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„Wir können nichts ausschließen. Doch einfach warten sollten wir auch nicht.“

Erleichtert und dankbar sah sie ihn an.

„Die Frau heute Morgen hat noch von einer anderen Möglichkeit erzählt.“

„Im Reagenzglas, pfui Teufel“, Cielo schüttelte sich.

„Ich meine ja nur, aber darüber brauchen wir uns heute Abend nicht den Kopf zu zerbrechen.“

„Es ist doch immer so schön mit uns“, seufzte Cielo.

„Daran ändert sich nichts“, meinte er und wollte ihr damit Mut zusprechen.

„Es hat sich schon geändert“, flüsterte sie, „ich kann die Gedanken an ein Kind nicht abschalten.“

Heinrich erschrak.

„Ich halte den Druck nicht mehr lange aus. Heute war ich am Rande eines Nervenzusammenbruches.“

„Sag nicht so etwas.“

„Du verstehst mich nicht“, weinte Cielo traurig. Der Vorwurf wog schwer. Heinrich löste den Arm von seiner Frau.

„Warum? Denkst du, ich leide nicht?“

„Du machst nicht den Eindruck“, stieß sie trotzig hervor.

„Cielo, ich liebe dich, du bist die einzige Frau mit der ich bis ans Ende meines Lebens zusammen bleiben möchte, ob mit oder ohne Kinder.“

Der Mond leuchtete durch die Blätter der Eiche, sein weiches Licht stimmte die beiden versöhnlich. Sie fröstelten, spürten die kalte Nachtluft auf der bloßen Haut.

„Lass uns ins Haus gehen.“

Das Sofa fühlte sich weich und gemütlich und gleich viel wärmer an. Tröstlich und freundlich schimmerte das Licht der Deckenleuchte. Das Windlicht auf dem Couchtisch brannte ruhig.

„Wir sind keinen Schritt weiter gekommen“, meinte Cielo, die aufgehört hatte zu weinen. Er reichte ihr ein Kleenex und sie schnäuzte sich ausgiebig.

„Vielleicht“, hub Heinrich gedankenvoll wieder an, „sollten wir uns beraten lassen.“

„Daran habe ich auch gedacht“, flüsterte Cielo und Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. Sie kuschelte sich an ihren Mann, schloss die Augen, seufzte tief. Heinrich strich ihr über das blauschwarz schimmernde Haar.

„Wie schön sie ist“, dachte er.

„Cielo, geliebte Cielo“, hauchte er ihr ins Ohr. Mutlos saßen sie, schweigend, eng umschlungen, hielten sich tröstend in den Armen.

„Ich stehe das mit dir durch.“ Voller Zutrauen sah sie ihn an.

„Lass uns nach oben gehen.“

Hand in Hand stiegen sie die Treppe hinauf. In dieser Nacht liebten sie sich mit verzweifeltem Mut und doch so zärtlich, bis sie zu guter Letzt erschöpft in einen unruhigen Schlaf sanken.

„Montag mache ich einen Termin“, überlegte sie, bevor sie in fiebrige Träume hinüberglitt.

Allein das Schicksal hatte anderes mit ihnen vor. Gegen 10:00 Uhr morgens, die Gerstones saßen auf der Terrasse beim Frühstück, läutete das Telefon. Cielo sprang auf, eilte ins Wohnzimmer. Um diese Zeit pflegte sie mit ihrer Mutter in Mexiko zu telefonieren. Doch es war nicht die Mutter. Cielo brachte Heinrich das Telefon.

„Es ist dein Halbbruder“, rief sie und hielt die Sprechmuschel zu.

„Was will der denn?“, brummte Heinrich unwillig. Die beiden verstanden sich nicht sonderlich und ihn beschlich immer ein unangenehmes Gefühl, wenn er Eduard am Telefon hatte.

„Hier Heinrich.“

Cielo verstand nicht was die beiden sprachen, aber es schien kein Anruf aus purer Höflichkeit zu sein. Heinrichs Stimme klang heiser.

„Wann?“, fragte er und, „Wo ist er jetzt?“

Die Kaffeetasse in seiner Hand zitterte. Er stellte sie behutsam zurück auf den Tisch. Cielo ahnte: das waren keine guten Nachrichten.

„Ich komme, so schnell ich kann“, krächzte Heinrich ins Telefon. „Ich gebe dir Bescheid, wann das Flugzeug landet.“

Er unterbrach die Verbindung. Cielo wartete geduldig. Ihr Mann würde erzählen, was vorgefallen war, wenn er sich wieder beruhigt hatte. Heinrich nahm einen Schluck Kaffee, starrte ins Leere. Er saß minutenlang, wie versteinert.

„Was ist passiert?“ Cielo hielt die Spannung nicht mehr aus. Wie aus einem hässlichen Traum erwachte Heinrich. Er sah seine Frau an und sie bemerkte das Glitzern, von Tränen, in seinen Augen.

„Vater hatte einen Herzinfarkt. Er liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte meinen, es geht zu Ende. Er möchte mich noch einmal sehen“, flüsterte er kaum hörbar.

Cielo legte ihre Hand mitfühlend auf die seine. Sie schwieg. Was hätte sie auch Tröstendes sagen können.

„Ich habe es kommen sehen“, stammelte Heinrich. „Es ist nicht sein erster Infarkt. Doch dieser scheint schlimmer zu sein als die vorherigen.“

„Soll ich mitkommen?“, bot sich Cielo an. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, da muss ich alleine durch.“

Er erinnerte sich: sein Vater verweigerte ihnen die Zustimmung zu ihrer Hochzeit. Darüber entbrannte vor Jahren ein heftiger Streit.

„Mein Sohn heiratet keine Mestizin, hatte der Vater ihn mit rotem Gesicht angebrüllt. Mein Sohn nicht.“

Doch Heinrich blieb hart. Trotz aller Verwünschungen ließ er sich nicht umstimmen, wollte nicht auf seine Liebe verzichten. Wütend trennten sie sich und Heinrich war zu stolz, mit dem alten Sturkopf wieder ernsthaft Kontakt aufzunehmen. Er schrieb die obligaten Geburtstagsgrüße, die Weihnachtsglückwünsche und ganz selten nur rief er an. Der Alte blieb beleidigt, obwohl ihre Auseinandersetzung sechs Jahre zurück lag.

„Weiße heiraten Weiße, keine Farbigen“, hatte ihm der Vater damals unversöhnlich ins Gesicht geschleudert. Er hatte etwas von Familienehre gefaselt, von Rassenschande. Rassenschande, ein Wort mit dem Heinrich nichts anfangen konnte, das jedoch Furchtbares beinhaltete.

„Wie sollen deine Kinder aussehen? Mischlinge, kleine Bastarde.“ Das wenigstens stand nicht zur Debatte. Um ein Haar hätte der Vater sich dazu hinreißen lassen, den Sohn zu verstoßen. Im Zorn waren sie auseinandergegangen. Seitdem hatten sie dieses Thema nicht mehr angeschnitten. Und jetzt das. Heinrich fühlte sich elend beim bloßen Gedanken, den Vater besuchen zu müssen, ihn vielleicht nicht mehr lebend anzutreffen. Er wünschte sich, sie könnten in Frieden voneinander scheiden, denn trotz allem blieb er sein Vater. Er hatte ihm das Leben gegeben, er hatte ihn aufgezogen, sein Studium ermöglicht, bis zum frühen Tod der Mutter, für eine unbeschwerte Kindheit gesorgt. In Gedanken versunken frühstückten sie weiter. Heinrichs Bewegungen wirkten schleppend, als zögere er die anstehende Reise so lange wie möglich hinaus. Cielo schenkte ihm Kaffee nach, gab einen Schuss Milch dazu, zwei Stück Zucker. Er bemerkte es kaum, dankte nicht. Sollte es so zu Ende gehen? Würde ihn der Vater überhaupt willkommen heißen oder würde er ihn erneut mit Vorwürfen überschütten? Er hatte keine Ahnung, spürte nur dieses flaue Gefühl im Magen. Keine leichte Reise.

Und dann der Halbbruder mit seiner proletenhaften Familie, ganz zu schweigen von der übergriffigen Stiefmutter. Er verabscheute sie aus tiefstem Herzen, er wusste nicht warum, denn sie hatte ihm nichts getan, zugleich aber übte sie eine dunkle Anziehung auf ihn aus. Wenn er einmal davon absah, dass sie die kümmerliche Erinnerung an die Mutter in seinem Herzen zu verdrängen suchte. In seiner Kindheit empfand Heinrich die Ablehnung seiner Stiefmutter wie eine immerzu schwärende Wunde. Er seufzte tief. Der Besuch musste sein. Es ging um seinen Vater und vielleicht müsste er nicht lange bleiben. Er könnte wichtige Arbeiten vorschieben und sich bald wieder aus dem Staub machen. Irgendwie feige, schoss es ihm durch den Kopf. Andererseits hatte er nie das Gefühl zur neuen Familie des Vaters zu gehören.

„Soll ich im Internet nach Flügen suchen?“, bot sich Cielo fürsorglich an.

„Danke, das mache ich schon.“

Er erhob sich schwerfällig, streifte mit einem abwesenden Kuss das seidige Haar seiner Frau und schlurfte ins Arbeitszimmer. Es war nicht einfach, einen Flug nach Montgomery zu bekommen. Heinrich musste für die schnellste Verbindung in Dallas umsteigen und darauf kam es an. Von Montgomery, Alabama aus konnte er sich einen Mietwagen nehmen. Selma, sein Ziel, lag knapp 50 Meilen vom Flughafen entfernt.

„Warum musstest du auch so weit weg ziehen“, fluchte er leise. Sein Vater lebte auf der Farm der Stiefmutter, dort residierten sie in einer alten Südstaatenvilla, umgeben von schattigen Parkanlagen und endlosen Baumwollfeldern. Das entsprach dem Geschmack des alten Herrn, der gerne die Dienstboten herumkommandierte. Heinrich selbst besuchte die Familie nur wenige Male und er betrachtete die Fotos abschätzig, die von Zeit zu Zeit mit der Post auf seinen Schreibtisch flatterten, seinen Vater mit der Stiefmutter und den Enkeln zeigten.

„Ich habe einen Flug“, rief er Cielo zu, „spätestens um 15:00 Uhr muss ich einchecken.“

„Ich helfe dir packen.“

„Lass nur, das schaffe ich alleine.“ Seine Frau ließ sich nicht abhalten, ihm zur Hand zu gehen. Im Wohnzimmer löste Cielo das verblichene Hochzeitsfoto seiner Eltern aus dem Rahmen und steckte es in Heinrichs Jackett. Für gewöhnlich lehnte das Portrait auf dem Kaminsims versteckt zwischen anderen alten Erinnerungsfotos. Der Anlass schien ihr passend, ihm den vergilbten Abzug mitzugeben. Heinrich bemerkte es und runzelte die Stirn.

„Wozu das Bild?“, fragte er argwöhnisch.

„Vielleicht tröstet es dich. Wenn es zu schlimm wird, kannst du dich an die Zeiten erinnern, in denen deine Eltern glücklich miteinander waren. Dann wird es leichter.“ Heinrich schluckte, ihre liebevolle Geste rührte ihn. Er ließ sich nichts anmerken.

„Ich fahre dich zum Flughafen. Mit dem kleinen Wagen geht es schneller und du brauchst keinen Parkplatz.“ Dankbar nickte er. Es tröstete ihn, den schweren Weg nicht alleine antreten zu müssen.

„Ich friere die Garnelen ein, wir essen sie, wenn du wiederkommst.“

 

Kurz nach Mittag fuhren sie zum Flughafen. Die Straßen am Sonntag wie ausgestorben, sie mussten nicht fürchten in einen der werktäglichen Staus zu geraten. Sie sprachen kaum, hingen ihren Gedanken nach. Viel zu früh rollten sie auf den Flughafenzubringer. Cielo suchte einen Kurzparkplatz, begleitete ihren Mann zum Check-in. Bis zum Abflug blieb ihnen eine gute Stunde.

„Möchtest du etwas trinken?“, erkundigte er sich.

„Ein Kaffee wäre nicht schlecht.“

„Und für mich einen Cognac.“

Sie setzten sich an die Bar, tranken Kaffee und Cognac. Leise Spannung hing in der Luft. Sie nahm seine Hand, sah ihn forschend an.

„Hast du Angst?“

„Einfach ist es nicht. Ich habe meinen Vater lange nicht mehr gesehen. Ob er sich sehr verändert hat?“

„Es wird schon gehen“, munterte sie ihn auf. „Es ist ja nur für einen kurzen Besuch. In ein paar Tagen bist du wieder da.“

Er spürte, seine Frau fehlte ihm schon jetzt. Zärtlichkeit wehte durch sein zerrissenes Herz.

„Jetzt wollte ich doch, du könntest mitkommen“, seufzte er. Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist keine gute Idee, glaube ich. Sicher darf er sich nicht aufregen.“

Natürlich hatte sie recht. Trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher als Vaters Segen für sich und seine Frau. Er fühlte sich sehr alleine. Merkwürdig, dachte er und er kam sich wie der kleine Junge vor, der schuldbewusst vor dem Vater stand, weil er etwas ausgefressen hatte. Vielleicht ist es immer so, wenn man den Eltern gegenübertreten muss, schoss es ihm durch den Kopf. Ob das jemals aufhörte? Sein Flug wurde aufgerufen. Er umarmte Cielo einen langen, langen Augenblick, drückte sie fest an sich, als wäre es ein Abschied für immer. Sie zu küssen scheute er sich vor den vielen Menschen.

„Es ist nur für kurze Zeit“, flüsterte sie und knabberte zärtlich an seinem Ohrläppchen. Er nickte, mit dem Verstand hatte er das begriffen, doch sein Herz dachte anders. Sie machte sich los, gab ihm einen kleinen Schubs.

„Nun geh schon, sonst fliegt die Maschine ohne dich ab.“

Da ging er, drehte sich nur einmal kurz um und winkte ihr zu. Wenig später saß er im Flugzeug. Er hörte das Aufheulen der Düsen, spürte wie die Maschine abhob, ihn in die Polster presste und wenige Augenblicke später im blassblauen Himmel verschwand. Auf dem Flug quälten Heinrich trübe Erinnerungen.

Das gleichmäßige Dröhnen der Turbinen schläferte ihn ein. Ein Buch mitzunehmen hatte er in der Eile vergessen und die Wochenendzeitung kannte er schon. Da piekste ihn, als sein Kopf auf die Brust sank, ein spitzes Papierstück unangenehm. Halb verärgert zog er das Foto seiner Eltern, Sara und Klaus aus der Brusttasche. In der Hektik des Aufbruchs war ihm entfallen, dass Cielo ihm das Bild zugesteckt hatte. Vorsichtig glättete er die gestauchte Ecke mit dem Nagel des Zeigefingers. Sein Blick blieb am Gesicht der Mutter hängen. Wie glücklich sah sie aus, in ihrem weißen Hochzeitskleid, ein kleines Kränzchen aus weißen Margeriten durchflochten von filigranem Schleierkraut im dunklen Haar. In der Hand hielt sie einen Strauß aus rosa Zwergrosen und weißen Lilien. Er glaubte das kleine Bäuchlein der Mutter zu erahnen. Wie ihm der Vater später erzählte, war die Mutter im dritten Monat schwanger, als die beiden endlich heirateten. Sie wirkte glücklich, strahlte von innen heraus. Sein Vater machte einen ernsten, verschlossenen Eindruck, in seinem altmodisch geschnittenen schwarzen Zweireiher. Vielleicht glaubte er sich zu jung für die Ehe, fühlte sich aber genötigt zu heiraten, jetzt da seine Geliebte ein Kind von ihm erwartete. Heinrich konnte nur erahnen, wie seinem Vater zumute war, die Eltern hatten nie darüber gesprochen. Das Baby, ein Mädchen, war kurz nach der Trauung abgegangen. Der Verlust traf die Mutter schwer und von diesem Zeitpunkt an verstärkten sich die Kummerfalten um ihren Mund. So jedenfalls hatte es der Vater berichtet. Sie lachte nur noch selten, nicht einmal die Geburt Heinrichs, zwei Jahre später, vermochte sie aus ihrer Depression zu reißen. Jahre später erzählte ihm der Vater, seine Mutter wäre jüdischer Abstammung. Saras Großeltern und ihr Vater wurden im Dritten Reich im KZ Birkenau ermordet. Die Großmutter, damals mit Sara schwanger, war nur durch einen fast unglaublichen, glücklichen Umstand dem Tod in den Gaskammern entronnen. Wie, darüber schwieg sie bis zu ihrem Tode beharrlich. Nach dem Krieg folgte sie einem GI nach Amerika, hoffte so dem Tag und Nacht allgegenwärtigen Grauen zu entkommen. Das schreckliche Schicksal der Großmutter warf schon früh einen Schatten auf das Leben der Mutter, der sie nie mehr ganz los lassen sollte. Sein Vater hatte ihm andeutungsweise einmal davon erzählt, als er wieder, wie oft, zu viel getrunken hatte. Das musste um die Zeit seines sechzehnten Geburtstags gewesen sein. Bis heute verstand er nicht, warum sein Vater aus dieser tragischen Geschichte ein Geheimnis machte. Heinrich spürte damals nur, es wäre besser nicht in den Vater zu dringen. Etwas lastete offenbar wie ein Stein auf seiner Seele. Was das war hatte Heinrich auch später nie erfahren und er hütete sich, das Thema erneut anzusprechen. Nach dem Tod der Mutter scheuten sich die zwei erst recht das Geheimnis zu berühren, sie fürchteten beide den mühsam verborgenen Schmerz aufzurühren. Möglicherweise wollte Heinrich auch nicht die ganze Wahrheit wissen, eine warnende innere Stimme hielt ihn zurück, weiter nachzufragen. Sie sprachen überhaupt wenig, schon gar nicht über die Familie, denn sie waren vorrangig damit beschäftigt, den gemeinsamen Alltag zu bewältigen. Er erinnerte sich lückenhaft an eine glückliche Kindheit, mit der Mutter. An die windschiefe Schaukel am weit ausladenden Ast der Eiche im Garten des Hauses in Coronado. Der kleine Heinrich schaukelte stundenlang, manchmal angeschubst von der Mutter, meist jedoch alleine. Die alte Schaukel hing noch immer da. Er müsste das Sitzbrett erneuern, vielleicht die Seile, aber damit wollte er warten bis ihm ein Sohn geboren würde. Alte, fast vergessene Bilder tauchten auf. Er sah die Mutter lächelnd auf der Terrasse sitzen im großen weißen Schaukelstuhl, der heute noch in einer Ecke der Veranda lehnte. Cielo wiegte sich gerne darin. Es sah ihr dabei zu und die warmen Gefühle zu seiner Mutter mischten sich in seinem Herzen mit der Liebe, die er für Cielo empfand. Die Bilder der beiden Frauen, flossen ineinander, wie Tusche in einem Wasserglas. Er seufzte lautlos.

„Darf ich Ihnen etwas anbieten“, riss ihn eine, blond gelockte Stewardess mit betont fröhlicher Stimme aus seinen Erinnerungen.

„Vielleicht eine Cola“, brummte er unwillig. Das kalte süße Getränk tat gut in der stickigen Luft des Fliegers. Die Turbinen summten gleichmäßig und ohne größere Turbulenzen bahnte sich das Flugzeug seinen Weg durch die Lüfte. Gedankenverloren lutschte Heinrich einen Eiswürfel. Er erinnerte ihn an die Zitronenlimonade, die seine Mutter ihm im Sommer, wenn er von der Schule kam, anbot. Auch darin schwammen immer einige Eiswürfel, damit die Limonade schön kalt blieb. Eine wunderbare Frau, seine Mutter, sanft und zärtlich, immer für ihn da. Abends las sie ihm aus vergilbten deutschen Märchenbüchern vor, sprach auch meist Deutsch mit ihm. In der Schule tat sich Heinrich leicht mit dieser Sprache. Sein behütetes Glück währte nur wenige Jahre. Zu kurz für eine Kinderseele. Die Mutter wurde zunehmend unpässlicher. Oft saß sie mit rot verweinten Augen und Heinrich fragte sich beklommen, ob er etwas angestellt habe, auch wenn er sich keiner Schuld bewusst war. Der Vater lief mit besorgtem Gesicht herum. Mit seinen zwei linken Händen versuchte er der Mutter im Haushalt zu helfen, doch er war so ungeschickt, dass die Mutter ihn mit einem gequälten Lächeln aus der Küche schob. Zu tollpatschig stellte er sich an und Kochen war schon gar nicht seine Stärke. Er hatte es ein paar Mal versucht, doch das Ergebnis seiner Bemühungen schmeckte so abscheulich, dass sie das Essen in die Mülltonne kippen mussten. Mutter weinte ein wenig, sie hatte sich auf ihr Lieblingsessen, den bayerischen Schwärtelbraten gefreut. Meist machten sie dann eine Dose Ravioli auf. Der Vater beschränkte sich in seiner unbeholfenen Art darauf, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, den Tisch zu decken, eventuell die Töpfe abzutrocknen. Eines Morgens wurde die Mutter vom Sanitätswagen ins Krankenhaus gefahren. Auf Heinrichs bange Frage antwortete der Vater nur: das verstünde er noch nicht. Er sah ihn lange und traurig an. Da ahnte Heinrich, etwas Furchtbares musste geschehen sein. Er durfte die Mutter nur wenige Male besuchen. Kam er, lag sie blass in den hoch aufgetürmten weißen Kissen. Sie strich ihm zärtlich über das krause Haar, ein paar Tränen kullerten über ihre Wangen. Seine Frage wann die Mutter wieder nachhause käme, wurde mit einem ausweichenden „bald“ beantwortet. Allein Heinrich sah zweifelnd auf die vielen Schläuche von denen zwei in Mutters Nase verschwanden und die anderen sich unter das geblümte Nachthemd ringelten. Ein mulmiges Gefühl ängstigte ihn. Verlegen hielt er die Hand der Mutter, wusste nichts zu sagen.

In dieser Zeit lernte Heinrich Krankenhäuser zu hassen und er hatte es bis heute geschafft, keines mehr zu betreten. War einer seiner Freunde krank, erfand er rasch eine Ausrede, um ihn nicht im Hospital besuchen zu müssen.

Keiner wollte ihm sagen was seiner Mutter fehlte. Bis zu jenem Abend, als er ein Telefongespräch des Vaters belauschte. Sein Vater dachte, er läge längst im Bett und schliefe, doch Heinrich konnte nicht schlafen, wie so oft in den vergangenen Wochen. Er stand heimlich auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Als er im Dunklen die Treppe hinunter tappte, hörte er aus dem düsteren Wohnzimmer die Stimme seines Vaters. Er wusste nicht mit wem er telefonierte, konnte auch nur einige wenige Brocken verstehen. Was er hörte, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.

„Brustkrebs“, hörte er die Diagnose, mit der er damals nichts anfangen konnte.

„Totaloperation, rechts.“

„Nein, die Achsellymphknoten sind auch befallen. Ja, sie bekommt Chemotherapie, aber die schlägt nicht an.“

Die erstickte Stimme des Vaters wurde undeutlich und so sehr sich Heinrich anstrengte, er konnte von dem Gespräch nichts mehr aufschnappen. Als der Vater später mit schweren Schritten die Treppe hinauf stapfte, fand er Heinrich weinend auf dem Treppenabsatz sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben. Der Junge schluchzte, doch kein Laut kam über seine bebenden Lippen. Erschrocken setzte sich der Vater neben den schmächtigen Sohn, legte den Arm um seine Schultern. Sie saßen in der Dunkelheit, schwiegen in ihrer Trauer und keiner vermochte den anderen zu trösten.

„Stirbt Mutter?“, flüsterte Heinrich schließlich. Der Vater zuckte hilflos mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht“, krächzte er heiser. Heinrich ahnte, seine schlimmsten Befürchtungen würden wahr werden.

„Warum?“ Auf diese Frage gab es keine Antwort.

„Du musst jetzt sehr stark sein, Heinrich“, flüsterte der Vater unter Tränen. Heinrich barg den Kopf an der Brust des Vaters und beide hielten sich, weinend, eng umschlungen. Nach einer endlosen Zeit des Schweigens, des Weinens, nahm der Vater Heinrich sanft auf den Arm und trug ihn zurück in sein Bett.

„Du musst schlafen“, meinte er. „Ich bleibe bei dir bist du eingeschlafen bist.“ Erst weit nach Mitternacht fielen Heinrich die Augen zu. Lautlos schlich der Vater aus dem Raum, schlurfte ins Wohnzimmer und goss sich einen Bourbon ein. Mit dem randvollen Glas in der Hand saß er im Lehnstuhl, starrte in die furchterregende Dunkelheit. In dieser Zeit fing der Vater an zu trinken.

Mutter kam nicht mehr nach Hause. Das letzte Mal als Heinrich sie besuchen durfte, lag sie, bis auf die Knochen abgemagert, in den weißen Kissen. Ihr seltsam kahler Kopf glänzte in der Sonne, die Augen noch größer als sonst, schon ermattet, blickten liebevoll auf ihr Kind. Ihr Atem ging schwer, ihre Brust hob und senkte sich unter Anstrengungen. Der Arm, der kraftlos neben ihr auf dem Bett lag, übersät von blauen Flecken. Die Schläuche waren gezogen. Ab und zu nahm die Mutter etwas Sauerstoff aus einer Maske, die über die Nase gespannt war. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme war zu schwach. Eine Schwester kam, nahm Heinrich an der Hand, führte ihn aus dem Zimmer und brachte ihn in die Wachstation, wo sie ihm einen Orangensaft anbot.

„Lass deinen Vater ein wenig mit deiner Mutter alleine“, sagte sie begütigend. „Er kommt gleich.“

„Ich will zu meiner Mutter“, weinte Heinrich leise.

„Das geht nicht.“

Sie lockte den Jungen mit einem Lutscher. Er bedankte sich artig, doch er rührte die Schleckerei nicht an. Hilflos vertiefte sich die Frau in ihren Krankenakten.

 

Im Lauf der nächsten Woche kam eine dicke Mexikanerin ins Haus, Dolores. Sie hatte ein breites freundliches Gesicht und gute fleischige Hände. Sie kümmerte sich um die Küche und putzte das Haus. Sie passte auf Heinrich auf, wenn er nach der Schule mit dem Mountainbike nach Hause geradelt kam. Ab und zu drückte sie ihn an ihren gewaltigen Busen, seufzte und radebrechte in schlechtem Englisch:

„Armes Jungchen, komm ich mach dir was Leckeres zu essen.“

Jeden Abend nahm sie die Fähre zum Broadway Pier, stieg am America Plaza in die Straßenbahn und fuhr zurück nach Tijuana, wo ihre Familie wohnte. Ein oder zweimal schleifte sie Heinrich mit, doch der fühlte sich zwischen den vielen quirligen Kindern nicht wohl, kam sich wie ein Fremdkörper vor in der lauten und fröhlichen Familie. Dolores unternahm keinen weiteren Versuch, den Jungen aus seinem trostlosen Umfeld herauszureißen.

Das Siechtum der Mutter zog sich hin. Der Vater war nicht mehr ansprechbar. Schweigend mit gesenktem Kopf ging er morgens zur Arbeit, schweigend kehrte er abends aus den Flugzeugwerken zurück, in denen er als Ingenieur an der Entwicklung neuer Düsenflugzeuge arbeitete. Stumm nahmen sie das Nachtmahl ein. Über die Mutter sprachen sie nie, zu sehr steckte die Angst in ihnen. Mit knappen stockenden Worten berichtete der Vater von seinen täglichen Besuchen im Krankenhaus. Sobald Heinrich zu Bett gegangen war, zog sich der Vater in das Arbeitszimmer zurück. Er trank mehr als ihm gut tat. Immer öfters fand ihn Heinrich morgens dort, eingeschlafen, den Kopf auf der eichenen Schreibtischplatte liegend, daneben umgekippt die leere Flasche Bourbon. Ein dünner eingetrockneter Speichelfaden hing in seinem Mundwinkel.

An einem Dezembermorgen gegen 5:00 Uhr schrillte das Telefon. Heinrich schrak hoch, tappte schlaftrunken zum Apparat, hob ab. Es war das Krankenhaus.

„Kann ich deinen Vater sprechen?“, fragte eine männliche Stimme. Heinrich rüttelte den Vater an der Schulter, bekam ihn kaum wach.

„Das Krankenhaus“, rief er wieder und wieder voller Panik. Schließlich zerrte er den Benommenen ans Telefon. Endlich öffnete der Vater die Augen, sah ihn mit glasigem Blick an.

„Ich komme“, lallte er mit gebrochener Stimme in den Hörer. Fahrig schlüpfte er in seine Hose. Heinrich stand zitternd daneben. Angst umkrampfte sein kleines Herz.

„Du musst heute nicht in die Schule“, krächzte der Vater. „Warte auf mich.“

Heinrich hörte die Tür ins Schloss fallen, hörte den Motor des Wagens aufheulen, dann war er alleine. So alleine wie noch nie in seinem Leben. Betäubt stand er im Flur, unfähig auch nur ein Glied zu rühren. Nicht einmal Tränen hatte er mehr, die waren alle geweint.

Nun war es also geschehen, dachte er. Seine Mutter war tot. Er hatte es erwartet, wie sein Vater und trotzdem konnte und wollte er es nicht glauben, klammerte sich bis zuletzt an das kümmerliche Fünkchen Hoffnung. Gleichzeitig, und er schämte sich es einzugestehen, war er erleichtert. Erleichtert, dass die Qual ein Ende gefunden hatte. Zu grauenvoll war die Anspannung der letzten Wochen für ihn. Das Wechselbad zwischen Hoffnung und tiefster Verzweiflung. Jedes Mal, wenn es der Mutter ein wenig besser ging, hatten sie gebangt: endlich, endlich sei alles überstanden, war die teuflische Krankheit besiegt. Nur um am nächsten Tag umso mutloser einen erneuten Rückfall beobachten zu müssen. Eine zu große Last für einen kleinen Jungen. Der Vater konnte ihm keine Hilfe sein, der vergrub sich in seinem Schmerz, sah den Sohn schon lange nicht mehr. Heinrich setzte sich, im Schlafanzug, mit bloßen Füßen auf die Fließen im Gang und wartete. Im Haus Totenstille. Der Lärm des anbrechenden Tages drang nicht zu ihm. Nicht einmal weinen konnte er und das erschreckte ihn am meisten. Dolores hatte sich heute frei genommen, so dass der Junge in seiner brennenden Einsamkeit gefangen blieb, aus der ihn niemand retten konnte. Irgendwann hörte er auf zu denken, saß nur da, betäubt, sprachlos, traurig und vor Kälte zitternd. Die Zeit stand still. Er versuchte sich die Mutter vorzustellen und bemerkte erschreckt, ihr Bild begann sich bereits aufzulösen. Er konnte sich nicht mehr klar an sie erinnern. Ihre Gesichtszüge wurden unscharf, die Gesten, die Stimme, alles verschwamm im blutigen Nebel seines Schmerzes. Er fühlte sich schuldig, schwor sich sie nie, nie zu vergessen. In seiner Herzensangst floh er ins Schlafzimmer der Mutter, warf sich auf das gemachte Bett. Es war immer gemacht, obwohl die Mutter schon lange nicht mehr darin lag. Das Bettzeug duftete schwach nach der Mutter. Da kamen ihm, mit der Erinnerung die Tränen. Aus der Tiefe seines gequälten Herzens strömten sie aus ihm heraus. Endlos schien ihr Fluss. Er schämte sich nicht, spürte nicht wie das Laken feucht wurde. Es blieb still im Haus, totenstill. Schatten wanderten durch das Schlafzimmer, ein leichter Wind blähte die Vorhänge. Heinrich fror obwohl es draußen warm war, er fühlte es nicht. Seine Einsamkeit wurde grenzenlos und sie würde es bleiben, lange Zeit. Gerne hätte er nach der Mutter gerufen, doch er erkannte die Nutzlosigkeit dieses Versuchs. Er setzte flüsternd an, allein das Wort „Mutter“ kam ihm nicht über die Lippen. Er faltete die Hände zum Gebet, doch auch ein Gebet fiel ihm nicht ein. Nur ein Kindervers, den die Mutter vor dem Einschlafen mit ihm gesprochen hatte.

Ich bin klein

Mein Herz ist rein

Soll niemand drin

Wohnen als du allein

Gegen Mittag verspürte er Durst in der ausgetrockneten Kehle. Halb von Sinnen wankte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, wollte sich ein Glas Milch nehmen. Es gab keine Milch, außer ein paar aufgeweichten Tortillas starrte ihn nur gähnende Leere an. Nicht einmal einen Apfel konnte er finden. Er nahm einen Schluck aus der Wasserleitung, benetzte das verweinte Gesicht. Die Stunden vergingen und Heinrich wartete. Einmal tönte der Türgong, der Junge öffnete nicht. Erstarrt saß er, wartete und wartete.

Gegen Abend kam der Vater. Sein Gesicht aschgrau und eingefallen, der Gang schleppend und schwer.

„Ist sie tot?“

Der Vater nickte stumm, schloss den Sohn in die Arme. Sie hatten keine Tränen mehr, pressten sich aneinander und fanden darin keinen Trost. Die Nacht dämmerte herauf, hüllte das Haus in blaue Schatten, als sich der Vater los machte.

„Hast du etwas gegessen?“ Heinrich schüttelte den Kopf. Der Vater öffnete eine Dose Hot Dogs. Sie aßen sie kalt. Dann brachte der Vater ihn ins Bett.

„Wir müssen jetzt stark sein, mein armer Junge.“

Er saß bei ihm, zusammengefallen, bis Heinrich eingeschlafen war. Irgendwann in der Nacht hörte er den Vater im Arbeitszimmer schluchzen. Er fand nicht die Kraft zu ihm zu gehen. Wie hätte er ihn auch trösten können, wo er doch selbst Trost so nötig gehabt hätte.

In dieser Nacht begann er, immer wenn er sich einsam und verlassen fühlte, den Daumen in den Mund zu stecken und daran zu saugen. Und er war oft alleine. Diese Angewohnheit hatte er bis heute beibehalten. Als der Vater es später einmal entdeckte, nannte er Heinrichs Daumen belustigt: Trösterchen.

Die Beerdigung fand an einem nassgrauen Montag statt. Dicke Regenwolken hingen über der Bay, aus denen ein leichter, durchdringender kalter Nieselregen auf die Trauernden fiel. Heinrich klammerte sich an die Hand des Vaters. Stumm schritten sie hinter dem einfachen Fichtenholzsarg her. Die Rosen und die weißen Lilien des Bouquets hingen vom Regen schwer herab. Ab und zu tropften ein paar dicke Wasserperlen aus den Blütenkelchen, dann wippten die Lilien leicht mit den Köpfen. Der Pfarrer sprach ein paar Worte, segnete den Leichnam und der schlichte Sarg tauchte in das schwarze Loch aus feucht schimmernder Erde. Vater und Sohn traten an das offene Grab, warfen Margerittensträußchen ins Dunkel, eine Schaufel Erde, die auf den Deckel des Sarges prasselte. Die wenigen Trauergäste drückten ihnen still die Hand ehe sie im Schutz der aufgespannten Regenschirme zurück ins Trockene ihrer Autos flüchteten. Eine Frau, die Heinrich nicht kannte, grell geschminkt, drückte ihn an ihren Busen. Er mochte sie nicht. Sie trug ein aufdringliches Parfüm. Dann war alles vorüber.