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Andreas Zenner

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Coronado

Selma

Coronado

Tagebuch

Coronado

Tagebuch

Coronado

Tagebuch

Coronado

Tagebuch

Coronado

Tagebuch

Coronado

Tagebuch

Coronado

Mexiko

Tagebuch

Mexiko

Tagebuch

Mexiko

Tagebuch

Mexiko

Tagebuch

Mexiko

Coronado

Tagebuch

Coronado

Tagebuch

Coronado

Impressum

Vorwort

Denn das wissen wir:

Die Erde gehört nicht den Menschen

Der Mensch gehört zur Erde.

Das wissen wir

Alles ist miteinander verbunden, wie

das Blut, das eine Familie vereint.

Alles ist verbunden.

Was die Erde befällt, befällt auch die

Söhne und Töchter der Erde. Der Mensch

schuf nicht das Gewebe des Lebens, er

ist darin nur eine Faser.

Was immer ihr dem Gewebe antut, das

tut ihr euch selber an.

Zugeschrieben dem indianischen Häuptling Seattle (1855)

Coronado

„Eigentlich“, sinnierte Heinrich, „sollte ich glücklich sein, eigentlich.“ Die Kühle der Nacht wehte durch das offene Fenster, draußen dämmerte ein klarer Tag herauf. Die Luft noch still, nicht erfüllt vom Lärm des Tages und den Abgasen der endlosen Autoschlangen, die sich jedes Wochenende über die Coronado Brücke an den Silver Strand schoben. Von der Bay klang gedämpft das Heulen einer Schiffssirene herüber. Auf der Straße vor dem Haus klirrten die Flaschen des Milchmannes, der wie jeden Morgen, auch samstags, seine Kunden belieferte.

„In einer halben Stunde radelt der Zeitungsjunge vorbei“, dachte Heinrich. Er lag entspannt auf dem Rücken; die Augen halb offen blinzelte er zur Decke, wo der Ventilator müde herumhing, bevor er gegen Mittag, wenn die Hitze wie heißer Atem durch die Stadt fuhr, mit seiner Arbeit beginnen würde. Neben ihm, von einem dünnen Laken kaum verhüllt, zeichneten sich die Konturen seiner Frau ab. Sie wirkte jung, zart, und zerbrechlich. Ihre schwarzen Haare kringelten sich auf dem Kopfkissen. Einen Arm unter das Kissen geschoben, ruhte sie halb auf der Seite und schlief. Sie atmete leicht und gleichmäßig, wirkte ein wenig erschöpft von den Anstrengungen der Nacht. Erste fahle Lichtstrahlen tasteten sich durch das Schlafzimmer, schemenhaft schwammen die Möbel im Halbdunkel. Er wagte nicht sich zu rühren, auf keinen Fall wollte er sie wecken. Sein Blick schweifte ziellos durch den Raum, blieb am achtlos über den Stuhl geworfenen Kleid, ihrer Unterwäsche hängen.

Sie bewohnten ein schönes, geräumiges Haus mit einem großen Garten, hatten gute Jobs, in der Garage parkten zwei Wagen und sie konnten es sich leisten, die Straße hinunter zu bummeln, um bei ihrem Lieblingsmexikaner zu essen, wann immer sie Lust dazu hatten. Scharfe Tortillas, oder mit Fleisch gefüllte Tamales. Eine sanfte Meeresbrise bauschte die Vorhänge und schüttete einen Hauch kühle Luft ins Schlafzimmer. Heinrich fröstelte um die Schultern und er zog sein Laken höher. Die leichte Bewegung genügte, Cielo wach zu machen. Sie öffnete die Augen einen Spalt, forschte in seinem Gesicht, schob ihre kleine Hand unter sein Laken und suchte die seine.

„Kannst du nicht schlafen?“ Er nickte. Sie sahen sich unverwandt an, zu ermattet um zu reden. Ein wohliges Gähnen huschte über ihr Gesicht. Dankbar spürte er der Nähe zwischen sich und seiner Frau nach, genoss die stille Zärtlichkeit des erwachenden Morgens. Er räkelte sich ein wenig im Glück wortlosen Vertrauens.

„Komm“, flüsterte sie und hob ihr Laken leicht an. Er schlüpfte zu ihr. Sie schmiegten sich träge aneinander und er fühlte ihre schlaftrunkene Wärme auf seiner Haut.

„Es ist schön mit dir“, lächelte er. Er küsste zärtlich ihre Lider, strich über ihr schwarzes Haar, folgte der Wölbung ihres Nackens, ihres Rückens. Sie ließ es geschehen, lag da, matt und schnurrend wie eine Katze in der Morgensonne. Er liebkoste ihren Po, ihre Oberschenkel. Ein leichter Schauer huschte über ihren Körper.

„Schon wieder“, wisperte sie und zog belustigt die Augenbrauen hoch. Statt zu antworten küsste er ihren Mund, fuhr mit der Zunge zwischen ihre Zähne. Er liebte es morgens mit ihr zu schlafen. Es fühlte sich anders an als nachts, sanfter, zärtlicher. Kein wilder Trieb drängte sie zueinander, kein lustvolles Ringen, keine verzehrende Leidenschaft. Es glich eher – er suchte nach einem Vergleich – es glich den sanften Wellen des Meeres, die über seinen Körper plätscherten, wenn er am Strand in der Sonne lag. Sie kamen und gingen, streichelten die Haut, umspülten alles bis tief ins Herz hinein. Der Leib gab sich dem Rieseln des Sandes hin, den Strahlen der Sonne. Kein Gedanke mehr an die Arbeit, an den ständigen Ärger mit seinen Auftraggebern. Sich lautlos treiben lassen, eins werden mit dem Meer, der Sonne, dem Sand und ihr. Er tauchte ein in ihre Weichheit, ihre Wärme, ihre Liebe. Tiefe Freude durchflutete ihn, er hätte laut jauchzen können, so glücklich kam er sich vor.

„Ist es gut?“, hauchte sie. Sie roch seine Haare, die immer eine Spur nach Meer dufteten und schmeckte seine leicht salzige Haut.

„Ich liebe dich, ich liebe dich, mehr als alles auf der Welt.“

Sie streichelte ihm das Gesicht und er wurde gewahr wie eine Träne aus ihrem Augenwinkel über die Schläfe in das schwarze Haar rann. Behutsam, ohne sich von ihr zu lösen, küsste er sie weg.

„Es wird schon“, raunte er ihr tröstend zu. „Wir haben so viel Zeit.“

Sie wusste, er hatte recht – und doch. Eine bange Ahnung zog wie ein grauer hässlicher Schatten durch ihr Herz.

„Denk nicht daran, nicht jetzt.“

Sie schloss die Augen, so konnte er ihre Tränen nicht sehen. Und doch waren sie da. Er liebte sie ganz sanft, voller Inbrunst, als glitten sie, ineinander verschlungen durch das stille Wasser eines Sees, im gleichen Rhythmus, im gleichen Atem. Fast unmerklich kam es ihm und er genoss es anders, inniger, zärtlicher als im Dunkel der Nacht. Lange hielten sie sich im Arm, lagen eng aneinander geschmiegt, als müssten sie sich wärmen.

„Das war schön“, hauchte sie ihm ins Ohr, „lass uns noch ein wenig schlafen.“

Behutsam löste er sich von ihr, wickelte sich in sein Laken und schlief gleich einem Kind sofort ein. Cielo regte sich nicht. Lautlos liefen die Tränen über ihr Gesicht, tropften auf das Kopfkissen, bildeten einen feuchten Fleck. Sie wollte das nicht, wusste nicht einmal zu sagen, warum ihr gerade jetzt die Tränen kamen. Allein sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sie spürte den Kloß in ihrer Kehle, versuchte ihn hinunter zu schlucken, vergeblich.

„Ich bin doch glücklich, ich habe den liebsten Mann der Welt“, sprach sie sich in Gedanken Mut zu. Möglicherweise hatte er recht, vielleicht müssten sie sich nur gedulden; sie war noch jung, knappe 32 Jahre. Woher also kam diese dunkle Ahnung, die sie von Zeit zu Zeit heimsuchte? Sie bemühte sich, die trüben Gedanken zu verscheuchen, versuchte an etwas Schönes, Heiteres zu denken. Die ersten Sonnenstrahlen hüpften ins Schlafzimmer, malten lustige Kringel an die Decke, sprangen auf ihr rotes Kleid, ließen die Farben für einen Augenblick hell aufblitzen. Dann fielen ihr die Augen zu und sie sank in einen unruhigen Schlaf.

 

Sie erwachten spät, duschten endlos miteinander und frühstückten auf der Veranda. Der Wind schaukelte die Zweige der mächtigen kalifornischen Eiche, die einen Teil des Gartens in bläulichen Schatten tauchte. Im Laufe der Jahre stetig gewachsen überragte der Baum das Haus und er hätte schon längst gefällt gehört. Doch Heinrich brachte es nicht über das Herz, den alten Baum abholzen zu lassen. Zu viele Erinnerungen verband er mit dem knorrigen alten Gesellen.

Sprach ihn Cielo darauf an, antwortete er: „Solange ihn der Sturm nicht umreißt, mag er stehen bleiben. Sonne haben wir hier überall, aber Schatten, Schatten ist etwas Kostbares in Kalifornien.“ Schwarzer mexikanischer Kaffee dampfte in bunten Bechern, dazu aßen sie Tortillas, die Cielo gestern gebacken hatte. Für den Teig verwendete sie selbst angebauten Mais, den sie in einer sonnigen Ecke des Gartens mit Hingabe züchtete.

„Der eigene Mais schmeckt tausendmal besser als das gekaufte Zeug. Wer weiß, was da alles drin ist“, behauptete sie steif und fest, ließ sich auch durch die spöttischen Bemerkungen Heinrichs nicht davon abhalten. Gutmütig ließ er sie gewähren. Cielo stammte aus Oaxaca und diese Provinz ist die Maiskammer Mexikos. Die Liebe zum Maisanbau war ihr in die Wiege gelegt. Am Rande hatte er über Cielos Vater mitbekommen, dass in der Schatzkammer mexikanischer Maissaaten von merkwürdigen Vorgängen um den Mais gemunkelt wurden. Doch er interessierte sich nicht wirklich dafür. Mexiko war weit und sie lebten in Kalifornien. Sollte Cielo ihren kleinen Spleen haben. Insgeheim musste er ihr sogar recht geben. Die Tortillas mit ihrer Füllung aus kaltem Hähnchenfleisch und Tomaten schmeckten köstlich. Er musterte Cielo verstohlen von der Seite. Ihren schlanken Körper im luftigen Sommerkleid, das gebräunte, feingeschnittene Gesicht mit den vollen Lippen und den kräftigen Wangenknochen, die dunklen Augen, die unter den langen Wimpern hervor blitzten. All das liebte er an seiner betörend schönen Frau und manchmal konnte er sein Glück kaum fassen, sie zur Partnerin zu haben. Fünf Jahre waren sie verheiratet. Er erinnerte sich mit Vergnügen an die ausgelassene Hochzeitsfeier, die sie im Heimatdorf seiner Frau gefeiert hatten. Ganz Jamiltepec war auf den Beinen. Es wurde gegessen, getrunken, getanzt und wieder gegessen. Mitten im Festgewühl Padre Pio, der sich als über die Maßen trinkfest erwies.

„Behandle meine Cielo gut“, dröhnte der Kirchenmann zu später Stunde, „sonst soll dich der Teufel holen, Gringo, und dass ihr mir viele, nette Kinderchen macht.“

Unwillkürlich musste Heinrich lächeln, so greifbar stand das Bild vor ihm. Sie rückte ihren Stuhl an seine Seite, streichelte Heinrichs gebräunten Arm und sah ihn fragend an.

„Ich musste an Padre Pio denken“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. Sie lächelte, dann huschte ein Schatten über ihr Gesicht.

„Und“, wollte er wissen, „hätte ich das nicht erwähnen dürfen?“

Sie schüttelte tapfer den Kopf und er nahm wahr, wie sie schluckte.

„Es wird schon klappen, irgendwann“, munterte er sie auf.

„Sicher“, doch in ihrer Stimme schwangen unüberhörbare Zweifel mit.

Er merkte, es wäre besser das Thema zu wechseln.

„Was wollen wir heute unternehmen?“, fragte er betont fröhlich. Sie blickte ihn erleichtert an.

„Ich muss einkaufen, aber das geht schnell, dann könnten wir zum Strand gehen. Es wird ein heißer Tag. Ich würde gerne ein wenig schwimmen, du kannst windsurfen.“ Sie wusste, er liebte Windsurfen über alles und es war eine Freude ihm zuzusehen wenn er sportlich auf seinem Brett durch die Wellen kurvte, verfolgt von den bewundernden Blicken vieler Frauen. Cielo genoss es, wenn andere Frauen ihrem Mann nachschauten, es machte sie stolz und führte ihr vor Augen, wie viel Glück sie bei der Wahl ihres Mannes bewiesen hatte.

„Prima“, pflichtete er ihr bei, „dann kann ich gleich mein neues Board ausprobieren.“ Er küsste sie stürmisch auf den weichen Mund. Sie verstand es, ihm die Wünsche von den Augen abzulesen.

„Aber vorher gehen wir einkaufen.“

Er half ihr das Geschirr abzuräumen, stapelte alles ordentlich in die Spülmaschine. Er nannte es Spülmaschinen-Tetris. Dann fuhren sie mit dem Pickup zum Supermarkt. Dort herrschte wie jeden Samstag dichtes Gedränge. Mütter schoben ihre Einkaufswagen durch die engen Gassen, vorbei an den überquellenden Regalen, schimpften ihre Kinder, die quengelnd die Ständer mit den Süßigkeiten umlagerten. Zwei Jungen stritten lautstark um ein Mickey-Maus-Heft. Dazwischen quäkte die Ansage des Marktleiters, informierte über die heutigen Sonderangebote.

„Nichts wie raus hier“, raunte Heinrich. „Hast du alles?“

„Nur noch ein paar Tomaten und für morgen tiefgefrorene Garnelen, dann bin ich fertig.“

Sie zahlten, schoben ihren Einkaufswagen über den weitläufigen Parkplatz. Neben ihnen stand das Auto einer Frau, die zwei kleine Kinder, offensichtlich Zwillinge, in den Kindersitzen festgeschnallt hatte. Die Mutter verstaute ihre Lebensmittel im Kofferraum und die beiden Mädchen greinten trotzig. Cielo hätte am liebsten mit geweint, so ging ihr das Geschrei zu Herzen. Heinrich belud den Wagen. Wie gebannt stand Cielo vor dem Van mit den beiden Kindern. Sie lächelte ihnen zu, winkte, schnitt eine Grimasse. Die zwei zeigten sich wenig beeindruckt von der fremden Frau, die vor ihnen herum kasperte.

„Süß, nicht?“, sprach sie die Mutter an, die mit dem Verladen der Milchkartons und der übrigen Einkäufe fertig war, nun um das Auto herum gegangen kam und neben Cielo stehen blieb.

„Sehr süß“, seufzte Cielo.

„Schon, aber bisweilen furchtbar nervig. Sie machen alles gemeinsam. Sie wollen zur gleichen Zeit essen, sie weinen gleichzeitig und sie wollen zugleich getröstet werden. Das macht einen fertig“, stellte die Mutter erschöpft fest. Manchmal wünschte ich mir sechs Arme zu haben, wie diese indische Gottheit.“

„Trotzdem schön“, mutmaßte Cielo, „wie heißen sie denn?“

„Wir haben sie Scarlett und Britney getauft. Mein Mann hat ein Faible für Filmstars, besonders für die jungen blonden“, lächelte die Mutter schwach.

„Darf ich sie mal halten?“, bat Cielo und ihre Stimme zitterte ein wenig. Die Frau lachte überlaut.

„Warum nicht, vielleicht beruhigt sie das.“

Sie befreite die Zwillinge aus ihren Gurten und drückte Cielo in jeden Arm eines der schreienden und zappelnden Bündel.

„Ganz schön schwer, nicht?“, grinste sie. Allein das Gewicht spürte Cielo nicht. Sie fühlte die kleinen, weichen und scheinbar so zerbrechlichen Körper, die an ihren Busen drückten. Ein kaum vernehmlicher Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Sie nahm eine innere Erregung wahr, ähnlich dem Zustand heute Morgen, als Heinrich bei ihr lag. Die Zwillinge starrten sie erstaunt mit ihren großen braunen Kulleraugen an. Was war jetzt das? Sie verzogen die Gesichter, wollten entrüstet anfangen zu schreien. Cielo begann sie instinktiv in den Armen zu wiegen und besänftigt ließen es die Mädchen geschehen. Heinrich, der hinzugetreten war, betrachtete die Szene amüsiert.

„Sie wäre eine prachtvolle Mutter“, dachte er bei sich.

„Wirklich goldig die beiden“, meinte seine Frau und ihre Stimme klang dunkler als sonst. Einer der Zwillinge fuhr ihr mit der kleinen Hand ins lose Haar, krallte sich fest und zog kräftig.

„Aua, das tut weh“, rief Cielo erschrocken.

„Lass das, Britney“, fuhr die Mutter das Kind scharf an und erschrocken ließ es los.

„Manchmal muss ich streng mit ihnen sein, sonst tanzen sie mir auf der Nase herum“, versicherte die Mutter.

„Sie sind sich so ähnlich“, wunderte sich Cielo und bemerkte wie ihre Brustwarzen hart wurden.

„Kein Wunder“, freute sich die Frau, „es sind eineiige Zwillinge.“

Die Mutter mochte 5-6 Jahre älter sein als Cielo, sie war modisch gekleidet, nicht so aufdringlich wie die meist eher flippig angezogenen jungen Leute, die täglich die Straßen Coronados bevölkerten. Der Schmuck und das Auto ließen auf einen gewissen Wohlstand schließen. Sie zeigte den typischen Gesichtsausdruck einer gestressten Mutter. Die dunklen Augenringe zeugten vom Schlafmangel und der ständigen Aufmerksamkeit, die sie den quirligen Zweien entgegenbrachte. Kleine Falten hatten sich in ihre Mundwinkel eingegraben, die angespannten Gesichtszüge verrieten die Strapazen, unter denen sie litt. Trotzdem beneidete Cielo sie, mit ihrem süß, schmerzlichen Gesicht schien sie ihr wunderschön, ähnlich der Madonna im Rosenhag auf dem mittelalterlichen farbenprächtigen Bild des Stephan Lochner. Verlegen stand Heinrich daneben, er wusste nicht, sollte er sich einmischen oder einfach ins Auto steigen, als ginge ihn die Geschichte nichts an.

„Möchten Sie auch eines halten?“, fragte die Mutter, die über ihre Kinder ein wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhr.

„Warum nicht“, murmelte Heinrich, der wusste, er konnte Cielo damit eine Freude machen. Vorsichtig, als hätte er ein Stück kostbares Glas in der Hand, nahm er Cielo das kleine Mädchen ab. Doch diesem missfiel der Wechsel. Es fing an herzzerreißend zu schluchzen und dicke Tränen kullerten aus seinen Augen. Erschrocken drückte Heinrich der Mutter das Baby wieder in den Arm.

„Mit Männern haben sie es nicht so“, lachte die Mutter und wiegte ihren kleinen Schatz, bis sich dieser wieder beruhigt hatte.

Heinrich spürte die aufkommende Unruhe der Mutter, die sich die erlittene Pein von der Seele reden wollte.

„Wissen Sie“, erzählte die Mutter, die Vertrauen gefasst zu haben schien, „es war nicht einfach. Eigentlich konnten wir keine Kinder bekommen. Die Samen meines Mannes, er ist schon älter, waren zu langsam. Lange haben wir uns geplagt und was am Anfang Spaß und Freude für uns war, wurde unmerklich zur Last. Ich bekam schon Angst wenn mein Mann zu mir ins Bett kroch, so verkrampft war ich. Das Eheleben wurde zur Qual für uns, denn wir wollten unbedingt Kinder. Mit der Zeit wuchs meine Verzweiflung und zwischen uns kriselte es heftig. Schließlich haben wir es auf Anraten des Arztes mit einer Insemination versucht. Es klappte nicht beim ersten Mal und ich wurde immer mutloser und gereizter. Grundlos beschimpfte ich meinen Mann, überfordert durch das ständige Warten, dieses Wechselbad zwischen Hoffnung und Enttäuschung.“

„Ich wurde depressiv und mein Arzt verordnete mir Psychopharmaka, aber die halfen nicht wirklich. Ohne ein Kind hatte das Leben keinen Sinn mehr für mich. Ich fühlte mich minderwertig, gänzlich nutzlos. Mein Mann hat mir damals sehr geholfen. Schließlich, als wir entmutigt aufgeben wollten, überredete uns mein Frauenarzt zu einem letzten Versuch. Viel Hoffnung hatten wir nicht, nach den vielen gescheiterten Versuchen. Doch vielleicht gerade, weil wir die Hoffnung fast aufgegeben hatten, klappte es.“

Cielo hörte mit wachsender Erregung zu. Das Baby in ihrem Arm hielt sie fest umklammert, als wäre es ihr eigenes.

„Naja“, lächelte die Mutter, „heute sind wir eine glückliche Familie, aber nochmals könnte ich diese Tortur nicht durchstehen.“

Daher die tiefen Falten, die diese schmerzliche Erfahrung in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Daher der leichte Hauch von Traurigkeit, der die Mutter noch immer wie eine Aura des Leids umgab. Erschüttert durch diese Beichte reichte ihr Cielo das Baby zurück.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie zur Mutter gewandt, „es tut mir leid. Ich verstehe Sie.“ Abrupt wandte sie sich ab und schlüpfte rasch in den Pickup. Sie gurtete sich an und in der Geborgenheit des Wagens brach ein Schluchzen aus ihr hervor. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen, ließen sich durch nichts zurückhalten.

„Entschuldigen Sie“, sagte Heinrich leise, „meiner Frau geht es nicht gut.“

Die Mutter stutzte, lächelte verstehend. Sie warf Cielo einen schnellen mitfühlenden Blick zu.

„Viel Glück“, flüsterte sie, „viel Glück.“

Zum Lunch nahmen sie nur eine Kleinigkeit, die sie sich vom Schnellimbiss Pollo Loco mitgebracht hatten. Die Stimmung gedrückt, vermieden sie es sich anzusehen. Cielo hatte sich die Augen ausgewaschen, doch die Spuren der Tränen konnte sie trotz aller Bemühungen nicht verbergen. Schweigend und lustlos nagten sie an ihren scharfen Chicken Wings, die in einer roten, vom Geschmack her undefinierbaren Sauce schwammen. Einige Wespen surrten über die Terrasse und stürzten sich fressgierig auf Fleisch und Sauce. Cielo seufzte abgrundtief. Heinrich litt still mit ihr, er konnte sich jedoch nicht aufraffen, sie in den Arm zu nehmen. Zu sehr fürchtete er einen neuerlichen Gefühlsausbruch, schon der Gedanke ängstigte ihn. Er war sich seiner Hilflosigkeit bewusst.

 

„Wir wollten doch zum Strand, oder ist dir nicht mehr danach?“, brach er schließlich das Schweigen.

„Ja, lass uns gehen, es hilft nichts hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen. Die Begegnung hat mich mit solcher Wucht getroffen, unvorbereitet: sie war so offen und ihre Lage der unseren so ähnlich.“

„Möchtest du reden?“, fragte Heinrich zaghaft. Sie schüttelte den Kopf, wollte ihren Schmerz nicht zerreden. Heinrich packte das Surfbrett auf den Pickup, die Strandtasche war schnell gepackt, ein paar frische Handtücher, das Badezeug. Alles andere blieb ständig in der Tasche. Cielo wühlte in der Schublade nach ihrer größten Sonnenbrille, um ihre Augen zu verstecken, griff sich ihren breitkrempigen mexikanischen Strohhut. Als der Wagen langsam aus der Ausfahrt rollte, rannte Mary, die Nachbarin, mit den Armen fuchtelnd, aus dem Haus.

„Entschuldigt, aber könntet ihr Manuel mit zum Strand nehmen?“, stieß sie nach Atem ringend hervor. „Ich muss dringend nach Diego und er langweilt sich dabei nur. Sein Vater hat dieses Wochenende Dienst auf der Marinebasis und ich habe niemanden, der auf ihn aufpassen könnte.“

Heinrich schickte einen schnellen fragenden Blick zu seiner Frau hinüber. Cielo nickte.

„Manuel“, rief Mary, „Manuel, beeile dich, du darfst mit den Gerstones an den Strand.“ Manuel, ein quirliger achtjähriger Junge mit einem roten Haarschopf stürmte aus dem Haus, die Badetasche unter dem Arm.

„Danke, dass Sie mich mitnehmen“, grinste er zufrieden, warf seine Tasche auf die Ladefläche des Pickups und schlüpfte in den Wagen. Er fing gleich an zu quatschen, die trübe Stimmung von Heinrich und Cielo schien er nicht zu bemerken.

„Cool, alleine zuhause ist es langweilig und im Fernseher kommen nur die blöden Simpsons, da kenne ich schon alle Folgen."

Er verfiel in die Sprache des Rotzlöffels Bart und das gelang ihm so täuschend echt, dass Cielo lächeln musste. Gemächlich rollte der Wagen den Ocean Boulevard hinunter, am Hotel del Coronado vorbei, in dem sie den Film „Manche mögen es heiß“ gedreht hatten, und weiter auf die Landzunge des Silver Strand State Beach. Sie suchten einen Platz, auf dem nicht ein Handtuch das andere berührte, machten es sich im warmen Sand bequem. Jetzt Ende Mai war die Luft noch nicht so drückend heiß wie im August. Die beiden Männer stürzten sich sofort ins Wasser. Sie planschten, bespritzten sich und schwammen einträchtig ein Stückchen nebeneinander her. Cielo in ihrem knappen schwarzen Bikini beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie lag auf dem Bauch, die Wochenendzeitung vor sich, doch ihre Augen konnten den Zeilen nicht folgen. Mit den Gedanken weilte sie bei der Mutter der Zwillinge. Sie neidete der Frau ihr Glück, schämte sich dabei ein bisschen. Das Rauschen der Wellen und die leichte Brise schläferten sie ein. Sie erwachte von einem kalten Schwall glitzernder Wassertropfen, die auf ihren Rücken fielen. Die beiden Männer machten sich den Spaß, die nassen Haare über ihr auszuschütteln.

„Das ist gemein!“, schrie sie und sprang auf. Sie jagten den Strand hinauf, bis die zwei trocken waren.

„Manuel, du bist noch immer ganz durchgefroren“, rief Cielo fürsorglich.

„Wickle dich in dein Handtuch, bis dir wieder warm ist.“

„Wenn du auf den Jungen aufpasst, würde ich gerne eine halbe Stunde surfen“, lachte Heinrich. Er packte sein Brett und weg war er. Cielo sah ihm nach. Sie liebte es, ihm beim Surfen zuzusehen, wie er geschickt die Wellen schnitt. Sein braungebrannter Körper wiegte sich elegant auf dem schwankenden Brett, das blonde Haar leuchtete in der Sonne. Zärtlichkeit berührte ihr Herz und erneut war ihr zum Weinen zumute.

Es geht uns doch gut, beruhigte sie sich. Manuel hockte neben ihr, zusammengekauert. Er zitterte, trotz des wärmenden Handtuchs.

„Wenn ich groß bin, werde ich ein berühmter Surfer“, verkündete der Junge. „Vielleicht lässt mich Ihr Mann mal auf sein Brett.“ Cielo lachte.

„Dann“, fuhr er eifrig fort, „fliege ich nach Hawaii und nehme an den Wettbewerben teil. Ich verdiene viel Geld und mache eine eigene Surfschule auf.“

Sie schwiegen eine Weile, sahen Heinrich zu, der durch die Wellen kurvte.

„Warum haben Sie eigentlich keine Kinder?“, fragte Manuel in kindlicher Unschuld. Cielo schluckte. Eine Wolke von Traurigkeit wehte über ihr Gesicht.

„Weißt du, es klappt irgendwie nicht.“

„Wieso?“

Cielo zuckte mit den Schultern.

„Sie wären bestimmt eine tolle Mutter, und Ihr Mann ein super Vater.“

„Mal sehen“, meinte Cielo kurz angebunden.

„Magst du einen Keks?“ Der Junge griff zu und für Cielo war das Gespräch beendet. Sie wollte ihren Seelenzustand nicht mit einem kleinen Jungen teilen. Cielo musste sich eingestehen, sie selbst hatte noch keine rechte Klarheit über dieses Thema gewonnen. Bis heute hatten sie und Heinrich nicht wirklich über ein Kind gesprochen und ganz sicher war sie sich auch nicht, ob sie schon Mutter werden wollte. Ihr morgendlicher Gefühlsausbruch überraschte und erschreckte sie. Sie brauchte Zeit, um sich über ihre Empfindungen klar zu werden und zunächst müsste sie mit Heinrich darüber reden. Vielleicht heute Abend. Sie wollte einen Zeitpunkt abwarten, der ihr günstig erschien. Gewiss, sie wurde dreiunddreißig, eigentlich ein gutes Alter um Kinder zu bekommen. Warum klappte es dann nicht? Lag es vielleicht an ihr, oder an Heinrich? Die Ungewissheit belastete sie und sie stellte eine wachsende Unzufriedenheit bei sich fest.

„Kommen Sie, lassen Sie uns Ball spielen“, forderte Manuel sie auf. Sie spielten eine Runde Beach-Volleyball und die schnellen Bewegungen, die Konzentration auf das Spiel verscheuchten ihre trüben Gedanken. Die Sonne neigte sich dem Meer zu, in der Ferne schimmerten bläulich die Berge im Dunst des Abends. Eine kühle Brise wehte vom Meer her, die beiden fröstelten.

„Wir sollten gehen, es wird kalt.“ Sie winkten Heinrich aus dem Wasser, packten ihre Sachen zusammen und fuhren nach Hause.

Sie hatten gut gegessen, Burritos mit scharfer Soße. Heinrich fühlte sich behaglich, er reckte und dehnte sich, wohlige Müdigkeit steckte in seinen Gliedern. Sie saßen auf der Veranda, die laue Nacht ließ es zu, auch wenn er sich einen leichten Pullover übergezogen und sie ein gesticktes Rebozo um die blanken Schultern gelegt hatte. Das Windlicht flackerte auf dem Tisch und die Kerze brachte den Cabernet Sauvignon in den Gläsern rot funkelnd zum Leuchten. Er legte seinen Arm um Cielo und drückte sie leicht an sich. Doch Cielo war mit ihren Gedanken nicht bei ihm. Er küsste sie auf den Hals, versuchte ihre vollen roten Lippen zu erhaschen. Sie wich ihm mit einer leichten Drehung des Kopfes aus.

„Wir müssen reden“, sagte sie schließlich mit gepresster Stimme.

„Ja.“

Sie wartete, doch er machte keinerlei Anstalten mehr zu sagen. Cielo seufzte. Verstand er sie nicht oder hatte er nur Angst das Problem anzusprechen. Nach ihrem morgendlichen Gefühlsausbruch kein Wunder. Beide fühlten sie, sie sollten über Cielos Kinderwunsch reden, alleine sie scheuten sich. Ein Gespräch hätte eine Entscheidung nach sich ziehen müssen. Aufschieben schien aber auch keine Lösung zu sein. Cielo seufzte erneut. Heinrich nahm ihre Hand, strich zärtlich mit dem Daumen über ihren Handrücken.

„Ja“, wiederholte er aufmunternd.

Cielo fasste sich ein Herz.

„Ich verstehe nicht, warum es einfach nicht klappen will. Ich weiß, du hättest auch gerne Kinder.“

Heinrich pflichtete ihr bei.

„Wir sind jetzt sechs Jahre zusammen. Anfangs habe ich verhütet, doch seit über zwei Jahren nehme ich keine Pille mehr. Trotzdem tut sich nichts. Ich werde nicht schwanger. Wir haben uns so viel Mühe gegeben.“

„Vielleicht liegt es daran, dass wir uns zu sehr auf ein Kind fixiert haben, zu sehr verkrampfen.“

„Hast du das Gefühl ich bin verkrampft?“

„Eigentlich nicht.“ Er sah ein, er hatte die Ursache unbewusst bei ihr gesucht. Dass er der Grund ihrer Kinderlosigkeit sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Stille Tränen rannen über Cielos Gesicht. Erschrocken bemerkte er, wie tief er sie verletzt hatte.

„Entschuldige“, stotterte er. Er streichelte ihr sanft die Schultern, drückte sie ein wenig fester an sich. Da überflutete das angestaute Leid alle Dämme. Sie weinte laut auf, warf sich an seine Brust.

„Ich bin so verunsichert“, stieß sie zwischen zwei Schluchzern hervor. Mit einer hilflosen Geste versuchte Heinrich sie zu beruhigen. Doch all der unausgesprochene Kummer, die quälende Unsicherheit mussten jetzt heraus. Unaufhörlich liefen die Tränen. Sie mussten geweint werden, waren zu lange unterdrückt. Der heutige Tag hatte sie überfordert, ihre dunkelsten Gefühle nach oben gespült. Cielo warf sich vor als Frau versagt zu haben: sie konnte nicht Mutter werden, glaubte sie.

„Sogar Manuel hat schon gefragt“, klagte sie.

„Dieser Schlingel.“

„Aber er hat recht“, wimmerte sie, „verstehst du mich nicht?“

„Auch ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Kind von dir“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie sah ihn mit tränenüberfluteten Augen an.

„Warum, warum nur?“, jammerte sie.

„Ich weiß es nicht, Liebes.“

Jetzt da sie das erste Mal bewusst darüber sprachen, wich der Druck ein wenig von ihnen. Der zarte Körper der Frau wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.

„Meine Geschwister haben alle Kinder. Julio sogar Zwillinge. Ich schäme mich so. In Mexiko ist Kinderlosigkeit eine Schande.“

„Nicht doch mein Engel, vielleicht kannst du nichts dafür.“

„Wie meinst du das“, fragte sie misstrauisch.

„Vielleicht besteht ein körperliches Hindernis. Ich habe gehört, man könnte die Tuben durchblasen.“

„Und wenn es nicht an mir liegt?“

Heinrich schwieg. Darüber wollte er nicht nachdenken.