Ohne Johanna

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„Vater, bitte verzeih, dass ich eben so geschockt war. Wenn man nach siebenundsechzig Jahren plötzlich einen Vater bekommt, endlich seine Wurzeln entdeckt, das ist wie ein Wunder. Ich fühlte mich als halber Mensch, weil ich nicht wusste woher ich kam.

Der Namen meiner Mutter Johanna ist mir ein Begriff, denn Else Knippertz hatte mir ja das wenige, was sie von ihr wusste, erzählt. Das ist aber auch nicht viel, denn Johanna hat ihr gegenüber auch nie den Namen meines Vaters erwähnt. Sie wollte ihn, dich Vater, vermutlich schützen.“

Wilhelm Behren schaute seinen Sohn traurig an und streichelte ihm über den Kopf. „Ich verstehe das auch nicht und glaube mir, hätte ich dieses geahnt, ich hätte alles daran gesetzt, dich zu finden. Ich habe sie geliebt, ich liebe sie heute noch. Diese Ungewissheit macht mich schier wahnsinnig.

Meine Eltern sind wohl dahinter gekommen, dass wir ein Paar waren und da haben sie mit fadenscheinigen Ausreden Johanna praktisch hinauskomplementiert, ohne mit uns darüber zu sprechen. Doch Johanna und ich, wir hatten uns einen Treffpunkt ausgemacht, es war der Potsdamer Platz am 7. November, nachmittags gegen 15.00 Uhr.

Man schickte sie zurück in ihre Heimat an den Baldeneysee, doch wir wollten es nicht zulassen, dass man uns nicht trennte und deshalb vereinbarten wir dieses Treffen für wenige Monate später. Seit vielen Jahrzehnten fahre ich jährlich zum erwähnten Zeitpunkt an den Potsdamer Platz, doch erfolglos.

Sie ist nie zurückgekommen. Aber auch im Ruhrgebiet kam sie 1941 nie an. Es verlor sich für uns jegliche Spur. Wir waren der Meinung bis dato, dass sie dem Krieg zum Opfer gefallen war, doch jegliche Suchaktionen scheiterten.

Erst gestern ging ich wieder mit dem Begrüßungsschild von 1932 zum Potsdamer Platz. Doch auch da kam sie nicht an. Stattdessen wurden die beiden jungen Leute hier auf mich aufmerksam und sprachen mich an. Es war für mich, als wäre Johanna durch diese Begegnung neu geboren worden. Ich habe sie nie vergessen können und zudem habe ich nie wieder eine andere Frau geliebt.“

Die beiden Männer erhoben sich und umarmten sich. Luise Wegemann und Mathilde Behren weinten still. Stephan und Veronika rückten auf dem Sofa ganz eng beieinander und hielten sich an den Händen. Die Szene, die sich hier abspielte, war wie in einem Film. Wie am Tag zuvor abgesprochen, ersparte man aber Paul Wegemann die Geschichte von Johanna und dem Eiswagen.

Er musste dieses hier erst einmal verarbeiten. Es wurde ein sehr langer Nachmittag im Hause der Behren und zum Schluss führte man die Gäste hinauf in Johannas Zimmer.

Als sie die Treppenstufen hintereinander bestiegen, glich das Ganze einem Trauerzug. Alle schwiegen und waren in ihren eigenen Gedanken versunken. Oben angekommen, standen sie betroffen weiterhin still. Im Halbkreis versammelt, ließen sie alles auf sich wirken.

Mathilde nahm Johannas Foto in die Hand und reichte es an Paul Wegemann. Dieser nahm es zögernd in die Hand und schaute es an. Nun kamen ihm die Tränen, denn er sah zum ersten Male in seinem Leben das Bild seiner Mutter. Luise hakte sich wieder bei ihm unter, um ihm Halt zu geben. Immer wieder fiel sein Blick auf seinen Sohn Stephan, der seiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten war.

„Johanna lebt noch!“

Diese Worte vernahmen plötzlich alle Anwesenden aus dem Munde von Veronika. Stephan starrte sie an. Wie konnte sie so etwas felsenfest behaupten? Wie konnte sie eine vage Vermutung in den Raum werfen, wo doch dieses Hoffnung schüren würde?

Über sich selber erschrocken errötete sie und blickte alle ängstlich an.

„Es tut mir leid, ich weiß gar nicht, warum ich das jetzt gerade so sagen konnte. Ich spüre es instinktiv. Sie ist hier mit ihrer Energie, in diesem Raum für mich präsent, ganz so als wäre sie unter uns. Ich fühle, dass sie noch lebt. Bitte verzeihen sie mir, doch ich werde nicht aufgeben, bis ich dafür Beweise habe.“

Unsicher schaute man sie an, berührt von dieser Aussage und Hoffnung keimte plötzlich auf. Veronika nahm Paul Wegemann vorsichtig das Foto aus der Hand und schaute es an. Sachte setzte sie noch eine Behauptung oben drauf, die sie leise und bedächtig aussprach.

„Ich habe sie gesehen.“

Stephan erwachte aus seiner Erstarrung und ging zu ihr hinüber und rüttelte sie leicht an den Schultern.

„Veronika, was redest du denn da?“ Angst kam in ihm hoch, dass sie in ihrer Verfassung jetzt anfing über Johannas Eiswagen zu erzählen, doch als er in ihre Augen schaute, sah er etwas, was ihn schweigen ließ. Sie hatte ihre Augenlider zusammengekniffen und schien ganz weit weg zu sein, als würde sie etwas erkennen, es aber noch nicht deutlich beschreiben können.

„Johannas Gourmet-Eis! Potsdamer Platz.“

„Du meinst das Eiscafé am Potsdamer Platz hat etwas mit Johanna zu tun?“ Stephan wiederholte erstaunt diese Aussage.

„Nicht nur das. Hast du sie nicht gesehen?“

„Wann und wo?“

„Im Bahnhofsgebäude, die alte Dame im langen Regenmantel, die gestützt auf einem Spazierstock an uns vorüberzog, als wir mit Wilhelm sprachen.

Sie blieb kurz stehen, schaute mich eine Zeit lang an, doch ich war so abgelenkt wegen des Schildes, welches Wilhelm in seiner Hand trug. Sie schaute mir direkt in die Augen und nickte und sie… !“

Veronika überlegte und versuchte diese Szene vor ihrem geistigen Auge noch einmal ablaufen zu lassen.

„Sie nickte mir aufmunternd und leicht lächelnd zu, ja sie nickte,“, wiederholte sie, „ und humpelte langsam weiter. Du kannst sie eigentlich nicht gesehen haben, denn du und Wilhelm, ihr hattet ihr den Rücken zugekehrt. Sie verschwand kurze Zeit später in der Menschenmenge.

Ich habe es im Unterbewusstsein registriert.

Als wir mit Wilhelm das Gebäude verließen, drehte ich mich noch einmal flüchtig um und entdeckte sie wieder. Sie stand ganz weit von uns entfernt, hatte uns beobachtet und sie lächelte mich wieder an.“

Wilhelm schwächelte und taumelte.

„Lasst uns zum Potsdamer Platz fahren bitte. Ich muss in dieses Eiscafé. Es ist 17.00 Uhr, vielleicht haben wir Glück und es hat noch geöffnet!“, wisperte er.

Stephan und Paul nickten. Auch sie waren von Veronikas Worten in einen regelrechten Bann gezogen. Es klang sehr plausibel und einleuchtend, vielleicht war es eine Chance.

So verließen sie das Zimmer und gingen die Stiegen hinunter. Luise Wegemann und Mathilde Behren blieben zurück und die vier anderen machten sich auf den Weg.

Eine Stunde später standen sie winterlich angezogen im Schneegestöber an der Ampeluhr am Potsdamer Platz und schauten sich um. Die Menschen hasteten an ihnen vorüber und sie gingen langsam auf dieses Café, welches sich in einem der Geschäftsgebäude am Potsdamer Platz befand, zu.

Sie hatten Glück denn es hatte trotz der Witterung geöffnet. Die freundliche junge Bedienung fragte nach den Wünschen der gerade hineingekommenen Kunden.

„Wir möchten Johanna sprechen!“. Selbstsicher hatte Veronika diese Worte ausgesprochen.

Verwundert schaute die junge Frau sie an. „Sie möchten wen sprechen?“

„Johanna. Frau Johanna Wegemann.

Ihr gehört doch dieses Café oder ist das ein Irrtum unsererseits?“

„Einen Augenblick bitte, ich hole in der Küche meine Chefin.“ Mit diesen Worten huschte sie eiligst durch eine Schwenktüre in einen der hinteren Räume. Wenige Minuten später erschien eine etwas korpulente, aber sehr freundlich wirkende Dame mittleren Alters.

Diese trocknete noch gerade ihre Hände ab und trat vor die Eistheke.

„Sie möchten Johanna Wegemann sprechen meine Herrschaften? Es tut mir leid, diese Dame gibt es leider nicht. Meine Vorgängerin hieß Johanna, aber nicht Wegemann, sondern Wiegemann. Zudem, wenn sie diese Johanna meinen, sie würde das in ihrem Alter auch nicht mehr schaffen, hier zu arbeiten.

Da kommen sie leider achtzehn Jahre zu spät. Ich habe dieses Café 1991 übernommen, aber ihren Namen als Aushängeschild behalten, denn Frau Johanna war für ihr Eis berühmt geworden, besonders für das bekannte Johannisbeereis, welches nicht viele Cafés in ihrem Sortiment anbieten.“

Paul verstand gar nichts. Seine Mutter lebte also unter einem etwas abgewandelte Namen und hatte sich auch nie bei ihm gemeldet?

Es war für ihn erneut ein Schock. Was hatte diese Frau zu verheimlichen?

Wilhelm, Stephan und Veronika hatten nun wieder Jahre der Existenz nach 1978 von Johanna dazu bekommen. Sie sahen Paul förmlich an, was in ihm nun vorging.

Wilhelm wandte sich wieder an die Besitzerin des Cafés.

„Sagen sie, wo finden wir Johanna Wegemann?“

Hoffnungsvoll erwartete er nun eine Antwort.

Doch diese zuckte nur mit der Schulter und antwortete: „Es tut mir leid, dass ich ihnen da nicht weiterhelfen kann. Sie ist damals aus Berlin fortgegangen. Sie sagte mir, dass sie nun dieser Stadt den Rücken kehren müsse und wegziehen würde.

Zu viele Erinnerungen würden sie prägen und sie habe viel zu lange in einem starken Schmerz gelebt. Jeder Schritt, den sie hier gehen würde, täte ihr in ihrer Seele weh.

Sie habe keine Heimat. Weder wüsste sie, woher sie eigentlich kam, noch wohin sie ihr weiterer Weg führen würde. Sie hätte niemanden, dem sie sich anvertrauen könne und fühle sich hier sehr einsam unter all den vielen Menschen in der großen Stadt.

Zudem empfahl sie mir das Rezept des Johannisbeereis niemanden zu verraten, es wäre mein Kapital. Die Kunden würden es so sehr mögen, dass sie extra dafür hier in dieses Café kämen. Und Vorsicht, die Konkurrenz wäre auf der Hut.

Nach der damaligen Geschäftsübergabe habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.“

 

Paul setzte sich auf einen der Caféhausstühle. Er wirkte müde und blass. Das war alles zu viel für ihn heute gewesen. Die Chefin rief nach der Bedienung, sie solle Cognac für die Gäste bringen, denn sie erkannte sofort, dass die beiden älteren Herren hier in einem ziemlich desolaten Zustand waren.

Dankbar nahmen die beiden das angebotene Getränk zur Stärkung an. Veronika nahm auch Platz und nickte still vor sich hin. Sie war nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, dass sie gestern Johanna im Bahnhofsgebäude hier am Potsdamer Platz gesehen hatte.

Doch wo fing nun die Suche an? Sollte sie zunächst das Buch lesen, welches sie morgen im Antiquariat abholten oder sollte sie in sich gehen und logisch nachdenken, vielleicht über Ämter nachforschen wohin Johanna damals 1991 gegangen war?

Eigentlich erschien ihr beides wichtig. Fest stand, dass Johanna mit einem zusätzlichen Buchstaben ihren Nachnamen verändert hatte. Denn schließlich musste sie sich ja ausweisen, wenn sie ein Gewerbe oder eine Wohnung angemeldet hatte.

Doch heute nach einer Johanna Wiegemann zu forschen, das war nicht so leicht, denn diese gab es ja gar nicht, zumindest war dieser Name nicht ihrer Person zugehörig.

Nach dem Krieg, wo viele Papiere vernichtet waren, muss es wohl ein leichtes gewesen sein, seine wahre Identität zu verändern.

Sie hatte diese Maßnahme gewählt, um nicht entdeckt zu werden, warum auch immer. Somit hat sie später vielleicht wieder einen anderen Namen gewählt, damit niemand sie auffinden konnte.

Es war ein schwieriges Unterfangen. Eindeutig war allerdings, dass es sich bei Johanna Wiegemann um Johanna Wegemann gehandelt haben musste, denn das Johannisbeereis oder anderen Beschreibungsdetails, die aus dem Gespräch mit der neuen Cafébesitzerin herauszuhören waren, wie zum Bespiel den nachziehenden Fuß, das konnte nicht zufällig alles identisch mit der Person der gesuchten Johanna sein.

Nach einer halben Stunde verließen sie nachdenklich und schweigend die Lokalität und fuhren wieder Richtung Koenigsallee.

Ein wichtiger Hinweis

Berlin-Charlottenburg - Montag, 9. November 2009

Es war noch früh am Morgen. Es hatte die ganze Nacht hindurch geschneit. Veronika stand auf und ging ans Fenster und schaute auf den beleuchteten Funkturm.

„Was für ein Anblick!“ Tief einatmend verweilte sie eine Weile dort, hatte sich die Wolldecke um ihren Körper gewickelt und dachte über die vergangenen beiden Tage nach. Heute würden sie ins Antiquariat nach Berlin-Mitte fahren um Johannas Buch abholen.

Ihre Erinnerung ging zurück in die Zeit, als sie mit vierzehn Jahren hier in dieser Stadt ihren Schulausflug hatte. Die Frage, die sich ihr schon lange stellte war, warum sie damals nicht in den Osten wollte.

Was war so bedrückend für sie gewesen? Als ihre Schulkameraden abends zurückgekommen waren und von diesem Ausflug berichteten, erwähnten sie unter anderem auch den Besuch der Friedhöfe St. Hedwig in Weißensee und dem nebenliegenden Jüdischen.

Warum hatte sie damals auf ihre Mitschüler gestarrt, als sie davon sprachen? Sie wusste aus dem Geschichtsunterricht von diesem Jüdischen Friedhof und genau auf diesem waren in der Zeit des Nationalsozialismus weit über Tausende von Juden beigesetzt worden.

Zudem war es bekannt, dass es dort eine Grabstätte gab, wo die Asche von Hunderten getöteten Juden aus dem Konzentrationslager in einen Grabhügel beerdigt worden waren.

Sie schüttelte sich, es waren wieder die unangenehmen Gefühle in ihr, genauso wie damals. Sie hörte plötzlich Bomber fliegen, hörte den Fliegeralarm über Berlin und dieses endlose Sirenengeheul drang ihr bis ins Mark und sie erschauerte. Zudem sah sie Menschen verwirrt und ängstlich hasten und sie hörte weinende Frauen.

Sie besann sich auf den Tag, an dem Johanna für immer verschwand. Es war der 1. März 1943. An diesem späten Nachmittag hatte man sie das letzte Mal offiziell gesehen. Dieses Datum fraß sich in Veronika hinein, wie ein Holzwurm in einem alten Schrank.

Noch in der Wolldecke gehüllt, drehte sie sich herum, ging an den Schreibtisch und startete den Computer. Sie gab das Datum 1. März 1943 ein und erlas immer wieder das gleiche.

Frauenaufstand in der Rosenstraße! Die Rosenstraße ist eine kleine Gasse nahe dem Hackeschen Markt, nur wenige Schritte entfernt von den Hackeschen Höfen.

Eine deutsche Widerstandsgeschichte im Kriegswinter 1943. Berliner Frauen leisteten hier "mit der Kraft des zivilen Ungehorsams" erfolgreich Widerstand gegen die Willkür des NS-Regimes.

Durch tagelange friedliche Demonstrationen verhinderten diese mutigen und entschlossenen Frauen die Deportation ihrer Männer oder Angehörigen in Konzentrationslager und wurden durch ihre einzigartige Aktion zu Heldinnen wider Willen.

Ja, davon hatte Veronika schon einmal gehört, die Frauen in Mischehen mit jüdischen Männern, die Frauen, die tagelang dafür kämpften, es aber auch mit Krawallen und Kämpfen teilweise abgegangen war. Es waren hunderte von Frauen und es wurden immer mehr.

Aber Johanna war nicht verheiratet, was hätte sie veranlasst dorthin zu gehen? Oder geriet sie vielleicht zufällig in diesen Aufstand, weil sie in dem Gebiet lebte? Warum verschwand sie an dem besagten Tag, hatte es wirklich damit etwas zu tun?

Stephan kam die Treppe hinunter, umarmte Veronika und gab ihr zur Begrüßung einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange.

„Na du Googlerin, wonach suchst du denn schon am frühen Morgen im Netz?“

„Es ist das Datum Anfang März 1943 als Johanna offiziell verschwand. Ich habe es eingegeben, um nachzulesen, was damals an dem Tag in Berlin geschah.

Es gab diesen Aufstand der Frauen in der Rosenstraße und es gab aber auch den bis dahin schwersten Luftangriff in der Nacht auf den 2. März.

Zweihundertfünfzig Bomber der Royal Airforce warfen ungeheuerliche Mengen an Spreng- und Brandbomben ab und jetzt höre, der Schwerpunkt des Angriffs war Charlottenburg, Wilmersdorf, aber auch die St. Hedwig-Kathedrale am Bebelplatz, der nur wenige hundert Meter von der Rosenstraße entfernt liegt, wurde zum Angriffsmittelpunkt.

Alles versank in Schutt und Asche.

Und das lese ich hier gerade und ich muss sagen, dass es mich sehr erstaunt, denn eben noch, als ich am Fenster stand und ganz in Gedanken an meine frühere Klassenfahrt auf den Funkturm starrte, fiel mir die Szene ein, als meine Klassenkameraden abends von ihrem Ostberlinausflug zurück zur Jugendherberge kamen und sie davon erzählten, dass sie den St. Hedwig Friedhof in Weißensee besucht hatten.

Er liegt direkt neben dem Jüdischen Friedhof, der bekannteste der jüdischen Friedhöfe wie du weißt, auf denen auch die jüdische Mitmenschen bestattet wurden, die vor lauter Not in den Freitod gegangen waren.

Es gab viele Menschen, die verzweifelten, als man die Juden am 27. Februar 1943 von ihren Zwangsarbeitsplätzen in den Fabriken und ohne Vorwarnung abholte und in Sammellager steckte.

In das Gestapogebäude in der Rosenstraße wurden die Halbjuden oder die Juden, die mit Ariern verheiratet waren, gebracht. Doch die Mütter und Ehefrauen, sowie Angehörige gingen auf die Barrikaden.

Eine Woche lang waren dort stille Proteste und die Frauen wurden verjagt, doch sie kamen immer wieder zurück, ließen sich nicht einschüchtern, obwohl man sie mit Maschinengewehren bedrohte.

Ich habe das Gefühl, als wenn Johanna dort mittendrin gewesen ist und auch am Abend die Kathedrale St. Hedwig aufgesucht hatte, um dort zu beten. Doch Stephan, da kam es zu diesem Luftangriff, Johanna hatte eine schwere Kriegsverletzung am Kopf und an ihrem Bein.

Womöglich hat sie sich dadurch damals in dieser Nacht ihre Verletzungen zugezogen und wenn ich es recht überlege, hat sie eventuell dabei ihr Gedächtnis für eine Zeit lang verloren. Man konnte sie deshalb auch nicht wiederfinden, wenn sie anonym in einem Lazarett gelegen hat über viele Monate.

Ihre wahre Erinnerung kam vermutlich erst viele Jahre später wieder zurück und sie hatte nicht mehr den Mut in ihr altes Leben einzusteigen, dort, wo es damals am 1. März 1943 aufgehört hatte. Ich muss zu diesem Friedhof!“

Stephan schaute Veronika lange an. Die Vermutungen, die sie hier aussprach, waren schon sehr interessant und auch mit welcher Selbstsicherheit sie dieses alles sagte, es klang verdammt plausibel. Aber wie vertrug sich das alles mit dem Besuch auf den Friedhof und überhaupt, welchen Friedhof meinte sie denn jetzt?

Warum Friedhof, wo sie doch gestern so überzeugt davon gewesen war, dass sie Johanna vorgestern bei ihrer Ankunft am Potsdamer Platz gesehen habe, obwohl die Dame vom Eiscafé behauptet hatte, dass sie Berlin 1991 den Rücken gekehrt hatte.

„Veronika es ist der reinste Wirrwarr mittlerweile. Wir werden zum Friedhof fahren und im Anschluss ins Antiquariat. Welchen Friedhof meinst du genau?“, fragte Stephan.

„Es ist der St. Hedwig-Friedhof in Weißensee. Ich weiß noch nicht einmal, was ich da möchte, doch ich fühle, dass er von großer Bedeutung sein könnte.“

„Also dann, frühstücken und auf nach Weißensee, ehe wir das Buch holen. Aber wir könnten auch vorher noch zum Bebelplatz diese Kathedrale besichtigen. Was hältst du davon?“

Erschrocken schaute Veronika Stephan an und nickte zögerlich. Eine Stunde später starteten sie und fuhren in Richtung Berliner Innenstadt.

Als sie den Bebelplatz betraten schaute Veronika sich vorsichtig um. Vor ihr lag die Kathedrale, deren helle runde, grünlich leuchtende Kuppel von weitem her schon ins Blickfeld fiel. Oben auf der Kuppel war ein Kreuz aufgesetzt.

Der frühere Eingangsbereich konnte nach der Zerstörung wieder neu instandgesetzt werden, denn einige Grundmauern hatten den Krieg überstanden. Veronika lehnte sich mit einer Hand gegen eine der meterhohen Säulen, die die hohen Eingangstüren der Kathedrale links und rechts einfassten und diese dadurch fest in ihrem Griff hatten.

Ein unangenehmer Schauer durchlief dabei ihren ganzen Körper und sie zitterte innerlich. Plötzlich hielt sie sich ihre Ohren zu, denn sie hatte ein ohrenbetäubendes Geräusch im Nacken.

Dabei zuckte sie zusammen und legte die Stirn gegen die kalte Steinfassade des Giganten.

„Was ist los mit dir?“, besorgt schrie Stephan auf und riss sie an sich. Andere Menschen wurden bereits auf sie aufmerksam.

„Neiiiii…..n, sie kommen, sie kommen zu Hunderten. Höre doch. Wir müssen hier weg und uns in Sicherheit bringen.“ Sie riss ihn an der Jacke, zur Flucht bereit.

„Wer kommt zu Hunderten? Was ist mit dir Veri?“

„Hörst du nicht das Geschwader, diese dumpfen Töne, spürst du nicht dieses Vibrieren in der Luft? Sie kommen immer näher. Die Sirenen warnen bereits.“

Mit aufgerissenem ängstlichem Blick starrte sie Stephan an.

Dieser war völlig überfordert, denn das, was er hier gerade mit ihr erlebte, schien wie ein Déjà-Vue Erlebnis zu sein, welches Veronika gerade durchlebte. Doch es konnte nicht ihr eigenes Erinnerungsvermögen wachgerüttelt haben, denn sie hatte zur Zeit des 2.Weltkrieges noch nicht gelebt.

„Komm, lass uns hier fortgehen. Da bewegt dich ganz schön etwas und ich habe den Anschein, als würdest du in eine andere Epoche zurückversetzt sein und hier gerade etwas erleben, was bereits viele Jahrzehnte zurückliegt.

Aber vor allem Veronika, du hast das nicht erlebt damals, wenn deine Theorie stimmt, war es Johanna.

Wieso kannst du dieses hier und heute auch so empfinden?“

„Ich weiß es nicht!“, schrie sie verzweifelt immer noch dieses Dröhnen in ihren Ohren hörend. Allmählich entfernten sich diese angsteinflößenden Geräusche. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie Stephan an, verunsichert über das, was sie gerade erlebt hatte.

Langsam verließen sie den Platz vor der Kirche und gingen zurück zu ihrem Fahrzeug.

„Sollen wir es nicht lassen und einfach nun das Buch holen?“

Stephan war sehr besorgt über Veronikas Zustand.

„Nein, das geht nicht!“ Energisch hatte sie diese Worte ausgesprochen. „Ich muss zu diesem Friedhof. Jahrzehntelang habe ich etwas in mir verankert, ich fühlte dieses Ungute schon als ich mit der Schule 1975 hier war. Ich muss endlich wissen, was mich im Unterbewusstsein bewegt und vor allem, wieso wir beide, du und ich, in vermutlich ein und derselben Geschichte involviert sind.

 

Warum kreuzen sich unsere Wege erneut nach so vielen Jahrzehnten, wieso spüre ich Dinge, die deine Großmutter anbelangen?

Ich muss es herausfinden, ich möchte endlich zur Ruhe kommen.“

„Vermutlich hast du Recht. Geht es dir denn jetzt wieder etwas besser und bist du gefestigt genug?“

„Ja, es ist alles in Ordnung.“, sagte sie überzeugend, doch in ihrem Inneren sah es ganz anders aus.

Auf der Fahr zur Smetanastrasse hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Nach ungefähr fünfzehn Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht und parkten das Auto. „Einer von wenigen katholischen Friedhöfen hier bei euch in Berlin!“, bemerkte Veronika.

„Katholiken kamen nach Berlin mit zunehmender Industrialisierung und ich habe mich mit diesem Friedhof St. Hedwig ein wenig auseinandergesetzt, damals schon, nach der Klassenfahrt. Hast du ihn schon einmal besucht?“

„Nein, nicht dass ich wüsste.

Die Vorfahren mütterlicherseits sind alle evangelisch und sind ganz woanders beigesetzt worden und väterlicherseits, nun ja, da gab es ja bis in den letzten Tagen keinerlei Hinweise.“

Langsam schritten sie auf den Eingang zu und betrachteten zwei, in rotem Backstein gemauerte Pfeiler, die durch ein schmiedeeisernes Tor miteinander verbunden waren. Stephan drückte das Tor auf und es gab knarrend und quietschend nach. Anschließend betraten sie das Friedhofsgelände.

Einige Sonnenstrahlen drängelten sich förmlich durch die leicht aufgerissene Wolkendecke hin durch. Es hatte aufgehört zu schneien. Veronika sah sich um und entdeckte die neugotische Kapelle. „Bewundernswert, wie anmutig sie erscheint!“, ließ sie verlauten.

Sie wurde mit einem Mal sehr ruhig und nachdenklich, doch zum wiederholten Male heute Morgen, bedrückte sie etwas. Nervös schaute sie Stephan an und zeigte in die südöstliche Richtung.

„Dorthin!“, sagte sie selbstsicher und zeigte in einen Weg, der rechts neben ihnen lag. Somit zog sie los und Stephan folgte ihr schweigend. Dabei schüttelte er mit dem Kopf, denn ihm war immer noch nicht klar, was sie so zielstrebig machte, ganz so, als wüsste sie ganz genau, wohin sie gehen mussten.

Nach wenigen Metern bog sie in einen rechten Querpfad ab und folgte diesem bis ungefähr zur Hälfte.

Von weitem sahen sie südlich die Friedhofsmauer und darauf steuerte sie eilig weiter zu. Als sie diese erreicht hatte, stoppte sie abrupt und wandte ihr Gesicht gen Himmel.

Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die, noch immer ziemlich dichte Wolkendecke vorwitzig lugten, fielen auf ein großes altes schwarzes Granitdenkmal, welches unmittelbar vor dieser Friedhofsmauer stand.

Durch dieses Anstrahlen glänzte es etwas und Veronika ging zielstrebig darauf zu. Kaum hatte sie diese Grabstätte erreicht, verdichtete sich die Wolkendecke wieder gänzlich. Doch das störte sie weniger, denn sie drehte sich herum, schaute ihren Freund an und meinte. „Wir sind da!“

„Wo sind wir?“

„Wir sind da, hier muss es sein. Ich weiß, dass es hier sein muss. Hab ein wenig Geduld, ich weiß noch nicht, was uns hier erwarten wird, doch ich spüre, dass man uns hier her geführt hat, um eine bestimmte Grabstätte zu finden.“

Stephan nickte nur und sein Herz begann etwas schneller zu schlagen.

Was, wenn man eventuell Johannas Grab hier entdecken würde? Was sollten sie denn wohl sonst hier finden? dachte er. Eifrig lasen beide nun die Inschriften auf den Grabmälern und plötzlich wurde Stephan kreideweiß und räusperte sich.

Bei Veronika sträubten sich urplötzlich die Nackenhaare, denn sie sah ihrem Freund ins Gesicht und sie erschrak vor diesem, seinem Blick, den er auf einen der Grabsteine gerichtet hatte.

Er schaute sie an und wieder auf die Inschrift. Sie wusste, dass sie hier etwas entdecken würde, aber sie wusste nicht, was es war, darum wurde ihr nun auch sehr mulmig und langsam ging sie hinüber an die besagte Stelle und stellte sich neben ihren Freund.

Sie wendete ihren Blick auf den Grabstein und schrie entsetzt auf. Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor dem Mund und schaute Stephan an.

Dieser schluckte und zuckte nervös mit den Schultern. Er war sich nicht wirklich im Klaren, was das jetzt hier zu bedeuten hatte. Veronika las langsam und deutlich die Inschrift auf diesem Stein.

JHS

Sr. Marie Dupont

*

21. Juli 1885 Duisburg

15. März 1975 Berlin

R.I.P.

Das Grab war bereits stillgelegt, doch der Grabstein war noch erhalten. Veronika schossen Tränen in die Augen, denn das übertraf nun ihre kühnsten Vorstellungen von dem, was sie hier erwartet hätte.

Stephan stützte sie. Verschiedene Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Anstatt man nun hier etwas entdeckte, was mit seinen Vorfahren zu tun haben würde, entdeckte Veronika vermutlich die Grabstätte einer ihrer Ahnen.

„Wer war sie?“

„Sie ist die Schwester meines Urgroßvaters gewesen.

Soweit ich mich erinnere und das weiß ich auch nur aus den Erzählungen meines Urgroßvaters, der in den siebziger Jahren verstarb, verschwand seine

Schwester Marie Anfang Neunzehnhundertirgendwas. Es war der erste Weltkrieg und von einem auf den anderen Tag war sie plötzlich verschollen.

Sie sollte mit in das Textilunternehmen meines Ururgroßvaters einsteigen, doch dazu kam es nicht mehr. Ihre Eltern waren von Frankreich an den Rhein gezogen und gründeten diese Textilproduktion mit französischer Mode.

Mein Urgroßvater war der ältere der beiden, er führte den Betrieb später alleine weiter und mein Großvater übernahm ihn schließlich. Als der zweite Weltkrieg hereinbrach, wurde diese Firma auch enteignet und damit wurde das endgültige Aus besiegelt.

Mein Großvater hatte den Krieg nicht unbescholten überstanden und mein Vater hatte sich einem anderen Berufszweig verschworen. Dupont-Moden gab es somit bis ungefähr 1940.“

„Aber was war mit Marie genau?“

„Wie gesagt, ich weiß es nur aus der Überlieferung. Sie war ledig, hatte also nie geheiratet oder eine Familie gegründet. Der erste Weltkrieg brach herein und das allgemeine Chaos mit dazu. Knapp zwei Jahre nach Kriegsausbruch, es war Ende 1915 verschwand Marie und man hörte niemals mehr etwas von ihr. Jahrelange Nachforschungen blieben ergebnislos. Ganz so, wie bei…..!“

Nachdenklich schaute sie Stephan an.

„Ja, ganz so wie bei der Suche nach Johanna. Zwei Frauen verschwinden, die eine im ersten und die andere im zweiten Weltkrieg.

Es scheint, als wenn die Kriege diese Beiden aus ihrem Leben gerissen hätten.“

„Was mich wundert, dass du nun hier nach Berlin kommst und unbewusst in die Spuren dieser Frauen gerätst, ganz so, als würdest du von ihnen geführt, als wenn man dich dazu benutzt, dem ganzen endlich Klärung zu geben.“

Grübelnd kratzte Stephan sich ans Kinn. Veronika machte ein Foto vom Grabstein und simste es ihrem Vater kommentarlos zu. Nach wenigen Minuten summte ihr Handy und auch wenn es vielleicht nicht der richtige Ort war, um zu telefonieren, nahm sie das Gespräch an.

„Wo bist du?“ rief ihr Vater aufgeregt.

„Vater, ich bin in Berlin-Weißensee auf dem St. Hedwig Friedhof an der Smetanastrasse. Ich habe gerade das Grab der Schwester deines Großvaters entdeckt. Ich hatte eine Vorahnung, dass ich hier etwas finde, doch ahnte ich nicht im Geringsten, dass es so etwas in dieser Richtung sei.“

„Ich bin sprachlos. Da wurde jahrzehntelang geforscht und du fährst nach Berlin und deckst alles auf. Wir müssen die Behörden dort kontaktieren, ich muss wissen, was geschehen ist. Es scheint, als wäre sie einem Orden beigetreten, denn das Sr. sagt doch so etwas aus oder nicht? “

„Ja, damit scheinst du Recht zu haben und bitte mach dir keine Sorgen, ich habe hier in Berlin eh noch einiges zu klären. In dem Falle werde ich das direkt mit dazu packen. Bitte bleib schön ruhig, man hat jetzt wenigstens die erste Gewissheit, wohin es sie damals vertrieben hat.“

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