Buch lesen: «Reform oder Blockade», Seite 2

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Die letzten 75 Jahre ohne die UNO?

Gemessen an dem in der Gründungscharta von 1945 formulierten Hauptziel, »künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren«, ist die UNO, oder besser, sind ihre inzwischen 193 Mitgliedstaaten gescheitert. Das ist sicher richtig. Über 265 bewaffnete Konflikte fanden in den letzten 75 Jahren statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Doch ohne die UNO und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert und noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UNO wäre es wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen, möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr nahe am Abgrund eines atomaren Krieges stand – wie im Oktober 1962 während der Krise wegen der sowjetischen Raketen auf Kuba –, wurden im UNO-Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UNO und ihre humanitären Unterorganisationen wären in den letzten 75 Jahren Hunderte Millionen Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Schließlich bot die UNO den Rahmen für die Vereinbarung zahlreicher internationaler Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards und auf zahlreichen anderen Gebieten. Diese Normen, Regeln und Verträge haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt. Aber sie trugen und tragen immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen über sieben Milliarden Erdbewohner in zahlreichen Bereichen zu verbessern.

Eine Auflösung der 1945 gegründeten UNO bedeutete den Rückfall in die Barbarei weitgehend ungeregelter zwischenstaatlicher Beziehungen.

Eine handlungsfähige Weltorganisation – heute mindestens so dringend nötig wie 1945

Tatsächlich bedarf es heute einer funktionierenden und handlungsfähigen Weltorganisation mindestens so dringend wie 1945. Unterentwicklung, Aids, Hunger, Umweltzerstörung, Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Konflikte um Wasser, fossile Energieträger und andere Ressourcen – das sind heute die zentralen globalen Herausforderungen. Die Völker und Staaten dieser Erde werden diese Herausforderungen, wenn überhaupt, nur durch vermehrte kooperative Anstrengungen im Rahmen einer politisch, finanziell und strukturell gestärkten UNO bewältigen können. Die Vorschläge von Kofi Annan aus dem Jahr 2005 sind heute noch alle aktuell und richtig, und ihre Umsetzung ist noch dringender geworden.

In den letzten fünfzehn Jahren wurden vor allem von Nichtregierungsorganisationen noch weiter gehende Reformvorschläge entwickelt – etwa zur Finanzierung der UNO oder zur Durchsetzung verbindlicher Menschenrechts-, Arbeits-, Sozial- und Umweltnormen für Wirtschaftsunternehmen.

Koalition williger Multilateralisten statt Weltordnung der G2, G8 oder G20

Eine Umsetzung all dieser Vorschläge zur Stärkung der UNO und ihrer Handlungsfähigkeit hängt davon ab, ob sich unter den 193 Mitgliedstaaten der Generalversammlung eine strategische Koalition williger Multilateralisten zusammenfindet. Eine Koalition, die bereit ist, diese Vorschläge auch dann umzusetzen, wenn sich die USA, China, Russland oder andere Vetomächte und gewichtige Mitgliedstaaten zunächst nicht beteiligen oder sogar ausdrücklich dagegen sind. Zu dieser Koalition müssten neben den europäischen Staaten erklärte Multilateralisten aus anderen Weltregionen gehören wie zum Beispiel Kanada, Mexiko, Brasilien, Indien, Südafrika, Ägypten und Australien.

Das UNO-Abkommen zum Verbot von Atomwaffen, die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs, die Vereinbarung des Kyoto-Protokolls und des nachfolgenden Pariser Abkommens zum Klimaschutz sowie die drei Konventionen zum Verbot von Antipersonenminen und von Streumunition sowie zur Kontrolle des konventionellen Waffenhandels – jeweils durchgesetzt ohne Beteiligung oder gar gegen den erklärten Willen der USA, teilweise zunächst auch Russlands und Chinas – sind sechs erfolgreiche Beispiele für derartige Koalitionen aus den letzten 25 Jahren. In allen sechs Fällen bestand die ursprüngliche Koalition zunächst nur aus einer kleinen Minderheit von maximal zwei Dutzend der UNO-Mitgliedstaaten, die – angetrieben und unterstützt von Nichtregierungsorganisationen – in der Generalversammlung für ihre Ziele warben. Bis Ende 2020 haben 189 Staaten das Pariser Klimaabkommen unterschrieben und ratifiziert sowie jeweils über 150 Staaten – also über drei Viertel der UNO-Mitglieder – die Verbotskonventionen zu Antipersonenminen und Streumunition. 123 Staaten sind trotz massiven Gegendrucks aus Washington dem Internationalen Strafgerichtshof beigetreten.

Die konsequente Weiterverfolgung der Strategie einer die Weltregionen übergreifenden Koalition engagierter Multilateralisten, die zur Bewältigung der globalen Herausforderungen auf das kollektive System der UNO setzen – das wäre die Alternative zu dem gefährlichen Versuch, eine neue, militärisch definierte multipolare Machtbalance oder gar nur eine neue bipolare Weltordnung der G2 (USA und China) zu errichten.

Andreas Zumach, Genf und Berlin, 16. März 2021

»Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte für alle« – die überfällige Reform der UNO

Die UNO hat in ihren ersten 75 Jahren zahlreiche Reformdebatten erlebt. Dabei verbanden die beteiligten Akteure mit ihren Forderungen nach »Reformen« durchaus unterschiedliche bis widersprüchliche Ziele. Die Regierungen der USA seit der Reagan-Administration der achtziger Jahre meinten mit »Reform« der UNO in erster Linie die »Entbürokratisierung« der Weltorganisation, finanzielle und personelle Einsparungen und »schlankere Strukturen«. Dahinter stand in vielen Fällen das mehr oder weniger deutlich artikulierte Ziel, Abteilungen oder gar ganze Unterorganisationen des UN-Systems, gegen deren Tätigkeit Washington politische Einwände hatte, bis zur Wirkungslosigkeit zu schwächen oder ganz abzuschaffen. In einigen Fällen gelang das auch.

Andere Länder verbanden mit der Forderung nach »Reform der UNO« in erster Linie das Interesse, die eigene Stellung innerhalb der Weltorganisation zu stärken. Das gilt zum Beispiel für die deutschen Bundesregierungen, deren Rufe nach einer Reform der UNO sich seit 1993 im Wesentlichen auf den Sicherheitsrat beschränken und zum Ziel haben, in diesem Gremium einen ständigen Sitz für Deutschland zu erhalten, möglichst mit Vetorecht. Drittens gibt es Staaten wie China oder Pakistan, die seit dem Ende des Kalten Krieges vollzogene positive Schritte zur Demokratisierung der Weltorganisation – zum Beispiel die stärkeren Beteiligungsmöglichkeiten für Nichtregierungsorganisationen im Menschenrechtsrat und anderen Bereichen des UNO-Systems – wieder rückgängig machen wollen.

Im Kontrast zu all diesen beschränkten, eigensüchtigen oder rückwärtsgewandten Vorstellungen stehen die Vorschläge für eine umfassende UNO-Reform, die Generalsekretär Kofi Annan den Mitgliedstaaten vorlegte. Unter dem Titel »In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle« empfahl der Generalsekretär weit über hundert konkrete Reformmaßnahmen mit dem Ziel, die Handlungsfähigkeit der UNO im 21. Jahrhundert zur Bewältigung globaler Herausforderungen und zur Verhinderung und Beendigung von Gewaltkonflikten zu stärken. Doch 90 Prozent von Annans weiterhin hochaktuellen Vorschlägen harren immer noch einer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten.1

»In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle«

Im März 2005 präsentierte Generalsekretär Kofi Annan der Generalversammlung die ambitionierteste und umfassendste Blaupause für eine Reform der UNO seit Gründung der Weltorganisation. Mit dem Titel »In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle« nahm er ausdrücklich Bezug auf die Ziele und Versprechen aus der Präambel der Gründungscharta der UNO von 1945.

Präambel der 1945 in San Francisco von fünfzig Staaten beschlossenen UNO-Charta

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen,

künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,

unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,

Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern,

und für diese Zwecke

Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,

unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,

Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und

internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern –

haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.

Drei Hauptkapitel seines Reformplans überschreibt Annan mit »Freiheit von Not«, »Freiheit von Furcht« und »Freiheit in Würde zu leben«. Das war eine bewusste Anlehnung des UNO-Generalsekretärs an die berühmte Rede über die »vier wesentlichen Freiheiten des Menschen«, die US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Januar 1941 hielt. »Freiheit von Not«, erklärte Roosevelt, erfordere »wirtschaftliche Verständigung, die jeder Nation gesunde Friedensverhältnisse für ihre Einwohner gewährt – überall auf der Welt«. Mit dieser Schwerpunktsetzung formuliert Generalsekretär Annan einen Kontrapunkt zur neoliberalen, auf militärische Sicherheit für das eigene Land fixierten Politik der Nachfolger Roosevelts von Ronald Reagan (1980–1988) bis George Bush (2000–2008).

Verträge und Verpflichtungen umsetzen

In seinem Reformplan mahnte Generalsekretär Annan die Mitgliedstaaten an erster Stelle, ihren zahlreichen noch unerfüllten Verpflichtungen aus bereits bestehenden zwischenstaatlichen Abkommen auf den Gebieten Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten endlich nachzukommen. In den Mittelpunkt stellte Annan dabei die fristgemäße Erfüllung der »Millenniumsziele zur Halbierung der weltweiten Armut bis zum Jahr 2015«, die die Generalversammlung 2000 beschlossen hat. Konkret schlug Annan vor, dass die Industriestaaten des Nordens sich zur Erfüllung ihres bereits 1977 gegebenen Versprechens, ihre öffentlichen Entwicklungshilfeausgaben auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen, »umgehend« auf folgenden Zeitplan verpflichteten: »spätestens 2006« solle »ein erster deutlicher Schritt der Erhöhung« stattfinden; 2009 sollten mindestens 0,5 Prozent erreicht sein und »spätestens 2015« dann das Ziel von 0,7 Prozent. Zudem sollten die Industriestaaten zusätzliche Schuldenstreichungen für die besonders hoch verschuldeten Länder des Südens durchführen. Die Entwicklungsländer forderte Annan auf, noch im selben Jahr nationale Strategiepläne zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu den Millenniumszielen vorzulegen. Entwicklungsländer, die dieser Aufforderung nachkommen, sollten spätestens ab 2006 »deutlich erhöhte« Entwicklungshilfegelder erhalten.

Schließlich appellierte Annan an die Industriestaaten, ihre Importzölle und andere Einfuhrhemmnisse für Produkte aus den 48 nach UNO-Definition »am wenigsten entwickelten Staaten« umgehend aufzuheben und »dafür zu sorgen«, dass in der seit 2001 laufenden Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation WTO die damals gemachten Versprechungen an die Entwicklungsländer auch tatsächlich erfüllt würden.

Die meisten der Vorschläge und Forderungen Annans von 2005 zum Thema Entwicklung waren auch fünfzehn Jahre später nicht erfüllt. Die Millenniumsziele zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 wurden nur teilweise erreicht.

Beim Thema Sicherheit drängte der Generalsekretär die offiziell anerkannten Atomwaffenstaaten USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien, ihren Abrüstungsverpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag (NPT) endlich nachzukommen. Umgekehrt sollten – eventuell durch Zusatzprotokolle zum NPT – für die Nichtatomwaffenstaaten »freiwillige Anreize« geschaffen werden, auf Verfahren der Urananreicherung und der Plutoniumproduktion zu verzichten. Zur Atomstromgewinnung erforderliche Brennstoffe könnten die einzelnen Staaten künftig von der Internationalen Atomenergieorganisation zugeteilt bekommen. Zudem mahnte Annan die noch ausstehende Ratifizierung des Vertrags über das umfassende Verbot von nuklearen Testversuchen (englisch Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty, CTBT) an, damit dieses Abkommen endlich in Kraft treten könne. Der Vertrag wurde bereits 1996 von der Generalversammlung beschlossen und seitdem von 184 Staaten unterzeichnet und von 168 ratifiziert. Für sein Inkrafttreten muss das Verbot aber zuvor von allen 44 Staaten unterzeichnet und ratifiziert worden sein, die seit seiner Vereinbarung im Jahr 1996 über Kerntechnologie verfügen. Ende 2020 fehlten immer noch die Ratifikationen von acht der 44 Staaten: USA, China, Israel, Indien, Pakistan, Iran, Nordkorea und Ägypten.

Leerstellen durch neue Normen und Verträge füllen

Zum Zweiten schlug Annan den Mitgliedstaaten die Vereinbarung von weiteren Abkommen und völkerrechtlichen Normen vor, um bestehende Leerstellen zu füllen und die gemeinsame Handlungsfähigkeit im Rahmen der UNO zu stärken – beim Umwelt-und Klimaschutz, bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung, bei der Terrorismusbekämpfung, beim Schutz vor Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Seither gab es einige, wenn auch unzureichende Fortschritte wie etwa das Pariser Klimaabkommen. Andere Errungenschaften, wie die im September 2005 von der Generalversammlung im Konsens verabschiedete Resolution zur Schutzverantwortung (responsibility to protect) im Falle von schweren Menschenrechtsverletzungen, sind wegen ihrer selektiven Interpretation und Anwendung durch westliche Regierungen – zum Beispiel 2011 im Libyenkonflikt – heute wieder umstritten.

Auf dem Feld der Rüstungskontrolle und Abrüstung erfolgte ein großer Durchbruch mit dem 2017 von der Generalversammlung beschlossenen Verbotsabkommen für Atomwaffen, dem sich bislang allerdings alle Staaten, die Atomwaffen besitzen, und alle NATO-Staaten verweigern. Zudem vereinbarten die UNO-Mitgliedstaaten seit Annans Reformplan den Vertrag über die Begrenzung des Handels mit konventionellen Waffen (Arms Trade Treaty, ATT), der im Dezember 2014 in Kraft trat. Alle Bemühungen – sei es innerhalb oder außerhalb der Genfer Abrüstungskonferenz – um dringend erforderliche Abkommen zum Verbot oder zumindest der Kontrolle von bewaffneten Drohnen, von Weltraumwaffen und von hochradioaktiver DU-Munition scheiterten jedoch ebenso wie die Verhandlungen über ein Kontrollregime für den Vertrag zum Verbot biologischer Waffen.

Zur Verbesserung der Terrorbekämpfung bezeichnete Annan es als »unerlässlich«, dass die Mitgliedstaaten der Generalversammlung noch 2005 die »Anti-Terrorismus-Konvention« verabschiedeten, über die seit 1998 verhandelt wird. Damals lag bereits ein Entwurf für eine Konvention vor, in der allerdings eine entscheidende Lücke klafft. Es fehlt eine Definition von »Terrorismus«, auf die sich die Mitgliedstaaten wegen dreier Streitfragen bisher nicht einigen konnten: Wie sind »Freiheitskämpfer« von »Terroristen« zu unterscheiden? Ist Gewalt gegen völkerrechtswidrige Besatzung (z. B. in Palästina) Terrorismus oder legitimer Widerstand? Soll »Staatsterrorismus« in die Definition mit aufgenommen werden? Annan machte einen Vorschlag für eine Definition, der aber von der Generalversammlung bis heute nicht angenommen worden ist.

Der Menschenrechtsrat – nach einem Schweizer Konzept

Zum Dritten machte der Generalsekretär konkrete Vorschläge für strukturelle und institutionelle Reformen des UNO-Systems. Vollständig umgesetzt wurde der Ersatz der ehemaligen UN-Menschenrechtskommission durch einen verkleinerten Menschenrechtsrat. Die frühere Kommission war lediglich ein Unterorgan des Wirtschafts- und Sozialrats der UNO (ECOSOC) gewesen. Die 53 Kommissionsmitglieder wurden durch intransparente Kungelrunden der Regionalgruppen bestimmt. Der neue Rat hingegen ist ein direktes Unterorgan der Generalversammlung, erhielt also einen höheren Status. Die 47 Mitglieder werden in der Generalversammlung mit absoluter Mehrheit für eine Amtszeit von jeweils drei Jahren gewählt. Bei der Kandidatur in der Generalversammlung müssen die Bewerberstaaten ihre Menschenrechtsbilanz darlegen.

Erfolg der Schweiz

An dieser Reform hatte die Schweiz mit der 2003 ins Amt gekommenen Außenministerin Michelin Calmy-Rey einen großen Anteil. Im Auftrag der Ministerin erstellte der Berner Völkerrechtsprofessor Walter Kälin das Detailkonzept für den neuen Menschenrechtsrat, das Calmy-Rey dann im Herbst 2004 Generalsekretär Annan vorlegte. Die eidgenössischen UNO-Diplomatinnen und -Diplomaten in New York und Genf leisteten viel Lobbyarbeit, um die Zustimmung der übrigen 192 UNO-Staaten zu dem Konzept zu gewinnen, und dies gegen erheblichen Widerstand insbesondere seitens der USA. Die damals in Washington regierende Bush-Administration wollte statt eines Menschenrechtsrats mit universeller Beteiligung lieber einen engen, überwiegend westlichen Länderklub der Verfechter der Menschenrechte mit ständiger Mitgliedschaft der USA. Die Schweizer Lobbyarbeit war erfolgreich. Bei der Abstimmung in der UNO-Generalversammlung im März 2006 votierten 186 der 193 Mitgliedstaaten für den Reformvorschlag aus Bern. Dagegen stimmten lediglich die USA, Israel und zwei winzige Pazifikinseln. Weißrussland, Iran und Venezuela enthielten sich.

Dieses Beispiel zeigt, das auch »kleine« UNO-Mitglieder wie die Schweiz bei entsprechendem politischem Willen in der UNO durchaus Positives bewirken können. Bereits in den neunziger Jahren gehörte die Schweiz zu der Gruppe anfänglich nur kleinerer Staaten, darunter Trinidad und Tobago, Jordanien und Österreich, die die erfolgreiche Initiative zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs ergriffen – gegen den Widerstand zunächst noch aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats.

Zusätzlich zur Schaffung des Menschenrechtsrats wurde die Universal Periodic Review eingeführt, ein öffentliches Verfahren, mit dem seit 2007 alle fünf Jahre die Menschenrechtslage in ausnahmslos sämtlichen 193 UNO-Mitgliedstaaten überprüft wird. Als Grundlage für die Überprüfungen dienen dabei nicht nur Berichte von Regierungen, sondern auch von Nichtregierungsorganisationen und von den Sonderberichterstattern des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte in Genf.

Sicherheitsrat – eine unauflösbare Quadratur des Kreises

Kein anderer Aspekt einer Reform der UNO war in den drei Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges so stark und häufig Gegenstand von politischem Interesse, diplomatischem Engagement, medialer Aufmerksamkeit und öffentlicher Diskussion wie die Veränderung des Sicherheitsrats. Fast völliger Konsens herrscht über die Feststellung, die Zusammensetzung des vor 75 Jahren geschaffenen Gremiums, die Zuteilung der Privilegien einer ständigen Mitgliedschaft und des Vetorecht an die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges sowie an China seien »historisch überholt«. Auch in der UNO-Generalversammlung teilen mit Ausnahme der fünf derzeitigen ständigen Vetomächte fast alle Mitgliedstaaten diese Auffassung.

Anfang 1993 richtete die Generalversammlung eine ständige Verhandlungsgruppe ein, nachdem zuvor 90 Staaten beim damaligen UNO-Generalsekretär Butros Butros Ghali Vorschläge für eine Reform des Sicherheitsrats eingereicht hatten. Sie forderten, der Sicherheitsrat müsse »demokratisiert«, seine Zusammensetzung durch Erweiterung um neue ständige und/oder nichtständige Sitze globalpolitisch gerechter gestaltet werden.

»Demokratisierung« könnte durchaus auch bedeuten, Privilegien wie den ständigen Sitz und das Vetorecht schrittweise ganz abzuschaffen. Einen entsprechenden Vorschlag legte Italien Mitte der neunziger Jahre vor, verbunden mit einem Modell, nach dem alle UNO-Staaten, egal ob groß oder klein, reich oder arm, mächtig oder ohnmächtig, die gleiche Chance hätten, zeitweise dem Sicherheitsrat anzugehören. Denn in fünfzig Jahren UNO hatten erst lediglich 79 ihrer Mitgliedstaaten überhaupt einmal die Möglichkeit bekommen, dem Sicherheitsrat als nichtständiges Mitglied für zwei Jahre anzugehören, und die meisten von ihnen auch nur einmal. Die Schwergewichte wiederum waren in den fünf Regionalgruppen der Generalversammlung – wie zum Beispiel Japan und Indonesien in Asien, Brasilien in Lateinamerika, Kanada in der westlichen Staatengruppe – schon mehrfach im höchsten UNO-Gremium vertreten. Wenn in den fünf Regionalgruppen die Nominierung der Kandidaten für die nächste Wahlrunde in der Generalversammlung zur Bestimmung der nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrats bevorsteht, setzen sich jeweils die größeren, gewichtigeren Länder durch; daran hat sich bis heute wenig geändert. Das italienische Alternativmodell sieht die Bildung von 20 Regionalgruppen der Generalversammlung mit jeweils 19 bis 20 Mitgliedern vor, aus denen die Staaten in alphabetischer Reihenfolge für jeweils zwei Jahre in den Sicherheitsrat einziehen sollen.

Der italienische Vorschlag einer weitgehenden Demokratisierung und Chancengleichheit für alle UNO-Mitgliedstaaten stieß anfangs auf Sympathien bei einer Mehrheit der Mitglieder in der Generalversammlung. Doch er scheiterte am Widerstand derjenigen Mittelmächte, die sich von einer Reform des Sicherheitsrats in erster Linie eigene Privilegien erhofften. Ab 1993 erhoben zunächst Deutschland und Japan den völlig illusionären Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat mit Vetorecht – ausgerechnet die beiden Verlierer des Zweiten Weltkrieges, für die damals noch die in den Artikeln 53, 77 und 107 der UNO-Charta formulierte »Feindstaatenklausel« galt. Erst im Herbst 1995 erklärte die Generalversammlung die Klausel für »politisch obsolet«, ohne die Charta allerdings zu ändern. Im nächsten Schritt erhofften sich Deutschland und Japan bessere Chancen mit einem Fünferpaket, in dem sie auch Brasilien für Lateinamerika, Indien für Asien und Nigeria für den afrikanischen Kontinent vorschlugen. Der Vorschlag »übersah«, dass aus Lateinamerika auch Argentinien und Mexiko, aus Asien auch Pakistan und Indonesien und aus Afrika auch Ägypten und Südafrika ihr Interesse an einem ständigen Ratssitz angemeldet hatten. Anfang des Jahrtausends verständigte sich die Vierergruppe aus Deutschland, Japan, Indien und Brasilien (G4) dann auf einen Vorschlag, der ständige Sitze ohne Vetorecht für die G4- Staaten sowie für zwei namentlich nicht genannte afrikanische Länder vorsah. Doch dieser Vorschlag hatte ebenso wie weitere Modelle, die bis 2005 von verschiedener Seite vorgeschlagen wurden, nicht einmal die Chance auf die erforderliche Zweidrittelmehrheit von mindestens 128 der 193 UNO-Mitglieder. Ganz abgesehen von der ebenfalls erforderlichen Zustimmung aller fünf ständigen Vetomächte des Rats (Permanent Members, P5).

Angesichts dieser kontroversen Debattenlage wollte sich Generalsekretär Annan in seinem Reformplan vom März 2005 nicht auf einen einzigen Vorschlag festlegen. Daher unterbreitete er den Mitgliedstaaten zwei Modelle zur Erweiterung des Sicherheitsrats von heute 15 auf 24 Mitglieder. Das erste Modell sieht zusätzlich zu den derzeitigen fünf ständigen Mitgliedern mit Vetorecht sechs neue ständige Ratssitze ohne Vetorecht und neun – statt bislang sechs – nichtständige Sitze für jeweils zwei Jahre ohne Möglichkeit zur direkt anschließenden Wiederwahl vor. Nach dem zweiten Modell soll es keine zusätzlichen ständigen Ratssitze geben, sondern acht Sitze mit vierjähriger Amtszeit und der Möglichkeit zur direkt anschließenden Wiederwahl sowie elf Sitze mit zweijähriger Amtszeit ohne direkte Wiederwahloption. In beiden Modellen Annans wären die vier Weltregionen Afrika, Asien-Pazifik, Amerika und Europa mit jeweils sechs Ratssitzen vertreten.

Doch auch diese beiden Modelle haben keine Chance auf Realisierung. Eine wie auch immer geartete Erweiterung des Sicherheitsrats verringerte die Macht der heutigen P5 relativ, selbst wenn diese ihre bisherigen Privilegien des ständigen Sitzes und des Vetos ohne Einschränkung behielten. Das lehnen nicht nur die drei Großen, USA, China und Russland, strikt ab. Auch Frankreich und Großbritannien zeigen bislang nicht die geringste Bereitschaft, sich auf eine Veränderung des Sicherheitsrats einzulassen, die ihre nationale Sonderstellung schmälerte.

Jegliche Veränderung des Sicherheitsrats erfordert eine Veränderung der UNO-Charta. Diese ist nur möglich, wenn mindestens zwei Drittel der 193 Mitgliedstaaten zustimmen, darunter die P5. Angesichts dieser Realitäten sollten die Mitgliedstaaten nicht weiter Zeit und politische Energie auf eine Reform des Sicherheitsrats verwenden, sondern sich für die zahlreichen Reformen des UNO-Systems engagieren, die auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrats möglich sind. Das gilt für die allermeisten der bis heute unerledigten Vorschläge Annans.

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