Buch lesen: «Mütter», Seite 2

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ISA THEOBALD lebt und arbeitet im Saarland, wo sie neben dem Schreiben auch noch kocht, Krimi-Dinner veranstaltet, Seifen siedet, mit Feuer tanzt, absonderliche Hobbys und ebensolche Menschen sammelt und im Großen und Ganzen sehr viel Freude am Leben hat. Geschichten von ihr sind unter anderem erschienen bei Ubooks, Verlag Torsten Low, UlrichBurger-Verlag, Charon-Verlag und Feder & Schwert.



Paula

„Eine kleine Dickmadame

Fuhr mal mit der Eisenbahn

Eisenbahn die krachte

Dickmadame die lachte“

Paulas Hände tanzten wie kleine Vögel durch die Luft, trafen Mamas Hände im perfekten Moment, während ihre Stimme quietschend immer lauter und schneller wurde. Mama hielt mit, sang lachend den Reim, bis Paulas Zunge sich verknotete und Mamas Hände die ihren in der Luft fingen – und hielten. Strahlend warf das achtjährige Mädchen sich in die Arme der dunkelhaarigen Frau und beide lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.


„Du warst wieder in diesem Haus.“ Die Stimme ihres Vaters klang hart und kalt, seine Augenbrauen waren so fest zusammengezogen, dass sie sich fast an der Nasenwurzel trafen. Paula schaute zu Boden.

„Schau mich an, Kind. Du brauchst es nicht zu leugnen, man sieht es deutlich genug an deinem Kleid.“ Paula starrte auf die staubig-grauen Flecken, die sich über den Saum des cremefarbenen Spitzenkleides zogen und wie verräterische Finger auf ihr leuchtend rotes Gesicht zu weisen schienen. Papa seufzte.

„Paula. Ich habe es Dir schon tausendmal erklärt.“ Er erstarrte, als das kleine Mädchen sich mit verkniffenem Gesicht die Ohren zuhielt. „Paula!“ brüllte er und zog ihre Arme nach unten.

Das Kind blickte ihn mit tränennassen Augen an.

„Paula, dieses Haus ist gefährlich.“, setzte er erneut an; bemüht, seine Stimme ruhig zu halten.

„Ist es nicht.“ Leise, aber bestimmt.

„Ein-sturz-ge-fähr-det!“ antwortete er und betonte jede Silbe, als ob sie taub wäre. Oder dumm. „Verstehst Du, was das heißt, Kind? Das bedeutet, dass der alte Kasten jederzeit in sich zusammenfallen kann.“ Seine Stimme wurde wieder lauter. Paula sah in sein Gesicht. Sie hatte dieses Gesicht einmal geliebt – die großen, braunen Augen unter den buschigen Brauen, der gewaltige Schnauzer, der zitterte wie ein ängstliches Tier, bevor der Papa lachte – oder brüllte. Früher hatte er nie gebrüllt. Früher. Vor der Frau.

„Ich bin dort sicher.“ entgegnete sie ihm.

„Bist Du nicht, Herrschaftszeiten! Egal, wie gut Du klettern kannst, wenn das Dach zusammenbricht, bist Du ganz sicher nicht sicher!“ Da. Da zitterte der Schnauzer. Gleich würde er wieder laut werden. Dann war es ja jetzt auch egal.

„Mama würde das niemals zulassen.“

Papa plusterte sich auf, schien immer größer zu werden. Paula stand ganz still, blickte zu Boden; gewillt, das Donnerwetter über sich hinweg gleiten zu lassen. Als aber kein Laut kam, blinzelte sie von unten herauf durch die Wimpern und beobachtete entsetzt, wie Papa in sich zusammenzufallen schien und immer kleiner wurde. Sein Schnauzer zitterte, aber nun schien er die lediglich Tränen einfangen zu wollen, die über Papas bleiche Wangen liefen. Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste nichts zu sagen. Erwachsene weinten normalerweise nicht. Und Papa schon dreimal nicht. Aber jetzt war Paula verwirrt. Sie fürchtete sich. Papa schien etwas sagen zu wollen; er rang mit Worten, die einen Weg über seine Lippen hinweg zu suchen schienen, doch der Schnauzer hielt sie auf. Sein gebeugter Rücken streckte sich, er schüttelte sich unmerklich, gewann seine Fassung zurück und schickte Paula auf ihr Zimmer. Sie folgte, ohne Widerworte.


Paula saß mit untergeschlagenen Beinen vor ihrem Puppentisch. Das Teeservice hatte Staub angesetzt, ebenso wie das spitzenbesetzte Kleid der Puppe. Elise. Früher war Elise immer bei ihr gewesen, immer in ihren Armen. Früher. Vor der Frau.

Die Stimmen im Salon klangen angespannt. Aus dem unverständlichen Murmeln waren Worte geworden, die Paula nicht mehr aussperren konnte. Die Stimme der Frau fräste sich ihren Weg durch die verschlossenen Türen.

„Franz. Das Kind braucht Hilfe!“

„Sie ist nicht krank!“

„Nein. Sie ist nicht krank, sie ist verstört.“

„Meine Tochter ist nicht verrückt!“ Jetzt hatte der Schnauzer ganz sicher gezittert. Doch die Frau wich nicht zurück.

„Ach, ist sie nicht? Wie oft hast Du ihr denn schon verboten, sich in dieser Bruchbude herumzutreiben? Warum kehrt sie denn immer wieder dorthin zurück?“ Paula schlug sich die Hände über die Ohren, doch die Stimme der Frau schraubte sich immer höher. Schrill zwangen sich die Worte zwischen den zusammengepressten Fingern des Mädchens hindurch. Tränen strömten aus den weit aufgerissenen Augen des Kindes. Ach, könnte sie doch nur bei Mama sein! Sie sprang auf, warf sich auf ihr Bett, zog sich die Decke über den Kopf und schluchzte laut. Sie würden ihr Stubenarrest aufbrummen, sie einsperren, damit sie nicht zu Mama gelangen konnte. Das konnte sie nicht zulassen.

Sie wischte ihr verschmiertes Gesicht an der seidenen Bettdecke ab und stand leise auf. Ihr Reiseköfferchen stand in der Kammer neben dem Dienstbotenzimmer, da war kein Rankommen, also musste es anders gehen. Sie warf einige Kleidungsstücke auf das Bett, zwei Bücher, Elise und das silberne Armband, das die Großmutter ihr geschenkt hatte. All das wickelte sie in einen großen Schal, dessen vier Ecken sie zuknotete, um eine Tasche mit Halteschlaufe zu formen. Ihr Blick fiel auf die Fotografie auf ihrem Nachttisch, sie hielt kurz inne. Konnte sie Papa alleine lassen? Er hatte doch die Frau. Er brauchte sie nicht. Mama aber. Mama brauchte sie. Wie die Luft zum Atmen, sagte sie immer. Das unhandliche Bild in seinem schweren Rahmen konnte hierbleiben.

Paula griff nach ihrem roten Wollmantel mit den handgeschnitzten Hornknöpfen, warf sich ihre improvisierte Tasche über die Schulter und ließ sich langsam aus ihrem Fenster zu den Rosenrabatten hinunter, an denen sie sich hinab hangelte, um den Boden zu erreichen. Die Dornen stachen tief in ihre weichen Handflächen und zerkratzen ihr Beine und Gesicht, doch Paula bemerkte das kaum. Sobald ihre Füße den Boden berührten, rannte sie wie von Hunden gehetzt durch den gepflegten Park, in dem sie früher so gerne gespielt hatte. Sie schlich um das Gärtnerhaus herum, sorgsam darauf bedacht, nicht gesehen zu werden – niemand sollte ihretwegen Ärger bekommen – und machte sich dann daran, mit Hilfe der alten, schiefen Weide die große Mauer zu überwinden, die das Grundstück von der Außenwelt trennte. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Flussufer hinunter. Dort folgte sie dem alten Treidelpfad, der sie ungesehen an den Grundstücken der Nachbarn vorbeiführte. Erst am Ende der Straße stieg sie den kleinen Abhang wieder hinauf, schimpfte über die fiesen Brombeeren, die ihr die Strümpfe zerrissen, und näherte sich dem alten Haus zum ersten Mal durch den verwilderten Garten. Der Duft der wilden Rosen machte ihr Herz wieder leicht. Sie rannte über die zerbrochenen Steinplatten zu der nur noch zur Hälfte existierenden Terrasse und schob sich dort sehr vorsichtig durch die scharfen Überreste der Glastür.

„Mama! Mama! Ich bin wieder da! Mamaaaa …“ Paula konnte die geliebte Stimme singen hören. Eilig und ohne darauf zu achten, wohin sie ihre Füße setzte, jagte sie durch den Salon, sprang über den am Boden zersplitterten Kronleuchter und wand sich unter den in alle Richtungen stehenden Holzbalken der herabgestürzten Decke hindurch. Durch die Trümmer, die einstmals wohl die Zwischendecke gebildet hatten, konnte sie das einfallende Licht der großen Fenster im Kaminzimmer sehen. Dort würde ihre Mutter auf sie warten. Paula nahm all ihren Mut zusammen und sprang.


Sechs Schimmel hatten die schwarze Kutsche gezogen, in welcher der weiße Sarg noch kleiner wirkte, als er wirklich war. Sechs Schimmel mit schwarzen Federbüschen am Geschirr, genau wie bei ihrer Mutter. Über der Grube stand auf einem Holzgestell ein riesiger Kranz aus weißen Rosen, genau wie bei ihrer Mutter. In seinen großen Händen mit den glänzenden schwarzen Handschuhen wirkte ihre Puppe winzig. Franz legte Elise sanft auf den blumenbedeckten Sarg, dann brach er zusammen.

„Eine kleine Dickmadame

Fuhr mal mit der Eisenbahn

Eisenbahn die krachte

Dickmadame die lachte“

Paulas Hände tanzten wie kleine Vögel durch die Luft, trafen Mamas Hände im perfekten Moment, während ihre Stimme quietschend immer lauter und schneller wurde. Mama hielt mit, sang lachend den Reim, bis Paulas Zunge sich verknotete und Mamas Hände die ihren in der Luft fingen – und hielten. Strahlend warf das achtjährige Mädchen sich in die Arme der dunkelhaarigen Frau und beide lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.


BRIDA ANDERSON schreibt Urban Fantasy und Steampunk.

Wenn sie nicht gerade Feenwesen oder Adrenalin-getränkte Abenteuer erfindet, kann man Brida auf einer Matte beim Jiu Jitsu finden oder beim Versuch, ihre zwei Kinder und einen arabischen Kobold – der hartnäckig seine Tarnung als Kätzchen beibehält – unter der glühenden Sonne Katars zu zähmen.

Lest mal rein in Dornen-Spiele, den ersten Band von Bridas Urban Fantasy-Serie Astoria Files (http://bit.ly/​AstoriaFiles).

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Mutter der Drachen

„Und dazu nehmen wir jeder ein Gläschen Sake und ein Glas Wasser“, beendete Oliver seine Großbestellung.

Miriam klappte den Mund wieder zu. Offenbar war es ganz unerheblich, was sie beim Chinesen geordert hätte. Oliver, ihr Blind Date für heute Abend, hatte in Windeseile eine Bestellung für sie beide heruntergerattert. Noch war Miriam mehr amüsiert als verärgert. Oliver hatte Gerichte bestellt, die sie gern mochte oder immer schon mal probieren wollte, also war sie ihm nicht ins Wort gefallen.

Wenn sie Oliver mit Blind Dates der Vergangenheit verglich, schnitt er bis jetzt ganz gut ab. Er war pünktlich, hatte ein nettes chinesisches Restaurant ausgesucht, das Miriam noch nicht kannte, und, was Miriam viel wichtiger fand, er sah tatsächlich so aus wie sein Foto im Datingportal – etwa Ende dreißig, mit schulterlangen braunen Haaren, einem hübschen, markanten Gesicht und breiten Schultern, die in einem blauen Polo-Hemd steckten. Da sein Foto der Wahrheit entsprach, war vielleicht auch der Rest der Infos, die sie vorab ausgetauscht hatten, nicht geflunkert gewesen. Wenn er jetzt auch noch so nett wie im Chat war … Dass er einen kleinen Spitzbart hatte, war allerdings schon mal nicht so Miriams Ding. Und dass Oliver meinte, sie mit einer Bestellung für zwei beeindrucken zu müssen, ohne sie vorher zu fragen, was sie überhaupt essen wollte, sprach auch nicht gerade für ihn.

Ihre Bedienung, eine junge Asiatin namens Mei mit einem Mund wie eine Kirschknospe, zischte ab und Miriam blies den Atem aus. „Erzähl mir doch mal was von dir.“ Sie faltete die Hände auf der weißen Tischdecke und sah Oliver abwartend an.

Er rieb sich nervös das Spitzbärtchen und lächelte sie dann an. „Puh. Keine Ahnung. Was gäbe denn ein paar Punkte bei dir?“

Sein Lächeln war echt und entwaffnend, was Miriam gefiel. Sie grinste zurück. „Lass die Punktevergabe mal meine Sorge sein.“ Sie streckte ihm die Zungenspitze raus.

Oliver lachte und seine blauen Augen funkelten.

„Schon mal ein Punkt für ihn“, dachte Miriam erleichtert. Laut sagte sie: „Ich erlös dich aus der Pein. Erzähl doch mal, was du für Hobbys hast.“

Oliver lehnte sich zurück. Wieder ein nervöser Griff zum Goatie. Der Bart war so kurz, was konnte man da noch richten? Und wen machte es nervös, über seine Hobbys sprechen zu müssen?

„Warte mal ab, bis du an der Reihe bist“, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. „Hexenkrimis lesen und bei Conventions in Korsett und Zylinder auf der Bühne herumtanzen sind auch nicht so die aalglatten Hobbys, mit denen du beim ersten Date ohne Nachfragen punkten kannst.“ Mit einem leichten Grinsen stellte Miriam fest, dass sie, wenn sie einen Bart gehabt hätte, diesen vermutlich allein bei dem Gedanken daran auch nervös kraulen würde. Verspätet merkte sie, dass Oliver ihr schon die ganze Zeit etwas erzählte.

„Und wenn ich genug zusammenhabe, kann ich mich an die Restaurierung machen“, sagte er gerade, während er nervös die Flasche mit der Sojasauce in Kreisen über das Tischtuch schob.

Miriam nickte wissend. „Schön.“ Verflixt, was war das Thema?

Oliver beugte sich eifrig näher zu ihr über den Tisch. „Als du geschrieben hast, dass du manchmal Reenactment machst, habe ich gehofft, dass du es spannend finden könntest. Und, was meinst du, ist das ein Hobby, mit dem du dich anfreunden könntest?“

„Uhm …“, Miriam dehnte das Wort. Meine Güte, wo waren sie gerade thematisch? Und Reenactment war nicht so ganz das treffende Wort für die Tanznummer, die sie mit ihren Bandkollegen bei Conventions aufführte. Spaß bis der Arzt kommt mit einem Hauch Goth und Victoriana träfe es schon eher. „Äh“, stotterte sie. „Vielleicht?“

„Die Frühlingsrollen für Sie“, erlöste Mei sie aus ihrem Dilemma. Die Bedienung stellte mit Schwung eine Platte vor Oliver ab. Die Vorspeise sah toll aus: Ein Dutzend winzige knusprige Frühlingsrollen lagen auf einem üppigen Salatbett, in dem Wasserkastanien mit der leichten Honigvinaigrette um die Wette glänzten. Sie waren bestimmt schön knackig.

Erwartungsvoll sah Miriam auf. „Und für mich?“

„Wie gewünscht die Drachenrollen“, flötete Mei und hielt Miriam einen Teller hin. Noch war er zu hoch, als dass Miriam hätte darauf schauen können, aber Oliver, der einen Kopf größer als sie war, sah plötzlich besorgt aus.

Ein Kellner rief Mei lauthals aus Richtung der Küche. Mei stellte flugs den Teller vor Miriams Nase ab und eilte im Laufschritt zurück in die Küche.

Oliver deutete mit den Essstäbchen auf den Teller. „Wenn du das lieber nicht kosten möchtest, kannst du von mir was abhaben. Ich fand, ‚Drachenrollen‘ klang auf der Karte so toll, aber …“ Er schüttelte sich.

Miriam sah auf ihren Teller hinab. Auweia. Der erste Anblick erinnerte an abgetrennte Gliedmaßen, die vor Maden wimmelten. Ihr Gehirn übersetzte tapfer den widerlichen Anblick in akzeptable Zutaten: Die beiden dicken Würste bestanden vermutlich aus rohem Glasnudelteig, der beim Nasswerden transparent wurde. So gab er den Blick frei auf die Füllung, mit der die Rollen bis zum Bersten vollgestopft waren. Die „Maden“ waren Meeresfrüchte, Shrimps und anderer Kleinkram, in winzige Stückchen gehackt. Kleine feuerrote Tentakel zogen sich unter der glasigen Hülle entlang. Der Rest der Füllung bestand aus allerlei Gemüse in grellgelben und sonnenuntergangsroten Farben und ein paar grob gehackten grünen und violetten Kräutern. Vermutlich war das Violette Thai-Basilikum, oder? Miriam hatte keine Ahnung, ob der violett war, aber was sollte es sonst sein?

Sie schluckte. Es nervte sie, wenn Leute Essen ablehnten, das sie nicht wenigstens einmal gekostet hatten. Da konnte sie ja jetzt nicht den Teller zurückgehen lassen, auch wenn es zugegebenermaßen recht widerlich aussah.

„Ich bin mutig“, sagte sie mit einem schiefen Grinsen zu Oliver.

Er nickte beeindruckt und knabberte noch eine von seinen Frühlingsrollen. „Respekt. Ich würde kneifen.“

Das würde sie auch gern, aber Miriam stach mit dem Messer in die Rolle, um sich ein Stück abzuschneiden. Mit einem Seufzen sackte die Wurst in sich zusammen. Miriam schluckte und säbelte an der Füllung und der überraschend zähen Hülle herum. Zum Glück bewegten sich die Tentakel tatsächlich nicht. Bestimmt irgendeine kleine Oktopus-Art. Während Miriam darüber nachdachte, in welchem Meer wohl ein feuerroter Oktopus zu Hause war, häufte sie alles auf die Gabel. Schnell schob sie sich diese in den Mund, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Ein Feuerwerk aus Aromen explodierte auf Miriams Zunge. Mhmm, ganz wunderbar. Für ein paar Sekunden genoss sie den Geschmack — bis die Schärfe zuschlug. Klar, die Dinger hießen ja auch Drachenrollen.

Unter Tränen stieß sie hervor: „Sind die scha-a-arf.“

Oliver drückte ihr hilfsbereit ihr Wasserglas in die Hand. „Aber wie schmeckt’s?“

Miriam setzte das Glas an, aber noch ehe sie einen Schluck genommen hatte, ließ die Schärfe genauso plötzlich nach, wie sie aufgetreten war.

Verdutzt setzte Miriam das Glas ab. „Lecker, wirklich.“ Sie häufte schon die nächste Gabel voll Essen. „Möchtest du kosten?“

„Nee, lass mal.“ Oliver wehrte mit einem Lächeln ab. „Hauptsache, dir schmeckt’s.“

Miriam war jetzt gewappnet und ließ sich vom nächsten Schärfe-Angriff nicht überwältigen. Wenn man die Augenblicke von Feuer im Rachen ignorierte, waren die Drachenrollen wirklich richtig lecker. Gabel um Gabel voll Haut und Füllung verschwand in Miriams Mund.

„Nein!“ Mei tauchte plötzlich mit einem Aufschrei neben ihr auf und packte Miriams Handgelenk, sodass die Gabel voll Füllung klappernd auf den Teller fiel. „Ein Versehen!“, rief sie laut, ganz außer sich. „Falsche Drachenrolle!“

Miriam blinzelte überrascht. Für einen Moment verschwamm das Restaurant vor ihren Augen. Sie hatte nicht das Gefühl, ohnmächtig gewesen zu sein, aber von einer Sekunde auf die nächste schwebte Olivers Gesicht direkt vor ihr und er griff besorgt nach ihren Händen. „Ist alles okay? Oh nein, du bist leichenblass!“

Von der anderen Seite beugte sich eine ältere Chinesin über Miriam. Ihre grauen Haare waren zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten und fielen ihr in die eisgrauen Augen.

Mei rang die Hände. „Das Gericht war nicht für Sie bestimmt, Verzeihung. Falsche Drachenrolle. Alles in Ordnung?“

„Verzeihen Sie Meis Fehler“, sagte die alte Chinesin. „Darf ich Ihnen eine andere Vorspeise bringen?“ Sie zischte Mei etwas zu und das Mädchen duckte den Kopf.

„Verzeihung, Mama Wu“, flüsterte sie mit vor Furcht bebender Stimme, „Verzeihung, Verzeihung.“

„Es ist doch alles in Ordnung“, sagte Miriam energisch. „Es war wohl nur etwas zu scharf.“

„Sie haben nur wenig gegessen, was für ein Glück“, flüsterte Mei und zog Miriam den Teller weg.

„Wenig?“ Die Frau, die Mei als Mama Wu tituliert hatte, schüttelte den Kopf. „Fast eine ganze Drachenrolle!“ Sie legte die Hand auf Miriams Schulter. Ihre Finger waren warm und fühlten sich knochig an. „Fühlen Sie sich wirklich gut?“

Peinlich berührt pustete Miriam sich die Haare aus dem erhitzten Gesicht und lachte unsicher. „Es war nur ein wenig scharf. Können wir jetzt bitte mit dem Hauptgang weitermachen?“

Mama Wu und Mei deuteten eine Verneigung mit dem Kopf an. „Natürlich. Kommt sofort“, versprach Mama Wu. Beide Frauen zogen sich tuschelnd in die Küche zurück.

Miriam schüttelte mit einem peinlich berührten Lachen den Kopf. „Wo waren wir gerade?“ Sie zog ihr schwarzes Top etwas ab, um ein wenig Luft an ihren Körper zu lassen. Meine Güte, das Zeug war aber auch scharf gewesen. Am ganzen Körper brachen ihr jetzt Schweißperlen aus. Zum Hauptgang gab es bestimmt viel Reis, mit dem konnte sie den Brand hoffentlich etwas löschen.

„Beim Reparieren von Oldtimern”, entgegnete Oliver.

Puh, endlich wusste Miriam um welches mysteriöse Hobby es ging. „Ich habe noch nie einen Schraubenschlüssel geschwungen“, bekannte sie, „aber ich hätte Lust, es mal zu probieren.“

„Ich freu mich drauf.“ Oliver hob ein winziges Glas zum Toast. Miriam hatte gar nicht mitbekommen, dass der Sake serviert worden war. Sie toastete Oliver zu und ließ den süßen Wein über ihre Zunge rinnen. Feuer raste ihren Rachen hinunter und ein ungeheurer Niesreiz überkam sie. Bevor sie die Hand vor die Nase schlagen konnte, hatte er sich mit einem trompetenden „Ha-a-atschi“ Bahn gebrochen.

Peinlich berührt schlug Miriam sich die Hand vors Gesicht. Ihre Nase tat richtig weg. Sie tastete auf dem Tisch nach ihrer Serviette, als ein Aufschrei von Oliver ihren Blick hochfahren ließ. Sein Bart stand in hellen Flammen! Oliver sprang auf und sein Stuhl fiel krachend um. Er schrie weiter, während er sich die Hände ins Gesicht schlug, um die Flammen zu löschen.

Miriam sprang an seine Seite, um ihm zu helfen. Sie drückte die Serviette auf die Flammen, während sie vernehmlich die Nase hochzog. Mist, sie musste schon wieder niesen. Da sie mit beiden Händen die Serviette hielt, drehte sie nur den Kopf zur Seite und nieste. Ein dünner Feuerstrahl schoss aus ihrer Nase und setzte Olivers Polohemd in Brand.

Er entriss ihr die angekokelte Serviette und schlug auf seine Brust ein, während er mit Panik im Blick vor ihr zurückwich.

„Es tut mir Leid“, wollte Miriam eigentlich rufen, aber was aus ihr herauskam, war ein raues „Grrrrraaaaoooooooooooaaar“.

Mama Wu und eine Gruppe Chinesinnen kamen mit Decken und Tüchern angelaufen, um den Brand zu löschen. Bald lag Oliver am Boden und die Flammen waren erstickt.

Entsetzt räusperte Miriam sich, trotzdem brachten ihre Stimmbänder weiterhin keine Worte, sondern nur ein lautes Grollen hervor. Oliver starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Wo sein Bärtchen geprangt hatte, bildete sich eine dicke Brandblase.

Miriam streckte die Hand nach ihm aus. Die langen Ärmel ihres T-Shirts klebten schweißnass an ihren Armen.

Starke Hände packten Miriam von hinten. Sie trat aus und wehrte sich, aber sie wurde von einer Gruppe Frauen aus dem Raum geschleift. Es ging eine Treppe hinab, noch eine, diesmal mit schiefen Steinstufen, die in der Mitte ausgetreten waren. Dann ließen die Frauen sie so abrupt los, dass Miriam vornüber fiel. Sie konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. Als sie taumelnd wieder auf die Beine kam, war sie allein im Keller.

„Hallo?“, rief Miriam. „Ich glaube, es hackt. Das gibt so was von einer miesen Bewertung auf Tripadvisor.“

Sie stand in einem Kellergewölbe, dessen Decke bestimmt fünf Meter hoch war. Die Lampe an der Decke erhellte gerade noch die Treppe, der Rest des riesigen Raumes verlor sich in Dunkelheit. Ihre Schulterknochen juckten wie verrückt. Irgendwie beruhigte das Jucken Miriam. Kein Wunder, dass sie sich so komisch fühlte — sie war wahrscheinlich allergisch auf etwas im Essen gewesen.

Und das Feuer, das sie geniest hatte? Miriam schüttelte den Kopf. „Kann ja gar nicht sein.“ Sie würde nach Oliver sehen, ihn fragen, was wirklich passiert war und dann würden sie das Date um eine Woche verschieben, wenn Miriam sich nicht mehr so seltsam fühlte.

Als sie zur Treppe zurückstapfte, wurde der Juckreiz so stark, dass sie sich erst einmal am Treppengeländer schubbern musste.

„Dir sprießen Flügel“, sagte Mama Wus Stimme hinter ihr. „Lass es geschehen und wehr‘ dich nicht dagegen, dann geht es schneller vorbei.“

Miriam schnaubte verächtlich. „Ich habe keine bekifften Flügel und gehe jetzt nach Hause.“ Es interessierte sie nicht besonders, wie die alte Chinesin es geschafft hatte, aus dem Nichts zu erscheinen. Und sahen ihre Hände nicht länger aus, hier unten im Dämmerlicht? Fast so, als ob die zierliche alte Dame lange elfenbeinfarbene Klauen hätte …

„Ach was, alles nur Einbildung“, redete Miriam sich in Gedanken gut zu. Sie sprang auf die Kellertreppe. Der Griff, der sich von hinten um ihren Arm schloss und sie zurückhielt, war nicht gerade der einer zerbrechlichen alten Dame. Schraubzwinge traf es eher.

„Sie haben ja wohl einen Sprung in der Schüssel“, knurrte Miriam. „Ich gehe jetzt.“ Sie machte noch einen Versuch, aus Mama Wus Griff auszubrechen. Diesmal ließ die alte Chinesin sie los. Als Miriams Fuß die dritte Stufe betrat, riss der T-Shirt-Stoff auf ihrem Rücken. Mit einem lauten Knacken von Knochen entfalteten sich zwei riesige Flügel hinter ihr. Sie waren so groß, dass Miriam sie sehen konnte, wenn sie den Kopf zur Seite neigte. Die Spannbreite ihrer Flügel war enorm und die roten und grünen Schuppen sahen toll aus — sie schimmerten, als seien sie nass.

„Äh.“ Miriam starrte die Flügel an. Ihre Flügel? Mehr nebenbei fiel ihr auf, dass auch ihre Hände und Arme jetzt mit denselben schillernden Schuppen bedeckt waren. Im Essen waren Halluzinogene gewesen, anders war das überhaupt nicht zu erklären. Wenigstens juckten ihre Schultern nicht mehr.

„Also gut, ich gebe zu, dass ihr hier richtig guten Stoff habt“, stieß sie hervor. „Aber ich bin nicht interessiert.“ Sie hechtete die Treppe hoch. Die Flügel folgten ihrer Bewegung und gaben jedem ihrer Schritte einen angenehmen Auftrieb. Es fühlte sich in etwa so an, wie schwerelos im Wasser herumzuspringen.

Sie prallte gegen Mama Wu, die plötzlich über ihr auf der Treppe stand und den Weg blockierte. Wie war die so schnell hierhergekommen?

„Was habt ihr mir gegeben?“, knurrte Miriam sie an.

„Die Drachenrolle war nicht für dich bestimmt“, sagte Mama Wu und klang dabei ganz entspannt. Berauschte Kindergärtnerinnen, die sich für Drachen hielten und glaubten, ihre Blind Dates in Brand gesetzt zu haben, waren für Mama Wu offenbar Alltag. „Mei hat sie leider an den falschen Tisch geliefert.“

„Du wolltest jemand anderem die Drogen unterjubeln?“

Mama Wu lächelte amüsiert. „Ich würde niemals Drogen in meiner Küche dulden. Diese besondere Drachenrolle, einmal im Monat gegessen, verhindert, dass sich die Drachen gegen ihren Willen verwandeln.“

Miriam lachte und versuchte, sich an Mama Wu vorbeizuschieben. „Klar.“

Mama Wu war zwei Köpfe kleiner als Miriam und zart gebaut, aber sie stellte sich dennoch als ein unüberwindliches Hindernis heraus. Spielend wehrte sie Miriam ab und ließ sie nicht durch. „Wenn ein normaler Mensch sie isst, bewirken sie das Gegenteil. Für Minuten wird er zum Drachen. Aber das äußert sich meist nur in ein bisschen Rauch, vielleicht ein paar kleinen Feuerstößen.“

„Ein paar kleinen Feuerstößen …“, wiederholte Miriam matt Mama Wus Worte. Sie zeigte auf ihre Flügel.

Mit einem leisen Lachen zuckte Mama Wu die Schultern. „Du musst die Anlage zum Drachen in dir getragen haben, deshalb hast du dich verwandelt. Ab jetzt kommst du alle vier Wochen hierher und bestellt die … speziellen Drachenrollen.“ Bei den letzten zwei Worten blies sie zwei perfekte kleine Rauchkringel aus ihren Nasenlöchern. „Dann kannst du die Verwandlung kontrollieren.“

Miriam seufzte. Diese Frau Wu war komplett abgedreht. „Klar doch, ich hatte Drachengene in mir. Meine Eltern sind in ihrer Freizeit auch Drachen und haben nur vergessen, mich darüber zu informieren. Ich ruf sie gleich mal an.“ Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Ach, was für ein Zufall: Ich habe hier unten gar kein Netz.“ So langsam wurde Miriam richtig mulmig zu Mute.

„Nein, deine Eltern sind keine Drachen, sonst würde ich sie kennen.“ Mama Wu zuckte die Schultern. „Vielleicht Reinkarnation.“

„Klar, Reinkarnation.“ Miriam hielt das Handy mit gestrecktem Arm über den Kopf, um zu sehen, ob sie dann Empfang hatte. Sie ignorierte dabei standhaft den Anblick ihrer schuppigen Hand und der langen türkisen Klauen, die aus jedem Finger sprossen. Türkise Klauen? Also bitte. Wenn schon Klauen, konnten die dann nicht schwarz sein? Drachenmädchenklauen, du meine Güte.

„Alle kleinen Drachen finden ihren Weg zu Mama Wu.“ Die alte Frau lächelte – und wieder stiegen kleine Rauchwölkchen aus ihren Nasenlöchern. Sie hob beide Hände und legte sie sacht auf Miriams Schultern. „Schlaf jetzt, Drache, und vergiss, bis ich dich brauche. In vier Wochen kommst du heim zu deiner Mama Wu.“

Miriam blinzelte. Sie saß immer noch Oliver gegenüber am Tisch, zwischen ihnen stand eine Schüssel mit zwei Kugeln Grüntee-Eiscreme. Jeder von ihnen hielt einen Teelöffel in der Hand. Soweit so gut, aber irgendetwas stimmte nicht. Sie hatten sich über Olivers Oldtimer-Reparaturen unterhalten, während Miriam etwas aß, das viel zu scharf war. Und dann … Was war dann passiert?

Oliver unterbrach Miriams Grübeleien, als er einen Löffel voll sahnigem Eis auf ihren Mund zusteuerte. „Hier, zur weiteren Abkühlung.“

Er lächelte sie an und Miriam spürte ihr Herz schneller klopfen. Oliver sah wirklich gut aus, mit einem markanten Kinn, das eine kleine kreisrunde Narbe zierte. Er hatte sich extra für ihr Blind Date frisch rasiert. Miriam kostete das Eis.

„Nächstes Mal wollte ich dich eigentlich zum Mexikaner ausführen“, sagte Oliver und genehmigte sich auch einen Löffel der lindgrünen Eiscreme. „Aber wenn dir das Essen hier schon zu scharf ist, gehen wir vielleicht besser Burger essen.“

Schmale knochige Hände schlossen sich von hinten um Olivers Schultern. Mama Wu, die Besitzerin des Lokals, war an ihren Tisch getreten, ohne dass Miriam sie bemerkt hatte.

„Nein, ihr kommt natürlich wieder hierher“, sagte Mama Wu.

Oliver und Miriam nickten gehorsam.

„Natürlich“, sagte Oliver. „Das ist eine gute Idee.“

Miriam nickte zustimmend.

Mama Wu strich Miriam sacht übers Haar und flüsterte: „Hier ist der sicherste Ort für kleine Drachen wie dich. Hier bist du zu Hause.“

Miriam hörte die Stimme nicht, aber ihr Körper verstand.