Ohne Johanna

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Ohne Johanna
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Angela Hünnemeyer

Ohne Johanna

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Ankunft 1932 Berlin

Schicksalhaftes Treffen im Netz

Wiedersehen in Berlin

Berlin, Koenigsallee – Die alte Zeit

Der Weg in die Vergangenheit

Die Offenbarung

Johannisbeereis im Schnee

Ein ungewöhnlicher Fund

Fahrt ins Ungewisse

Ein wichtiger Hinweis

Ankunft Berlin – Potsdamer Platz 1932

Johannas Geschichte

Nächtliche Begegnung

Ohne Johanna

Das andere Leben

Gefährliche Missionen

Die Vergangenheit lebt

Unerwartete Begegnung

Die verlorene Identität

Paul

Schwerer Weg

Verlorene Zeiten

Reise in die Kindheit

Erinnerungen

Ein wohlgehütetes Geheimnis

Gruß aus der Vergangenheit

Unbekannte

Veronikas Weg

Widmung - Wer war Elise?

Angela Hünnemeyer

Romane und ihre Fortsetzungen

Bezugsquellen

Haftungsausschluss

Impressum neobooks

Widmung

Für Elise


Ankunft 1932 Berlin

Berlin, Potsdamer Platz 7. November 1932

Tagebucheintrag der sechszehnjährigen Johanna

Ich habe viele Stunden in einem engen, stickigen Eisenbahnabteil verbracht. Nun sitze ich hier, mitten in Berlin im Bahnhofsgebäude am Potsdamer Platz und warte darauf, dass ich abgeholt werde. Weil es wohl noch etwas dauert, schreibe ich ein wenig in meinem Tagebuch, damit ich nichts vergesse.

Es ist bestimmt ein Tag in meinem Leben, der alles verändern wird. In drei Jahren werde ich wieder in meine Heimat zurückgehen. Bis dahin muss ich hier aushalten mitten in solch einer großen Stadt, wo ich doch eigentlich nur das Land kenne. Ja, manchmal war ich schon in einer großen Stadt gewesen, wenn ich neue Kleidung bekommen sollte. Aber da war ich nie sehr lange.

Man hatte beschlossen, dass ich nun ein neues Leben beginnen musste. So schickten sie mich nach Berlin. Ich soll in einem vornehmen Haushalt eine anständige Lehre absolvieren, damit ich später eine gute Hausfrau, Ehefrau und Mutter werden würde.

Und so erreiche ich nun nach vielen Stunden, durchgerüttelt und übermüdet Berlin. Es ist November, ein nasskalter, ungemütlicher Novembertag, grau und trostlos. Mit meinen sechszehn Jahren bin ich noch recht jung, aber es ist wohl genau das richtige Alter, wo man mich noch formen kann.

Dieses hatte ich gehört, als ich an der Türe gelauscht hatte.

Vielleicht waren sie im Recht, denn das Leben lag ja noch vor mir. Etwas Anständiges sollte ich lernen und da, wo ich herkomme, gibt es nicht so viele Möglichkeiten. Sie hätten mich dafür ins tiefste Ruhrgebiet schicken müssen. Aber da herrscht Behrenskultur und es ist nicht das richtige Umfeld, um eine Haushaltslehre zu absolvieren.

Zudem leben dort fast nur arme Familien und das unter einer Dunstglocke vom Qualm der rauchenden Schornsteine und umgeben von viel Industrie, die aus Zechen und Stahlwerken besteht. Hochherrschaftliche Häuser, die gibt es schon, doch ich bin nur ein armes Waisenkind, mich wollten sie dort nicht, denn man befürchtete, dass ich wohl nicht genug Erziehung genossen habe, wie es vorausgesetzt wurde.

Aber ich hatte die beste Erziehung bekommen, nämlich durch meine Zieheltern auf einem Gutshof mit Namen Gut Markgraf. Sie hatten mich gefunden, vor ihrer Haustür, ausgesetzt in einem Weidenkorb, so wie Moses. Nicht ganz so, ich hatte im Trockenen gestanden, während er im Schilf am Ufer im Wasser abgesetzt worden war.

Einen Zettel hatte man in das Körbchen gelegt. Darauf war zu lesen, dass sie gut für mich sorgen sollen, dass ich ausgesetzt werde, weil man selber keine Mög lichkeit hatte, mich groß zu ziehen und bat um Verzeihung dafür. Auch solle man bitte nicht urteilen, denn das Leben sei hart mit einem umgegangen. Ich hatte bereits einen Namen. Dieser stand ebenfalls in der kurzen Nachricht, nämlich Johanna.

Meine Eltern? Ja, wer sind meine Eltern? Ich weiß es nicht, niemand weiß es, niemand.

Ich wurde im Mai 1916 geboren. Das hatten meine Zieheltern zurückverfolgen können, denn als sie mich fanden, war ich erst wenige Stunden alt. Das konnten sie daran erkennen, weil ich noch ein Stück von meiner Nabelschnur am Bauch gehabt hatte.

Der Gutshof liegt am Rande vom Ruhrgebiet. Um genauer zu sein, er befindet sich in Essen-Werden. Die Menschen in Essen-Werden leben dort in einer Landschaft, als läge sie mitten im Allgäu. Ich war noch nie im Allgäu, doch ich weiß es aus Erzählungen. Außerdem hatte ich Postkarten gesehen von Verwandten der Gutsherren, die im Alpen land leben. Sie sagten immer, die Menschen müssen nicht in die Voralpen fahren, um sich zu erholen, sie könnten auch in Essen-Werden bleiben. Dort sei es ruhig, dort ist es sehr hügelig und landschaftlich wunderschön.

Jetzt bin ich in Berlin angekommen. Es ist schon drei Uhr am Nachmittag. Sie hatten mir eingetrichtert, dass ich am Potsdamer Platz aussteigen muss, dass dort eine feine Dame auf mich warten würde. Es sollen sehr reiche Leute sein und ich würde es gut haben. Sie trüge ein Schild in der Hand, worauf ich meinen Namen lese und dann würden wir mit einem Automobil zu ihrem Haus fahren.

Ich sehe hier viele Menschen, die Schilder in der Hand halten, weil sie jemanden abholen müssen, den sie nicht kennen. Doch nirgendwo entdecke ich meinen Namen. Ob alle anderen Reisenden auch hier ankommen, weil sie hier in Berlin etwas lernen sollen? Oh, ich muss jetzt aufhören zu schreiben, dahinten sehe ich ein Schild und da rauf steht:

Herzlich Willkommen Johanna Wegemann

Damit muss ich jetzt gemeint sein. Solch ein gebührender Empfang. Nun ja, ich werde ja nun auch in einem vornehmen Hause leben. Doch wer ist das, der dieses Schild in der Hand hält? Ein junger Mann, vielleicht nur wenige Jahre älter als ich. Das finde ich merkwürdig, doch nun höre ich aber wirklich auf zu schreiben.

 

Johanna

Schicksalhaftes Treffen im Netz

Damit fängt meine Geschichte an!

schrieb Stephan ins Mailprogramm. Als Anlage hatte er diesen Eintrag des Tagebuchs seiner Großmutter mitgeschickt.

Niemand weiß konkret zu sagen, was vorher geschah, woher sie wirklich kam und wer ihre Eltern waren. Sie bekam einen Sohn, später 1942, meinen Vater, Paul Wegemann. Er wurde in Berlin geboren.

Sie erzählte also in ihrem Tagebuch von einem Gut in Essen-Werden, aber halt nichts Genaues. Auch muss sie niemals mehr dorthin zurückgekehrt sein. Niemand weiß wirklich etwas über dieses Gut am Baldeneysee, über die Bewohner, die sie aufgenommen und die ersten sechzehn Jahre erzogen hatten. Sie war auch nicht verheiratet, zudem ist der Vater meines Vaters auch nicht auffindbar.

Somit habe ich außer meinen Eltern, Paul und Luise Wegemann, keine wirklichen Wurzeln, nichts worüber ich dir väterlicherseits etwas berichten könnte. Meine Mutter und ihre Vorfahren stammen alle aus Berlin, da lässt sich alles zurückverfolgen, doch bei Oma Johanna liegt alles im Dunkeln. Auch was ihr weiteres Leben anbetraf, was ihr widerfahren war nach dem November 1932.

Und dann geschah etwas Schreckliches.

Johanna war wie vom Erdboden verschluckt. Alle Unternehmungen damals, sie zu finden, waren erfolglos. Mein Vater war gerade erst ein Jahr alt. Er wurde von einer Freundin meiner Großmutter aufgezogen. Eigentlich war sie mehr eine Nachbarin, die erst wenige Wochen vor dem Verschwinden meiner Großmutter in einer dieser Wohnungen in diesen Hackeschen Höfen an der Sophienstraße in Berlin eingezogen war.

Sie übergab ihm später das Tagebuch und berichtete ihm im Laufe seiner Kindheit die wenigen Dinge, die sie von Johanna erfahren hatte. Aber wie gesagt, das war halt nicht viel.

Dadurch, dass Krieg und Berlin stark unter Beschuss gewesen war, kämpften die Menschen hier ums tägliche Überleben. Die Sorgen und Nöte waren sehr groß. Da war eine Vergangenheit nicht mehr so wichtig, Hauptsache man überlebte. Die Suche nach Johanna ging nach der Kriegszeit weiter, doch auch hier gab es keine Anhaltspunkte. Man vermutete, dass sie bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist, denn viele der Toten, die man später fand, waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und nicht mehr identifizierbar.

Ja und dieses Tagebuch hatte also auch nicht viele Einträge, denn bis auf den Eintrag in Berlin am Potsdamer Platz vom 7. November 1932 war vorher noch zu lesen, dass man ihr dieses Tagebuch zum Abschied geschenkt hatte, als man sie nach Berlin schickte, um dort in einen Haushalt zu gehen. Sie sollte dort regelmäßig ihre Einträge machen, so hatte sie es notiert, damit sie später ihren Pflegeeltern alles berichten konnte, was sie erlebt hatte.

Das zunächst einmal zu meiner Familie. Irgendwie sind wir immer auf der Suche nach unseren Vorfahren. Mein Vater leidet darunter und ich bin auch unruhig irgendwie, weil ich das Gefühl habe, dass etwas fehlt. Es sind zu viele Lücken in der direkten Vergangenheit. Ich wünschte, ich könnte dir mehr erzählen, aber ich habe wirklich alles versucht, etwas herauszufinden. Nun bin ich fünfundvierzig Jahre alt und mein Vater ist siebenundsechzig und ich hätte ihm doch so gerne noch Informationen zukommen lassen, bevor er eines Tages von dieser Welt geht.

Ja Veronika, so ist das Leben. Man fühlt Dinge, die im Raum stehen, doch man kann sie nicht klar deuten. Essen-Werden, wie oft bin ich dort schon durch das Kanupolo gewesen, eigentlich so lange ich diesen Sport betreibe. Und immer wieder dachte ich an meine Großmutter, dass sie dort irgendwo geboren sein musste.

So findet dort jährlich an den Pfingsttagen die Ausspielung des Deutschlandcups statt. Der Ausrichter ist der Kanupolo-Sportclub Rothe Mühle Essen und mit meinen langjährigen Freunden aus diesem Ver ein habe ich viele Gespräche geführt, weil sie Einheimische sind und sich in der Gegend um den Baldeneysee bestens auskennen. Aber auch hier konnte man mir über das Gut Markgraf keinerlei Information geben. Ein Gut mit diesem besagten Namen gab es nicht mehr in Essen-Werden und im Internet steht auch nirgendwo eine Information darüber.

Zudem war ich meistens den ganzen Tag am See bei den Wettkämpfen und am Abend gingen wir schon einmal in ein Restaurant, also so wirklich viel Zeit und Gelegenheiten etwas zu erforschen gab es einfach nicht.

Aber lassen wir das jetzt, denn nun sollten wir noch einmal auf uns beide zurückkommen. Warum hast du mich vor zwei Monaten angeschrieben?

Liebe Grüße aus Berlin

Stephan

Veronika Dupont las diese Mail mehrmals und nun fing es in ihrem Kopf an zu summen, wie in einem Bienenkorb. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein, was Stephan ihr da gerade geschrieben hatte.

Es waren erst zwei Monate vergangen, als sie sich aus einer ziemlich anstrengenden und aufregenden Geschichte lösen konnte. Sie war ungewollt in eine Sache hineingeschliddert und am Ende der harten Zeit geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte, sie am Allerwenigsten.

Nach tagelangem Abstand hatte sie ihr Resümee gezogen und genau in dieser Stunde, wo sie nun alles hinter sich ließ, entdeckte sie in einem Internetforum in der Onlineanzeige das Bild eines Mannes, welcher noch einmal eine große Wichtigkeit in ihrem Leben spielen sollte.

Sein Gesicht spiegelte ihr etwas Bekanntes und es war wie ein Zwang, ihn einfach anzuschreiben.

29.06.2009, 13:29 Uhr

von: Veronique an: you-are-here

Hallo!

Ich muss Dir einfach schreiben.Ich sah gerade Dein Bild und ich erkenne Etwas, was ich nicht deuten kann.

Sende Dir einfach einmal liebe Grüße.

Veronique

Am Abend bekam sie noch folgende Antwort.

29.06.2009, 19:14 Uhr

von: you-are-here an: Veronique

Hallo Veronique!

Ich würde gerne mit Dir nochmals einen Spaziergang an der Havel machen, aber das geht halt nicht so einfach.

Bist du es wirklich?

Liebe Grüße

Stephan

Sie war ins Grübeln gekommen, als sie diese Worte gelesen hatte, denn sie hatte wenige Tage zuvor von Frau van Heyden eine Aufforderung bekommen, die besagte:

Denk an Berlin, Potsdamer Platz 1932!

Erinnerst du Dich Veronika, als Du 14 Jahre alt warst und einen Ausflug nach Berlin mit Deiner Schulklasse machtest? Kannst Du Dich erinnern, ihr bewohntet eine Jugendherberge in Berlin-Spandau und dass du an der Havel spazieren gingst und einem Jungen von ungefähr 10 Jahren geholfen hast sein Kanu, welches gekippt und voll mit Was ser gefüllt war, über den Uferrand hin aus zu ziehen?

Er war so glücklich über Deine Hilfe, dass ihr beide anschließend noch ein wenig an der Havel spazieren gegangen seid und ein Eis gegessen habt.

Sein Name war Stephan. Er hat noch oft als Kind an Dich gedacht, weil du ihm geholfen hast. So etwas vergisst man nicht.

Du wirst wieder auf ihn zugehen, genauso wie damals an der Havel. Du wirst sein Gesicht sehen und es wird Dich zum Nachdenken zwingen. Gehe ihm entgegen, er hat auf Dich gewartet. Da liegt noch Etwas im Argen. Dafür braucht er Dich. Durch Deine Mithilfe kannst Du ihm wieder helfen. Im Leben begegnet man sich immer zweimal, wie Du sicherlich weißt. Hilf ihm. Er wird Dich erkennen. Mittlerweile ist er so wie Du, erwachsen geworden, doch er hat Dich nie vergessen. Du hast die Feinfühligkeit das zu spüren, was ihn belastet. Aber es ist eine alte Geschichte, ein Geschehnis, welches einige Menschen bis in die heutige Zeit belastet. Fahre nach Berlin und gehe zum Potsdamer Platz. Stephan wird dort auf Dich warten.

Bitte vergiss nicht: Potsdamern Platz 1932.

Liebste Grüße

Elisabeth van Heyden

Ja und nun saß Veronika vor ihrem Laptop und Stephan erzählte eine Geschichte, die in Berlin am Potsdamer Platz 1932 beginnt.

Die Geschichte von Johanna Wegemann, seiner Großmutter, deren Leben und Weg nicht mehr nachvollziehbar war, die selbst auch nicht gewusst hatte, woher sie kam und wer ihre Eltern gewesen waren.

Das also bezweckte Frau van Heyden. Sie schickte Veronika auf den Weg, so wie sie es schon einmal tat. Nun sollte sie einem Menschen, der ihr in ihrer Kindheit durch Zufall in Berlin begegnet war, wiedersehen und ihm nochmals behilflich sein und das nach vielen Jahrzehnten. Es war einfach unglaublich.

Veronika stand am Fenster und grübelte. Gerne würde sie ihn treffen. Es war eine Fügung. Via Internet, Sekunden, die entschieden hatten, ihn anzuklicken, nur ein Moment, der zwei Menschen die Gelegenheit gegeben hatte und ihre Wege ein zweites Mal kreuzen ließ. So beschloss sie, nach Berlin zu fahren.

Als vierzehnjähriges Mädchen war sie mit ihrer Schulklasse das letzte Mal dort gewesen, doch nun war alles anders. Auch die Stadt.

Nach der Wende hatte sie Berlin noch nie besucht. Damals gab es ein geteiltes Deutschland und es war ihr ziemlich mulmig gewesen, all das zu sehen, was ein Land trennte, Menschen trennte, diese bedrückende Stimmung hautnah mitzuerleben.

Sie hatte sich sogar geweigert an einem Tagesausflug nach Berlin-Ost teilzunehmen. Irgendetwas fühlte sich nicht gut für sie an, sie muss damals schon sehr feinfühlig gewesen sein. Nun aber war es ihre Pflicht sozusagen.

Sie musste Stephan wiedersehen, alles hören und erfahren was aus ihm geworden war und sie wollte helfen, auch wenn sie momentan noch nicht wusste womit sie behilflich sein konnte.

Doch diese Geschichte mit Johanna ließ sie nicht mehr los. Da musste es Wege geben herauszufinden, was aus ihr geworden war, damals 1943 und vor allem, was ihr geschehen war nach dem 7. November 1932.

Somit beschloss sie Stephan zu informieren, dass sie ihn besuchen würde. Er solle sich schon einmal auf einige Tage einrichten, die sie ihn in Beschlag nehmen würde.

So viel wie möglich musste sie über Berlin erfahren, vielleicht gab es doch Anhaltspunkte, irgendeinen Hinweis, der ihr eine Richtung wies, wo sie ansetzen konnte.

Wiedersehen in Berlin

Berlin Potsdamer Platz - Samstag, 7. November 2009

Veronika hatte alle Reisevorbereitungen getroffen. Nach über vierunddreißig Jahren sollte sie diese Stadt wieder besuchen. Sie war nicht nur deswegen aufgeregt, sondern auch wegen der ganzen Umstände, warum dieser Besuch nötig war.

Nicht zuletzt kam auch die Vorfreude auf, den kleinen Stephan endlich wiederzusehen.

Ihre Reise hatte sie im Vorfeld gut durchorganisiert. Sie würde in Berlin Hauptbahnhof einlaufen, denn im Gegensatz zu den Gegebenheiten von 1932 hatte sich dort einiges beträchtlich verändert, unter anderem auch der zentrale Ort des Bahnhofes, der nicht mehr am Potsdamer Platz lag, sondern nördlich der Spree hinter dem Reichstag.

 

Nach einigen Stunden, die sie im Zug verbracht hatte, war sie wie gerädert am Hauptbahnhof ausgestiegen. Es war kurz vor 15.00 Uhr. Dort schleppte sie sich mitsamt ihres Gepäck durch die Bahnhofshalle, fuhr mit der Rolltreppe zwei Etagen tiefer, um zur Kanzlerbahn zu gelangen. Diese war gerade erst vor drei Monaten in Betrieb genommen worden.

Die Stationen, die sie anfuhr waren nur drei. Sie begannen am Hauptbahnhof, nach wenigen Minuten erreichte man die U-Bahnstation am Kanzleramt und die dritte und letzte Aus- oder Einstiegsstelle war am Brandenburger Tor. Genau dort musste sie hin oder besser gesagt wollte sie hin.

Sie hätte auch umsteigen können in eine Bahn, die sie direkt zum Potsdamer Platz befördert hätte.

Aber nein, sie zog es vor, das letzte Stück des Weges durch das Viertel, in dem Johanna am 7. November 1932 ankommen war, zu Fuß zu gehen. Sie wollte die neue Freiheit der Menschen nach der Wende, die Gebäude und die Straßenzüge bei ihrem Fußmarsch auf sich wirken lassen.

Somit fuhr sie zum Brandenburger Tor und stieg die Stufen hinauf, die von der U-Bahnstation in die Stadtmitte führten. Vor ihr lag der Pariser Platz. Für sie war es ein eigenartiges Gefühl, alles von der anderen Seite zu sehen, nun im damaligen Ostteil von Berlin zu sein, vor dem sie sich 1975 geweigert hatte ihn zu besuchen, weil es sie alles beängstigt hatte.

Neugierig ging ihr Blick zu allen Seiten. Schnell hatte sie das Brandenburger Tor erreicht. Ihr Koffer hatte Räder und so konnte sie bequem ihr Gepäck hinter sich herziehen.

Es war schon imposant, das musste sie zugeben und ihre Gedanken gingen zurück in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Hier war Johannas Leben, genau hier in den Jahren zwischen 1932 und 1943.

Ob es da noch Anhaltspunkte zu finden gab, irgendwelche Informationen?

Den ersten Schritt, den sie gerne unternehmen würde, hatte sie auf der Fahrt hierher überlegt und am Abend würde sie ihn Stephan mitteilen. Vielleicht fand er das gar nicht so schlecht, beziehungsweise hoffte sie, dass er es genauso sehen würde.

Sie wusste noch nicht einmal, ob er damit einverstanden war, dass sie nun mit in Materie einsteigen wollte, doch sie war schon mittendrin irgendwie, sie kannte sich.

Gegen ihren Willen war sie ja, wie bereits erwähnt, schon einmal in eine Geschichte gezogen worden, wo sie vor Ungeklärtem stand. So fühlte sie jetzt wieder ganz stark, dass auch hier etwas im Argen lag und sie diesem Bann der Klärung unterlag. Nach wenigen Minuten hatte sie das Brandenburger Tor passiert und schaute sich weiter um.

Zu ihrer Rechten entdeckte sie das Gebäude des gigantischen Reichstages und sie schüttelte mit dem Kopf, immer noch ungläubig darüber, dass sie dieses nun alles wiedersah.

Doch sie konzentrierte sich schnell wieder auf das Wesentliche und bog links in die Ebertstraße ab, querte eine Straße die da hieß, Behrenstrasse.

Nachdenklich setzte sie einen Schritt vor den anderen, obwohl sie gerne dort verweilt hätte, um alles auf sich wirken zu lassen. Aber sie war gleich verabredet und sie hatte nur noch eine gute Viertelstunde Zeit bis dahin.

Die Ampeluhr auf dem Potsdamer Platz, das historische Wahrzeichen, dort würde sie auf ihren Stephan treffen.

Langsam aber sicher wurde sie nervös.

Ob er so aussah, wie auf dem Foto im Netz?

Ob er so nett ist, wie er schrieb, dachte sie immer wieder.

Mittlerweile passierte sie bereits das Stelenfeld, ein Mahnmal für den Holocaust in Europa. Sie stockte bei dessen Anblick und es wurde ihr irgendwie anders.

Doch sie zwang sich, jetzt nicht gedanklich abzudriften und eilte weiter, so dass sie nach wenigen Gehminuten den Potsdamer Platz erreichte.

Nichts erkannte sie von dem wieder, was man ihnen zum Teil damals auf dem Schulausflug gezeigt hatte. Der berühmte Platz, ursprünglich das Herz der Stadt Berlin, war durch den Mauerbau 1961 geteilt worden. 1975 befanden sich hier Aussichtsplattformen, um in den Osten zu schauen.

Von den herrschaftlichen Häuser und Cafés, die noch vor Kriegsbeginn dort gestanden hatten, war nichts mehr übrig geblieben. Entweder waren sie durch die Bombardierung zerstört worden oder wurden später auf Grund des Mauerbaus abgetragen.

Als sie das Ritz erreicht hatte und rechts in die Straße schaute, fiel ihr Blick auf die hohe Glasfassade des Sony Centers und nun musste sie sich laut Stephans Beschreibung weiter geradeaus halten. Sie querte diese Seitenstraße und entdeckte von weitem die berühmte Ampeluhr, eine Erinnerung an die erste Verkehrsampel Europas.

Im Jahre 1924 hatte man sich zur Aufstellung einer achtmeterfünfzig hohen fünfeckigen handgeschalteten Ampelanlage entschlossen, doch wurde sie bereits 1936 wieder demontiert.

Sie schaute interessiert auf die Nachbildung, die man 1997 errichtet hatte und dort würde Stephan stehen und auf sie warten.

Viele Menschen bestaunten neugierig dieses berühmte Gebilde und so auch Veronika, die langsam näher kam, aber niemanden entdeckte, der auch nur ungefähr Stephan ähneln könnte.

„Kannst du mir bitte helfen? Mein Kanu ist gekentert und ich bekomme es nicht aus dem Wasser gezogen, weil es vollgelaufen und zu schwer für mich ist!“

Veronika schnellte herum und schaute in zwei wunderschöne blaue Augen. Ein Mann mittleren Alters, etwa einen Kopf größer als sie, stand vor ihr und grinste sie schelmisch an.

„Wenn du mir geholfen hast, können wir uns dort hinten am Eiswagen ein Eis kaufen, wenn du magst!“ Er lachte und nahm Veronika in die Arme, schleuderte sie einmal um seine eigene Achse und setzte die überrumpelte Frau wieder ab.

„Mensch Stephan, du bist aber gewachsen!“, grinste sie zurück und wuselte ihm durch die Haare.

„Es gab einmal Zeiten, da war ich größer als du und wenn ich dich ansehe, habe ich das Gefühl, immer noch dein spitzbübisches Grinsen von damals zu erkennen, als du alles in trockene Tücher hattest und erleichtert über die Rettung deines Bootes warst. Und überhaupt, wo ist hier das nächste Eiscafé?“

„Gut gekontert Veronika, ich lade dich somit wohl nochmals ein. Dort drüben gibt es fabelhaftes Eis, dort in der Arkade!“ Bei diesen Worten streckte er den rechten Arm aus und wies mit dem Zeigefinger hinüber auf eines der riesigen Gebäude auf der anderen Straßenseite.

„Sag einmal Stephan, was fühlst du, wenn du hier auf diesem Platz stehst und die Vorgeschichte deiner Großmutter kennst? Kannst du dir vorstellen, dass sie hier am 7. November 1932 alleine auf dem damaligen Bahnhof saß und sich einsam und verlassen vorkam, in so jungen Jahren?

Mir ist ja schon mulmig hier, doch ich bin wesentlich älter und abgeklärter als sie es damals war. Ich stelle es mir nicht so einfach vor.“

Stephan blickt sich um und starrte auf den verglasten Eingang zur U-Bahnstation.

„Ich fühle eine Leere und eine tiefe Traurigkeit, denn irgendwie gibt es keine Information, was von hier aus geschah, nur halt später noch einmal kurz etwas über den kleinen Jungen, den sie zur Welt brachte, meinen Vater Paul. Die einzige Informationsquelle, die wir hatten, ist die Freundin und Nachbarin von Johanna, Frau Else Knippertz. Sie lebt noch in einem Altenheim im Berliner Stadtteil Friedenau.

Sie ist aber geistig oft nicht mehr so klar. Vater und ich, wir besuchen sie sehr häufig. Sie zog ihn ja auf und war wie eine zweite Mutter für ihn geworden. Wenn sie damals nicht direkt nach Kriegsende geheiratet hätte, wäre mein Vater sicherlich in ein Kinderheim gekommen.“

Nachdenklich schaute er Veronika an und spitzte die Lippen.

„Eigenartig, dass du gerade heute hier nach Berlin kommst, genau an dem Tag, als sich die Ankunft von Johanna auch wieder jährt, denn wie du ja weißt, ist es auf den Tag siebenundsiebzig Jahre her. Würde sie noch leben, wäre sie 93 Jahre alt. Also theoretisch wäre dieses möglich.

Es ist kaum erträglich nichts Konkretes zu wissen, vor allem für meinen Vater. Darüber schrieben wir ja schon des Öfteren per Mail.“

Stephan starrte weiterhin auf den Eingang der U-Bahnstation und seine letzten gesprochenen Worte zog er fast wie Kaugummi, denn etwas forderte plötzlich seine ganze Aufmerksamkeit.

„Entschuldige mich Veronika, bleib hier wo du bist, ich muss kurz in die Eingangshalle vom Bahnhof, ich glaube nämlich gerade, dass ich einer Fata Morgana unterlegen bin.“

Mit diesen Worten stürzte er in die Richtung der Glastüren des Gebäudes.

Veronika schaute verwundert hinter ihm her und sie beobachtete, wie er durch die Tür lief und eilig einem Mann folgte. Langsam zog sie ihren Koffer hinter sich her und ging in die gleiche Richtung, sie wollte wissen, was Stephan so aus der Spur gebracht hatte.

Nach wenigen Sekunden hatte sie auch die Halle betreten und als sie ihn mit einem alten Mann diskutieren sah, wurde ihr auch anders. Langsam und verwundert ging sie auf die beiden zu. Der Mann, mit dem er sich unterhielt, war steinalt.

Er war drahtig und ein großer Mensch, schlohweißes, aber doch immer noch kräftiges volles Haar. Zudem trug er einen weißen Schnauzbart, der seinem alten Gesicht schmeichelte.

Er wirkte sehr gepflegt und seine Kleidung schien auf den ersten Blick nicht nur sehr sauber und ordentlich, sondern auch der neuesten Mode zu entsprechen. Wären da nicht die vielen Falten in seinem Gesicht, würde man ihn um einiges jünger schätzen, alleine schon wegen seiner Aufmachung.

Aber deswegen hatte Veronika nicht gestutzt und beim Gehen fragend ihren Kopf schräg gelegt, sondern dieses hatte einen anderen Grund. Genau deswegen war wohl auch Stephan urplötzlich losgestürmt. Veronika hatte die beiden erreicht und stellte ihren Koffer ab.

Sie sprach kein Wort, doch sie sah den Fremden an und griff nach seinem linken Arm, hob diesen etwas in die Höhe, denn sie wollte sich vergewissern, dass auch sie nicht einer Sinnestäuschung unterlegen war.

Schweigend ließ sich der Herr das gefallen und als er in Veronikas Gesicht schaute und danach auf ihren Koffer, wurde er blass. Aber noch viel blasser als er es war, waren es Stephan und Veronika. Sie schauten sich beide an und nickten.

„Johanna!“, sagte der alte Mann plötzlich. „Bist du gut angekommen? War deine Reise beschwerlich?“

Stephan schluckte bei diesen Worten und Veronika öffnete erstaunt ihre Lippen und las laut die Worte vor, die auf einem Schild standen, welches dieser Herr in seiner linken Hand trug.

Herzlich Willkommen Johanna Wegemann

„Kommen sie!“, flüsterte sie heiser und nickte Stephan zu. „Lassen sie uns nach Hause gehen. Wir haben uns viel zu erzählen. Es sind viele Jahre vergangen und nun müssen wir uns endlich alles berichten, was geschehen ist.“

„Johanna! Ich habe es gewusst, dass du kommst!“ Der Fremde hatte Tränen in den Augen, als er diese Worte sprach.

Stephan war sprachlos. Dieses musste ein Zeitzeuge hier sein, der erste Mensch, den Johanna hier in Berlin getroffen hatte.

Nach wenigen Minuten fand auch er endlich wieder Worte und meinte: „Haben sie damals Johanna hier am Potsdamer Platz abgeholt? Es war der 7. November 1932. Trugen sie dieses Schild in ihren Händen? Es sieht schon so alt aus.