Ohne Johanna

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Hoffnungsvoll biss er sich auf die Unterlippe.

„Ja, deswegen bin ich ja auch wieder hier. Ich komme seit achtundsechzig Jahren jedes Jahr hierher. Immer am 7. November, kurz nach fünfzehn Uhr. Sie hat mir versprochen, dass wir uns hier an dieser Stelle um die gleiche Uhrzeit treffen würden, hier auf dem Bahnhof, an diesem Tag, somit würden wir uns wenigstens nicht verfehlen in dieser großen Stadt.“

„Wie heißen sie?“ hakte Stephan nach.

„Entschuldigung, mein Name ist Wilhelm Behren. Behren & Co. Wir machen in Kleidung. Wir haben in Kleidung gemacht, bis zum Krieg. In diesem wurde unsere Fabrik umgerüstet, man benötigte Kleiderfabriken für andere Dinge.

Sie wurde uns enteignet und die Produktion wurde umgestellt auf Uniformen. Ich sollte die Firmenleitung gerade übernehmen, doch dazu kam es erst viel später, denn ab dato war ich nun mein eigener Angestellter oder der Wehrmacht unterlegen, um es besser auszudrücken. Erst nach dem zweiten Weltkrieg bekamen wir unsere Firma wieder zurück und ich baute sie erneut auf.“

„Behren Textil ist mir ein Begriff. Bis in die heutige Zeit sogar. Wo leben sie Herr Behren?“ fragte Stephan.

„Ich lebe am Grunewald. Darf ich sie einladen, meine Gäste zu sein? Aber Moment einmal, wer sind sie eigentlich? Bei ihnen junge Dame, habe ich im ersten Moment gedacht, sie seien Johanna. Entschuldigen sie bitte die Verwechslung.“

Der freundliche ältere Herr rieb sich verlegen den Nacken.

„Leider bin ich es nicht, Herr Behren. Ich heiße Veronika Dupont und lebe in Wiesbaden. Gebürtig bin ich allerdings aus Duisburg am Niederrhein. Meine Vorfahren, damit meine ich die Vorfahren, vor dem ersten Weltkrieg, noch bevor meine Großeltern auf die Welt kamen, waren aus der Bretagne.

Daher auch der französisch klingende Nachname. Und ich habe nie geheiratet und stamme aus der Linie der männlichen Nachfahren der Duponts,“, lachte sie, „deshalb trage ich auch noch immer diesen Namen!“

Herr Behren nickte und schaute erwartungsvoll Stephan an, um auch von ihm zu hören, mit wem er es zu tun hatte hier. Stephan wurde nervös, wippte von einem Bein auf das andere und stotterte: „Mein Name ist Stephan Wegemann. Ich bin Johannas Enkelsohn Herr Behren.

Ich habe eine Notiz in Johannas Tagebuch gelesen, worin steht, dass sie hier am 7. November 1932 in Berlin am Potsdamer Platz eintraf und jemand sie abholen würde, der ein Schild trägt, auf dessen ihr Name stehen würde. Das ist auch der Grund, warum ich auf sie aufmerksam wurde, als sie eben hier mit genau solch einem Schild das Bahnhofsgebäude betraten.“

Herr Behren schwankte als er diese Worte vernahm. Erschrocken griff er nach Stephans Hände und Veronika reichte ihm ebenfalls ihre Hand zu seiner Unterstützung.

„Sagen sie, dass das nicht wahr ist. Johanna hat einen Enkel? Also hatte sie auch einen Sohn oder eine Tochter.

Nein Sohn vermute ich, sie heißen ja auch Wegemann. Somit hat sie ein Kind bekommen, ohne zu heiraten? Ich schließe das aus ihren Worten, denn früher war es ja üblich, dass man als Ehefrau den Namen des Mannes übernahm.“

„Lassen sie uns fahren Herr Behren. Es ist für sie sehr anstrengend. Wir bringen sie nach Hause und besprechen alles in Ruhe. Ich werde ihnen die wenige Dinge erzählen, die ich leider nur kenne.“

„Herr Behren, ich erkläre ihnen gerne, warum ich heute hier nach Berlin gekommen bin!“, fügte Veronika mit an.

„Mein Fahrzeug steht am Karlsbad hinter dem Schöneberger Ufer. Wenn wir langsam gehen, werden sie es schaffen und brauchen sich nicht in eine U-Bahn zwängen, um nach Hause zu fahren. Oder sind sie mit einem Taxi gekommen?“ fragte Stephan.

„Nein, ich habe einen Fahrer. Er hat mich hier eben abgesetzt, so wie damals im Jahre 1932 als wir mit unserem Automobil vorfuhren. Leider ist mein früherer Fahrer mittlerweile verstorben. Aber Heinrich ist auch sehr zuverlässig.

Ich werde ihn über das Handy anrufen, dass er uns hier abholen soll und er wird uns zu ihrem Fahrzeug bringen, denn ich würde gerne mit ihnen weiterfahren,“ antwortete Herr Behren.

Als sie das Bahnhofsgebäude verließen begann es zu nieseln. Es war ein grauer trüber Novembertag. „Es ist das gleiche Wetter, wie damals!“, bemerkte der ältere Herr und da winkte er auch schon einem Wagen zu, der im Parkverbot angehalten hatte, um die drei Fahrgäste aufzunehmen.

Sie lotsten ihn zum Schöneberger Ufer und dort stiegen sie wieder aus, um in Stephans Auto umzusteigen.

Nun begann die Fahrt durch das langsam dunkel werdende Berlin und Veronika staunte wie ein kleines Kind, denn all die Veränderungen, die sie hier sah, imponierten ihr schon sehr.

Einiges kam ihr in der Tat noch bekannt vor, doch vieles schien ihr verändert oder sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.

Nach dreißig minütiger Fahrtzeit erreichten sie die Koenigsallee in Charlottenburg. Villen aus der Gründerzeit spiegelten das Bild des Baustils der Jahrhundertwende. Herr Behren wies Stephan an, dort drüben an der hellgelb gestrichenen alten Villa zu parken und still stiegen sie aus.

Berlin, Koenigsallee – Die alte Zeit

Veronika fror, denn es war mittlerweile sehr kalt geworden. Zudem war sie ziemlich erschöpft und müde von der langen Reise. Als sie die alte Steintreppe zur Haustüre bestiegen, kamen ihr wieder Erinnerungen an Bad Neuenahr wo sie vor kurzem noch in solch einem ebenso alten Haus unglaubliche Dinge erlebt hatte. Für kurze Momente wurde sie noch einmal von einem Schmerz überfallen, als sie an Ruppert dachte, doch sie schüttelte es ab, denn das war nicht mehr ihre Geschichte.

Eine ältere Dame öffnete die Türe. Sie wirkte fast genauso steinalt wie Herr Behren. Freundlich, aber auch erstaunt, begrüßte sie die ankommenden Gäste.

„Darf ich ihnen meine Schwester Mathilde Behren vorstellen?“, sagte Wilhelm Behren, während Veronika und Stephan ihr die Hand zur Begrüßung reichten. „Meine Schwester ist hier die rechte Hand, sie sorgt und kümmert sich immer noch vorbildlich um unseren gemeinsamen Haushalt. Übrigens, dieses Haus hier erbauten unsere Eltern im Jahre 1902. Seitdem ist es im Familienbesitz und es ist groß genug, dass wir beide, also meine Schwester und ich, die wir nie geheiratet haben, genügend Platz finden.“

Auf Veronika wirkte das irgendwie traurig, denn sie konnte sich sofort das Leben der älteren Herrschaften hier vorstellen, wie sie all die letzten Jahrzehnte hier auf sich gegenseitig aufgepasst und sich versorgt hatten, in stiller Zufriedenheit, denn so wirkten sie auf sie. Irgendwie zufrieden, doch hatten sie beide auch einen traurigen Blick. Nachdem sie sich der Mäntel und Mützen entledigt hatten, schwieg Mathilde Behren zunächst und musterte erschreckt Veronika, deren Gesicht nun deutlich zu erkennen war.

Verwirrt bat sie die Gäste in das angrenzende Wohnzimmer, von wo aus man einen wunderschönen Blick in einen großen verglasten Wintergarten hatte.

Das Feuer im Kamin brachte wohlige Wärme und Stephan und Veronika fühlten sich dort direkt wohl. Das Zimmer war mit sehr alten Möbeln bestückt, wirkte aber trotzdem nicht unmodern, sondern eher zeitlos und sehr einladend, besonders die dick gepolsterten Sitzmöbel luden zum Verweilen ein.

Frau Behren betätigte ein goldenes Glöckchen, welches auf einem Servierwagen lag und wenige Sekunden später erschien ein Mädchen in einem schwarzen wadenlangen Kleid und einer kleinen weißen Spitzenschürze, die sie umgebunden hatte. Leise erkundigte sie sich nach dem Wunsch der Herrschaften.

Sie erhielt den Auftrag Tee und Gebäck zu servieren, während alle Anwesenden erst einmal Platz nahmen.

Dass es so etwas Vornehmes noch gibt, das ist hier ganz so, als wäre die Zeit in der Frühepoche des letzten Jahrhunderts stehen geblieben, dachte Veronika im Stillen.

„Sicherlich sind sie sehr müde!“, wandte Herr Behren das Wort nun an die für ihn noch junge Frau. „Ihnen muss es so ergehen wie Johanna damals, denn ihre Reise war ja heute eigentlich noch etwas weiter, wenn sie aus Wiesbaden kommen.“

„Ja ein wenig bin ich schon geschafft!“, seufzte sie ehrlich, doch ihre Neugierde auf das Ganze hier weckte in ihr wieder die müden Geister.

Mathilde starrte sie immer noch entgeistert an und ihr Bruder bemerkte es sofort.

Auch kannte er den Grund dafür, denn ihm war es eben im Bahnhofsgebäude nichts anders ergangen, als er Veronika zum ersten Mal sah.

„Ist sie wieder nicht angekommen?“ Den Blick nicht von Veronika abwendend, stellte sie ihrem Bruder diese Frage, aber irgendwie wirkte sie auch geistesabwesend.

„Nein Mathilde, sie kam wieder nicht!“, meinte er traurig. „Doch dafür bringe ich dir ihren Enkel mit, Stephan Wegemann, der junge Mann, den du hier siehst. Er war zufällig am Potsdamer Platz um dort Veronika Dupont, seine Begleiterin hier, abzuholen. Sie haben mich gesehen, als ich mit dem Empfangsschild für Johanna an ihnen vorüberzog und sprachen mich verwundert an.“

Mathilda Behren war blass geworden.

„Ich habe es gewusst, ich wusste es einfach, dass Johanna ein Kind bekommen haben musste. Als ich sie das letzte Mal sah, Ende Juli 1941, da ging es ihr nicht besonders gut, sie wirkte blass und müde. Aber auf meine Frage hin, wie es denn um sie gestellt war, gab sie keine Antwort.

Ich bezog es darauf, dass sie mitten in ihrem Umzug steckte und es ihr deshalb so schlecht ging. Doch nun wird mir einiges klar.“ Tränen standen in ihren Augen, denn sie sah vor ihrem geistigen Auge die dramatische Situation von damals wieder vor sich.

 

Stephan starrte sie an. Er wurde sehr nervös und rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her, denn nun wusste er, was er hier gleich zu hören bekam. Es war die Geschichte bis Juli 1941, die Geschichte seiner Großmutter, die Zeit vom 7. November 1932, die am Potsdamer Platz hier in Berlin begann und nun bis Juli 1941 präsent war. Das erste wirkliche Zeitfenster aus dem Leben von Johanna ohne Spekulationen, ohne dass irgendetwas unklar sein würde, das würde er nun erfahren. Vielleicht konnte man damit schon etwas anfangen.

„Erzähle du es ihnen Mathilde, mich wühlt es zu stark auf!“, schluckte Herr Behren schwer und schwieg.

Nachdem der Tee serviert worden war, schauten alle nun gespannt Mathilde an. Stephan rückte etwas näher an Veronika, er hatte Angst und ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er war froh, dass Veronika spürte, wie er sich fühlte und so legte sie ihre Hand auf seine, um ihm das Gefühl zu geben, dass er nicht alleine war und sie ihm beistand.

Nun begann Mathilde leise und mit Bedacht ihre Geschichte zu erzählen.

„Es war der 30. Juli 1941 als Johanna unser Haus verlassen musste. Auf Wunsch unserer Eltern, die dieses bestimmt hatten, wurde sie aus dem Dienst in unserem Haushalt entlassen. Ich erfuhr nur noch von ihr, dass sie wieder zurückgehen würde ins Ruhrgebiet, denn hier in Berlin hätte sie keine Chance.

Es war Krieg und sie wollte heimkehren zu dem Gutshof, von dem sie 1932 gekommen war. Unsere Tuchfabrik war enteignet worden, wir konnten uns keine Haushaltshilfe mehr leisten. Mit Müh und Not hatte man noch ein Eisenbahnbillett bekommen, damit sie bis nach Essen reisen konnte. Per Telegramm wurden ihre Zieheltern informiert.

Wenige Tage später bekamen wir ein Telegramm von ihnen zurück, dass Johanna nie dort angekommen sei. Sämtliche Suchaktionen scheiterten, sie war nicht auffindbar, weder hier in Berlin noch im Ruhrgebiet.

Zudem herrschte ja wie gesagt Krieg und niemand hatte bei den Behörden auch wirklich Zeit, sich intensiv um eine Suche zu kümmern, dafür gab es schon zu viele Vermisste mittlerweile.“

Mathilde Behren legte eine Pause ein und ließ das alles zunächst einmal auf ihre Gäste wirken.

Stephan schaute Veronika an und schluckte. Ihm war nun eines klar und er meinte: „Johanna muss noch mindestens ein dreiviertel Jahr in Berlin verbracht haben, ehe sie endgültig verschwand, denn ihre Spur verlor sich um genau zu sein in der Nacht zum 2. März 1943.

Das haben wir von Else Knippertz erfahren, einer damaligen Freundin und Nachbarin in den Hackeschen Höfen, in der wohl auch meine Großmutter eine Zeit lang gelebt hatte. Else adoptierte später meinen Vater, damit er nicht in einem Waisenhaus untergebracht werden musste.“

Still saß man nun im Wohnraum der Geschwister Behren und jeder hing seinen Gedanken nach. Da meinte Herr Behren: „Lassen sie uns doch morgen noch einmal hier zusammenkommen und wir erzählen ihnen über das Leben von Johanna, als sie ihre Zeit in unserem Haus hatte.

Das war heute schon so viel an neuen Informationen, auch für uns, dass wir es erst einmal ruhen lassen sollten, um vielleicht gemeinsam einen Weg zu finden, die Sache endlich aufzuklären.“

Stephan nickte zustimmend, denn auch er fand diesen Vorschlag angebracht und er schaute Veronika an, was sie dazu sagen würde. Diese aber kniff ein wenig die Augen zusammen, als überlegte sie gerade stark etwas. Sie fragte folgendes, eigentlich zum Erstaunen der anderen, denn sie war schon ein Stück weiter, vermutlich weil sie nicht nur mit Worten etwas anfangen konnte.

Sie benötigte ein Feeling und ein Umfeld, wo Menschen gelebt haben, sie wollte die Energien noch spüren, die ja in der Materie hinterlassen werden, auch wenn ein Mensch längst nicht mehr physisch anwesend war: „Gibt es noch das Zimmer hier in diesem Haus, in dem Johanna damals gelebt hat?“

Mathilde Behren glühte förmlich und nickte: „Ja, es befindet sich im oberen Geschoss, das ist die 2. Etage, ein Mansardenzimmer. Wir haben nach ihrem Auszug nie den Mut gehabt, es auszuräumen oder umzugestalten. Später, nach dem Krieg, haben wir beschlossen, es so in dem Zustand zu belassen, wie sie es damals verlassen hatte, ihr zum Angedenken.“

Das war mehr als Veronika sich in diesem Moment erhofft hatte, denn genau das war super wichtig für sie, so konnte sie dieses Zimmer auf sich wirken lassen als hätte Johanna es gerade erst verlassen. Sie biss sich auf die Unterlippe und schaute die Geschwister Behren fragend an, mit der Bitte in ihren Augen, ob sie vielleicht nun zum Abschluss des Gespräches bereit waren, ihnen das Zimmer zu zeigen.

Mathilde erkannte sofort ihren Wunsch und sie stand auf, um ihre Gäste hochzuführen. Wilhelm Behren hingegen atmete tief durch, denn er würde diesen Weg nicht mitgehen. Nach dem Johanna damals das Haus verlassen hatte, betrat er niemals mehr diesen Raum. Veronika überlegte kurz und sprach nun eine weitere Bitte aus: „Bitte Frau Behren und Stephan, ich möchte sehr gerne Momente allein in diesem Raum verbringen. Ich würde dich später rufen Stephan, wenn es dir recht ist.

Es gibt etwas, was mich hier in diesem Haus stark bewegt. Frau Behren, wenn sie mir vertrauen, mir den Weg erklären bis zu diesem Zimmer, wäre es mir wirklich ein Bedürfnis, dieses zunächst in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Sie sollten eines von mir wissen, nämlich dass ich erst kürzlich eine eigene Geschichte erlebt habe, die ich im Grunde noch nicht ganz verstehe, weil es teilweise unerklärlich war.

Es hatte auch mit einem Feingespür zu tun und mit dem Leben von Menschen aus einer anderen Zeit. Ich trug ein Gefühl in mir, was mich erkennen ließ, das damals etwas im Argen lag.

Zum Ende dieser sehr anstrengenden Geschehnisse, bekam ich eine Information von einer sehr alten Dame, die mich darauf aufmerksam machte, dass ich an Berlin Potsdamer Platz 1932 denken solle, er würde dort auf dich warten, ein gewisser Stephan, ich hätte etwas zu regeln oder zu helfen und herauszufinden.

Somit geschah es also, dass diese Verbindung zu Stephan hier nach vierunddreißig Jahren wieder durch einen Zufall oder ich nenne es einfach Fügung, zustande kam. In der Tat, nun sitze ich hier und rutsche mitten in diese Geschichte hinein, von der ich mir noch nicht einmal erklären kann, warum ich mit involviert bin.

All das Ganze bewegt mich jetzt, denn ich vermute stark, dass es einen Grund hat, dass selbst ich hier nun mit eingebunden bin. Somit muss ich also nicht nur Stephan und ihnen Hilfe leisten, sondern sogar mir selbst. Die Tatsache, dass Sie mich heute entsetzt angeschaut hatten, als würden Sie mich kennen, gibt mir zusätzlich zu denken.“

Die Angesprochenen schauten Veronika an, als würden sie diese vielen Informationen hier auf die Schnelle gar nicht verstehen können. Ihnen war klar, man musste Veronika diesen wichtigen Vorsprung lassen, das Gespür, welches sie in sich trug, um alles auf sich wirken zu lassen. Zumindest war es die erste Chance, auch wenn Stephan am liebsten direkt in das ehemalige Zimmer seiner Großmutter gestürzt wäre.

Ihm wurde bewusst, dass sich durch das Zusammentreffen mit Veronika nun einiges in seinem Leben verändern würde.

Er, der jahrzehntelang auf der Suche nach Hinweisen seiner Vorfahrin gewesen war, erhielt innerhalb von zwei Stunden ihrer Anwesenheit hier in Berlin so viele Informationen, wie nie zuvor. Der Moment ihrer Ankunft am Potsdamer Platz heute Nachmittag brachte ihm im Grunde genommen gleichzeitig das wirkliche Eintreffen seiner Großmutter nahe, denn eine ähnliche Szene spielte sich heute dort ab, als Wilhelm Behren diese damalige Ankunft von Johanna in seiner Hoffnung nacherlebte und mit dem Empfangsschild über den Potsdamer Platz ging.

Er glaubte fest daran, dass Johanna endlich wieder zurückkäme. Auch wenn ihm selbst klar war, dass sie gar nicht mehr leben würde, dieser Mann lebte in seiner Welt von damals und gab nicht auf, vermutlich nicht bis zu seinem Lebensende.

Seine Veronika hier, die ihm bereits schon einmal im Leben geholfen hat, damals an der Havel, sie würde ihm wieder helfen und den ersten Schritt hatte sie unbewusst schon getan, denn sie kam am gleichen Tag, am gleichen Ort und zur gleichen Uhrzeit nur um Jahre verspätet hier an.

Mathilde Behren erklärte nun Veronika den Weg zum ehemaligen Zimmer Johannas, denn das Haus war sehr groß und es gab sehr viele Räumlichkeiten in den verschiedenen Etagen.

Der Weg in die Vergangenheit

Dankbar nahm Veronika das Vertrauen, welches die Geschwister Behren ihr schenkten, an und stieg langsam die Treppenstufen hinauf. Dabei versank sie in einen dicken wolligen Flor, der die Stufen bekleidete. Ein dunkles Holzgeländer umrahmte das gesamte Treppenhaus.

Alle ihr entgegenkommen den Eindrücke nahm sie still in sich auf. Sie hörte noch, wie unten wieder die Wohnzimmertüre geschlossen wurde und somit wusste sie, dass sie nunmehr auf sich alleine gestellt war. In Gedanken schaltete sie komplett ab und tauchte ein in das Leben, wie es vor ungefähr siebzig Jahren hier stattgefunden haben musste.

Noch konnte sie sich keine bildliche Vorstellung von der Person der Johanna machen, denn selbst Stephan war nicht im Besitz einer Fotografie.

An den Flurdecken entdeckte sie alte Lüsterleuchten, die bunt funkelten. Das ganze Haus spiegelte bis ins letzte Detail die vergangene Zeitepoche Anfang des 20. Jahrhunderts.

Die Welt war hier nie verändert worden. Alte Kommoden und schwere Eichenschränke bestückten die Flurgänge. Es wirkte trotz allem sehr behaglich und gediegen.

Bald hatte Veronika auch schon die nächste Treppe erreicht, die sie nun in das obere Geschoss führte. Als sie dort ankam, sah sie links herum und erkannte am Ende eines schmalen Ganges die Zimmereingangstüre zu Johannas damaliger Unterkunft.

Zielstrebig ging sie darauf zu und öffnete vorsichtig die Tür.

Mit der linken Hand suchte sie nach einem Lichtschalter. Der leichte Schein der Straßenlaternen leuchtete dieses Zimmer etwas aus. Sie ertastete einen Kipplichtschalter. Dieses Model kannte sie aus dem alten Haus ihrer Großeltern, doch war es heut zu Tage wohl eher selten, dass man sie noch vorfand.

Nachdem sie ihn betätigt hatte, ging eine kleine schwache Deckenlampe an. Es war auch hier nicht anders zu erwarten, als das diese ein Model aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts war.

Bedächtig betrat sie das Zimmer und schloss behutsam die Tür hinter sich. Ihr Blick wanderte zunächst einmal durch den ganzen Raum, der ziemlich groß wirkte und urgemütlich ausgestattet war. Ein Zimmer, was für eine damalige junge Dame durchaus gerecht eingerichtet worden war.

Veronika erschien es, als wäre sie gerade selber erst sechzehn und ein Schreck durchfuhr sie in diesem Moment, als sie das dachte, dass genau heute, vielleicht jetzt zur gleichen Uhrzeit vor siebenundsiebzig Jahren Johanna hier eingezogen war. Da entdeckte sie einen alten Lederkoffer neben dem Schrank und sie wusste, dass dieses der Koffer ist, mit dem Johanna damals hier eingetroffen war.

Sie schüttelte ihren Kopf und konnte gar nicht verstehen, warum sie das alles so bewusst durchlebte, ganz so als würden die Station Johannas Leben sich wiederholen.

Ihr Inneres wehrte sich gegen dieses Gefühl, denn Johannas Leben, konnte nichts mit ihrem zu tun haben und doch spürte sie ganz deutlich, dass es intensiv auf sie wirkte.

Sie ging in die Mitte des Raumes und drehte sich einmal um ihre eigene Achse, um alles an Mobiliar und Bildern aufzunehmen, was sich ihr hier bot.

Auf dem Nachttisch stand die Fotografie einer sehr jungen Dame. Das Bild war ziemlich gelbstichig mittlerweile und doch hatte etwas Anheimelndes.

Große Augen waren in einem anmutigen Gesicht zu erkennen. Diese mussten sehr kräftig in der Farbe gewesen sein, vielleicht stahlblau, doch das konnte sie nur vermuten, weil es ja eine Schwarzweißfotografie war. Auf jeden Fall waren es wunderschöne ausdrucksvolle Augen, umrahmt von einem zarten Gesicht, die Haare dazu in einem strengen Knoten im Nacken zusammengebunden.

Ihr Augenmerk fiel als Nächstes auf die untere Gesichtspartie. Dort blieb ihr Blick auf das Grübchen im Kinn der Abgelichteten hängen. Veronika wurde sehr nachdenklich und fasste sich in Gedanken an ihr eigenes Kinn.

Das musste Johanna sein, Johanna in ihren jungen Jahren. Die Besucherin atmete tief durch. Die Gesichtskonturen der Dargestellten waren gut zu erkennen und nicht nur das, sie hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem kleinen Stephan, der unten bei Wilhelm und Mathilde auf dem Sofa saß.

 

Nein das war ja der Erwachsene, sie aber jedoch erkannte hier den kleinen Stephan, den sie an der Havel vor vierunddreißig Jahren getroffen hatte. Johanna war unverkennbar seine Großmutter, das ließ sich nicht leugnen. Es war ein sehr bewegender Moment für sie. Sie schaute in den Spiegel, der rechts über einer Kommode hing, auf der eine weiße Porzellanwaschschale stand.

Darin wiederum war ein weißer Porzellankrug drapiert. Wie in alten Zeiten, ganz so, wie es ihr aus der Historie durchaus bekannt war.

Als sie sich etwas nach vorne beugte, um sich selbst intensiv zu betrachten, presste sie ihre Lippen aufeinander und eine Gänsehaut durchlief ihren Körper.

Sie ergriff ein Haargummi, welches ebenfalls neben verschiedenen Kämmutensilien säuberlich auf der Kommode dekoriert war, band ihre eigenen langen Haare zu einem Knoten zusammen und fixierte diesen mit diesem Gummi und einer Haarklammer.

Es war immer noch alles so vorhanden, als würde Johanna hier noch leben, einfach unglaublich. Neugierig schaute sie ihr eigenes Spiegelbild an und nahm dazu das Bild in die Hand, welches auf dem Nachttisch stand.

Eine verblüffende Ähnlichkeit erkannte sie nun auch zwischen Johanna und sich selbst. Sie hatte dieses Exempel mit Absicht statuiert, denn sie wollte es nun wissen, warum die Geschwister Behren sie mit Johanna verwechselt hatten.

Ihre Augen waren zwar braun und sie hatte auch kein Grübchen im Kinn, aber ihre Lippen und die Gesichtszüge dieser Frau waren der ihrigen schon frappierend ähnlich, selbst die Form ihrer Nase sah aus wie die von Johanna.

Veronika ließ sich auf den alten Polstersessel, der mittig im Raum stand, fallen, überlegte weiter und grübelte. Sie spürte hier etwas Bekanntes und ein Art von Geborgenheit, aber auch ein tiefes Erlebnis, welches Johannas Leben geformt haben musste.

Ihr Blick fiel auf das schwere dunkle Eichenbett und sie versuchte sich an die eben stattgefundene Erzählung Mathildes zu erinnern.

Frau Behren hatte sie also am 30. Juli 1941 zum letzten Mal gesehen, es war der Tag, als Johanna dieses Haus hier verlassen musste. Hatte sie denn gar nicht ihren Koffer mitgenommen? Oder staffierte man sie mit neuen Gepäckstücken damals aus? Das konnte sie ja gleich erfragen.

Stephans Vater, er kam im Februar 1942 zu Welt, also war Johanna schon in anderen Umständen, als sie von hier fortging. Allmählich formte sich hier etwas ganz klar und deutlich. Wilhelm Behren, der dieses Zimmer nicht mehr betreten hatte, warum nicht?

Warum lebte er in solch einem Schmerz? Was war geschehen, dass er hier nicht mehr hineinging?

Hatte er sich damals in Johanna verliebt und litt deswegen, weil sie gehen musste? War er vielleicht der vermeintliche Vater von Johannas Baby, von dem er nicht ahnte, dass es entstanden war?

Wenn das an dem wäre, dachte sie, so sitzt ihr Stephan gerade mit seinem Großvater unten gemeinsam im Wohnzimmer.

Darüber musste sie nun genau nachdenken, denn sie durfte auf keinen Fall irgendwelche falschen Prognosen stellen, das könnte üble Folgen haben. Völlig in Gedanken versunken vergaß sie die Zeit, als sie plötzlich zu Tode erschreckt herumschnellte.

Die Zimmertüre war leicht knarrend aufgegangen.

Mit aufgerissenen Augen starrte sie Wilhelm Behren an, der leise und vorsichtig hineingekommen war und die Türe wieder hinter sich verschloss.

„Sie betreten dieses Zimmer? Nach dieser langen Zeit Herr Behren? Was hat sie dazu veranlasst?“

„Psst, nicht so laut Veronika, die anderen unten wissen nichts davon. Es ist das erste Mal, dass ich wieder hier bin, nach achtundsechzig Jahren.

Durch ihr Erscheinen heute, habe ich wieder den Mut, mich meinem Leben zu stellen und nicht mehr davon zu laufen!“, flüsterte er und legte den Zeigefinger über seine Lippen.

Dieses ist eine gute Entscheidung von ihm, dachte die Angesprochene. Er durfte nicht davor weglaufen, es war ein Teil seines Lebens gewesen, etwas was ihn all die Jahre verfolgt hatte.

Veronika überlegte kurz und pokerte nun hoch.

„Sie haben sie geliebt, nicht wahr?

Und sie tun es immer noch und sie hoffen bis zum heutigen Tag, dass sie etwas erfahren über sie und sie glauben auch, dass sie dem Krieg nicht zum Opfer gefallen ist, sondern eine andere mysteriöse Geschichte dahintersteckt.

Habe ich Recht, Herr Behren?“ Sie biss sich auf die Unterlippe, denn sie könnte hier gerade voll in den Fettnapf getreten sein, aber genauso konnte es auch umgekehrt der Fall sein, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Es folgten einige Schweigeminuten und sie beobachtete nun seine Reaktion und erkannte, wie plötzlich Leben in ihm kam. Er setzte sich auf die Bettkante und schaute die Gegenübersitzende an. Tränen füllten seine Augenwinkel und er drehte sich verlegen zur Seite.

Nachdenklich fuhr mit seiner Hand über die Bettdecke. In der Sekunde ahnte Veronika, dass sie das Richtige gefühlt hatte.

Vermutlich wussten hier in diesem Haus alle Bescheid, auch seine Eltern und das war auch einer mit der Gründe, wahrscheinlich, sogar der Hauptgrund, warum Johanna dieses Haus verlassen musste, sie war nicht ebenbürtig gewesen, eine kleine Haushaltshilfe und nicht gut genug.

So nahmen seine Eltern damals andere fadenscheinige Gründe als Entschuldigung dafür, dass sie Johanna nicht mehr halten konnten, dachte Veronika in diesem Moment.

„Wann wurde Stephans Vater geboren Veronika, wissen sie das?“, ängstlich schaute der alte Herr sie an.

Sie räusperte sich und antworte leise:

„Im Februar 1942, Herr Behren!“.

Wilhelm Behren sackte in sich zusammen. Er wirkte plötzlich wie ein gebrochener Mann, denn nun kannte er die Tatsache, dass man Johanna mit einem Kind unter ihrem Herzen hinauskomplementiert hatte, was damals sicherlich niemand geahnt hatte.

Mit seinem Kind unter ihrem Herzen, das machte ihm das Ganze nun noch schwerer, als der Verlust, unter dem er in all den Jahrzehnten gelitten haben musste.

„Als sie damals ging, an dem Tag Ende Juli, sagte sie mir noch, dass sie wieder kommt, am 7. November am Potsdamer Platz zur gleichen Uhrzeit ankommen würde, so wie 1932, als ich sie abgeholt hatte.

Deswegen bin ich voller Hoffnung, obwohl diese von Jahr zu Jahr mehr schwindet. Das alles hat mich aufrechterhalten, der Glaube daran, sie eines Tages endlich wiederzusehen.

Ich habe nie eine andere Frau danach lieben können.“ Traurig hatte er diese Worte gesprochen.

„Herr Behren, sie haben heute einen Teil von Johanna wiedergefunden. Es ist Stephan. Er ist ihr Enkelsohn. Sind sie sich dessen bewusst, dass es für sie ein Geschenk sein muss?

Nicht nur Stephan trat in ihr Leben, sondern auch sein Vater Paul. Er lebt auch in Berlin und ist mit Luise verheiratet. Er ist ihr Sohn Herr Behren.

Können sie das verkraften? Sie selbst sind sehr alt, doch ich glaube, dass diese neuen Umstände ihnen noch ein wenig Glück bringen werden. Sie haben eine Familie, man gab ihnen durch den heutigen Tag die Möglichkeit, einen Teil von sich selbst zu finden und von ihren Nachfahren.

Nun bin ich auch davon überzeugt, dass wir Wege finden, um Johannas Leben weiter zu verfolgen. Vertrauen sie, es wird alles gut. Die Ungewissheit ist vielleicht noch schlimmer, als die Wahrheit zu erfahren, was mit ihr geschehen ist.

Auch wenn es sehr schmerzhaft sein wird, so hätte man wenigstens endlich eine Gewissheit. Ich verspreche ihnen, dass ich und Stephan alles versuchen werden, um ihnen zu helfen. Es hat einen Grund, warum ich mit in diese Geschichte involviert wurde, auch wenn ich diesen selbst noch nicht kenne.“