmeisterschaft in Brasilien übertragen wurde. Sie saßen nebeneinander. Vanessa sang aus vollem Hals „Atemlos durch die Nacht“ und hatte den Arm um ihn gelegt; das erste und das letzte Mal. Danach hatte sich ein Poetry-Slammer neben sie gesetzt und sie die nächste Zeit so gut unterhalten, dass die beiden zur zweiten Halbzeit des Spiels nicht mehr zurückgekommen waren. Die Beziehung hatte nicht lange gehalten, ebenso wie die mit ihrem letzten Freund. Doch Thors Hoffnungen, ihre gemeinsamen Interessen würden die perfekte Basis für eine Beziehung bilden, wie so viele Frauen in so vielen Situationen ja immer wieder betonten (obwohl sie genau wie Thor sehr gut wussten, dass sie hier nur einem Idealbild zusprachen und in Wahrheit sehr viele niedere Instinkte ihre Auswahl diktierten), waren mit jeder von Vanessas Kurzzeitbeziehungen mehr und mehr ausgeblutet. Irgendwann hatte er sie aufgegeben.