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Coronado

Hier endete der Bericht der Begegnung von Gersteins mit Dr. Otmar Freiherr von Verschuer. Heinrich klappte das Tagebuch zu, warf es angewidert auf den Schreibtisch. Er erhob sich unsicher und wankte aus dem Zimmer. Dass es so entsetzlich werden würde, hatte er nicht gedacht. Er goss sich einen Bourbon ein und ging, um frische Luft zu schnappen, hinaus in den Garten. Cielo setzte sich zu ihm.

„So schlimm?“

„Schlimmer, mein Großvater war an den Euthanasie-Programmen der Nazis beteiligt. Er hat die Pläne für Auschwitz-Birkenau entworfen.“ Cielo sah ihn verständnislos an. „Ist auch besser, du weißt nicht zu viel, es könnte deine Seele belasten.“

Von den vielen Zwangssterilisationen sagte er nichts. Nicht in ihrer Lage. Heinrich verstand den Vater, er ahnte, wie schwer es für ihn gewesen sein musste, mit diesem Wissen zu leben.

Hatte er deshalb eine Jüdin geheiratet, schoss es ihm durch den Kopf. Aus Protest oder vielleicht als stille Wiedergutmachung. Heinrich hatte seinen Brief so verstanden. Allein diese Frage würde sich nicht mehr beantworten lassen. Heinrich brütete vor sich hin, alles in ihm aufgewühlt. War es möglich, dass er und der Vater die Schuld des Großvaters weiter tragen mussten? Der Vater hatte dies in seinem Brief angedeutet. Sein Entschluss nicht zur Beerdigung des Vaters zu fahren verstärkte sich. Der Vater hatte ihm ein schweres Erbe auferlegt und er konnte seinen Ekel, seine Abscheu mit niemandem teilen. Schon gar nicht mit Cielo. War das vielleicht der Grund warum sie keine Kinder bekommen konnten? Hilflos wälzte er die Fragen in seinem Kopf, konnte keine einfache Erklärung finden. Das Buch rührte er in den nächsten Tagen nicht mehr an, zu sehr graute ihm vor dem, was er noch alles erfahren könnte.

Sonntag sprach er mit seiner Frau über den Vater. Heinrich erzählte von seiner Jugend, von der Einsamkeit des Vaters, vom quälend langsamen Sterben der Mutter und der Phase des Erstarrtseins danach. Er berichtete wie der Vater angefangen hatte zu trinken, von seinem mexikanischen Hausmädchen und von Michelle, die den Vater aus der Trauer gerissen hatte. Zumindest glaubte er das bis zu seinem Besuch am Krankenbett des Vaters. Es tat ihm gut darüber zu reden, vieles wurde ihm klarer und manches verstand er erst im Nachhinein. Cielo hörte ihm geduldig zu. Gab nur ab und zu durch eine Zwischenbemerkung zu erkennen, dass sie ihm aufmerksam folgte. Heinrich breitete sein ganzes Herz vor ihr aus. Alles, was ihn bedrückte, konnte er ihr sagen. Eine schonungslose Beichte. Danach fühlte er sich besser. Cielo spürte, dass seine Geschichte, jetzt da er sie erzählte, sie als Paar stärker verband.

„Weißt du“, flüsterte sie zärtlich, „das alles darf Vergangenheit sein. Wir haben die Kraft, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir müssen es nur wollen und daran glauben, dann wird sich alles lösen.“

Heinrich beschlichen leise Zweifel, doch er nickte und schloss sie dankbar in den Arm.

Montag stürzten sie sich in die Arbeit und Heinrich wunderte sich, dass er sich, trotz des Todes des Vaters, auf seine Baupläne konzentrieren konnte. Es schien ihm sogar, als käme er besonders gut voran. Die Idee ein Haus zu konzipieren, das die Bewegungen der Wellen aufnahm, sich harmonisch in das Land einfügte, fand ihren Ausdruck in einer geschwungenen Dachform, die sich zum Meer hin duckte, wie ein sanfter Strand, darunter eine breite Front aus Glas und auf der Terrasse einige große Findlinge, umgeben von wenigen, üppig blühenden Sträuchern. Er plante so wenig Beton wie möglich und versuchte das filigrane Gebilde mit Holzbalken und gemauerten Feldsteinwänden zu stabilisieren. Bei all seinen Überlegungen vergaß er fast den toten Vater, so wie die verrinnende Zeit. Spät am Abend packte er als letzter im Büro zusammen. Cielo wartete mit dem Abendessen auf ihn.

„Hat Michelle angerufen?“, wollte er wissen, als sie nach dem Essen auf der Veranda saßen.

„Bei mir hat sie sich nicht gerührt.“

Da war sie wieder, die Angst, vor dem Gespräch mit der Stiefmutter. Die verlegene Suche nach einer glaubhaften Ausrede.

„Bist du dir sicher, dass du nicht zur Beerdigung fahren willst?“

„Ganz sicher, was soll ich dort. Es holt ihn nicht ins Leben zurück. Und Abschied habe ich genommen.“

Cielo verstand seine Vorbehalte nicht, doch sie respektierte seinen Entschluss.

„Vergiss nicht“, erinnerte sie ihn, „wir haben morgen den Termin bei Dr. Brown.“

Richtig, da drohte das Gespräch mit dem Gynäkologen. Im Sog der Ereignisse hatte er den Termin völlig verdrängt.

„Es ist mir peinlich“, meinte er. „Muss ich wirklich mitgehen?“

Cielo verzog das Gesicht, sie wollte nicht weinen, doch unwillkürlich schossen ihr die Tränen in die Augen.

„Du hast es versprochen“, flüsterte sie leise. „Es ist mir wichtig und ich dachte dir auch.“ Sie schluckte.

„Natürlich gehe ich mit.“ Heinrich schalt sich für seine Taktlosigkeit. „Verzeih, ich habe es nicht so gemeint, ich will es doch auch.“

Cielo sprang abrupt auf, zog sich ins Schlafzimmer zurück, barg den Kopf in den Kissen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Als Heinrich später zu ihr ins Bett kroch, fand er sie schlafend. Er legte den Arm um sie, drückte sie sanft an sich.

Die Praxis von Dr. Brown lag in der Innenstadt von San Diego. Pünktlich um 11:00 Uhr standen die Gerstones vor dem in den Himmel ragenden Glasklotz. Die Ordination befand sich im 12. Stock. Im Aufzug suchte Cielo verstohlen Heinrichs Hand. Sie drückte sie leicht. Er küsste sie auf die Stirn, als wollte er sagen: keine Angst, ich bin bei dir. Die Praxisräume lichtdurchflutet und freundlich, die Bezüge der Möbel in gedämpftem Rot gehalten.

„Wir haben einen Termin“, sagte Cielo zur Sprechstundenhilfe.

„Waren Sie schon einmal bei uns?“, wollte diese förmlich wissen.

„Nein, wir sind das erste Mal da.“

„Dann füllen Sie bitte diesen Fragebogen aus.“

Cielo und Heinrich bemühten sich gemeinsam.

„Nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz, gleich dort vorne“, sagte die Sprechstundenhilfe freundlich. „Sie werden aufgerufen.“

Im Wartezimmer saßen drei jüngere Frauen. Sie musterten Heinrich neugierig. Zwei von ihnen hatten dicke Bäuche, sicher schwanger. Cielo und Heinrich nahmen auf einem gemütlichen, verschlissenen Ledersofa Platz. Lustlos sah Heinrich den Stapel Zeitschriften durch. Alles Frauenzeitschriften oder Hefte über Kindererziehung. Er fühlte sich unwohl, als befände er sich an einem Ort, der alleine Frauen vorbehalten war, ähnlich einem einzelnen Mann in einer Sauna, umringt von nackten schwitzenden Frauen. Unruhig rutschte Heinrich hin und her. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte fluchtartig die Praxis verlassen. Cielo griff nach seiner Hand, wollte ihn beruhigen. Das Ganze ist verdammt unangenehm, dachte Heinrich. Er fixierte angestrengt die staubigen Blätter eines künstlichen Ficus in der Ecke, vermied es in die Gesichter der Frauen zu blicken. Der Zeiger der Wanduhr rückte unendlich langsam vor. Eine nach der anderen wurden die Frauen aufgerufen, verschwanden in einem der Untersuchungsräume. Neue Patientinnen kamen, setzten sich und Heinrich wurde das Gefühl nicht los, sie starrten ihn feindselig an. Er wollte einen lustigen Spruch los lassen. Ihm fiel nichts ein. Er saß, den Blick gesenkt und fühlte sich ganz und gar unwohl in seiner Haut.

„Mrs. Gerstone bitte“, rief die Sprechstundenhilfe. Sie geleitete das Ehepaar in ein leeres Sprechzimmer, hieß sie Platz nehmen. Von nebenan hörten sie das Klappern der Gerätschaften, die in eine Metallschale fielen.

„Was soll ich tun?“, wisperte Heinrich verkrampft.

„Du wirst schon sehen“, gab's Cielo belustigt zurück.

Die gepolsterte Tür öffnete sich geräuschlos. Der Doktor kam herein, er trocknete seine noch nassen Hände an einem grünen Papiertuch ab. Mit einem gezielten Wurf katapultierte er es in einen großen Abfallkorb. Er war groß gewachsen und schlank, fast hager, sein Gesicht strahlte eine gewinnende Freundlichkeit aus. Er gab beiden die Hand, setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er und schlug die Patientenakte auf.

„Wir wünschen uns ein Kind“, sagte Cielo, „aber es klappt nicht.“

„Wie lange probieren Sie schon?“, wollte der Doktor wissen. Er lächelte nicht, was Heinrich beruhigte. Zumindest nahm er sie ernst.

„Wir versuchen es seit zwei Jahren.“

„Eine lange Zeit“, meinte der Doktor und runzelte die Stirn. „Leider sind Sie kein Einzelfall.“

Er wollte alles über Cielos Periode wissen, erkundigte sich nach Cielos Vorerkrankungen, medizinischen Interventionen, eventuellen Abgängen. Er ließ sich viel Zeit.

„Und nun zu Ihnen“, wandte er sich an Heinrich. Auch er musste alles über seine Vorerkrankungen berichten. Doch da gab es nicht viel zu erzählen.

„Hatten Sie in Ihrer Kindheit eine Parotitis?“ Heinrich sah ihn verständnislos an.

„Entschuldigung“, lächelte der Doktor, „ich falle immer wieder in den Medizinerjargon. Ich meine Mumps.“

Heinrich konnte sich nicht erinnern.

„Vielleicht fragen Sie Ihre Eltern“.

„Mein Vater ist vor ein paar Tagen gestorben und meine Mutter, als ich acht Jahre alt war“, antwortete Heinrich und er spürte einen Kloß in seinem Hals aufsteigen.

„Tut mir leid“, sagte der Doktor betroffen. „Ich muss diese Frage stellen, denn die Parotitis epidemica ist eine der häufigsten Ursachen für die Infertilität des Mannes.“

Heinrich schwieg, es entstand eine kleine unangenehme Pause. Der Doktor überbrückte sie.

„Ich werde erst mal Ihre Frau untersuchen. Kommen Sie bitte mit.“

 

Er verschwand mit Cielo im Nebenzimmer. Durch den Türspalt konnte Heinrich einen Blick auf den Gynäkologenstuhl mit den beiden hochgereckten, metallenen Beinhaltern werfen. Die Tür fiel ins Schloss und Heinrich blieb alleine mit seinen Gedanken. Er blickte unsicher aus dem Fenster, betrachtete die Skyline der Stadt, in seinem Kopf malte er sich die möglichen Folgen des Gespräches aus.

Was, wenn es an ihm läge? Seine Samen unfruchtbar, zu unbeweglich oder sonst irgendetwas wären? Sie hatten sich noch keine Gedanken gemacht, was sie tun würden, wenn sie wirklich keine Kinder bekommen könnten, hatten diese Möglichkeit weit von sich geschoben. Vielleicht ein Kind adoptieren? Mit all den Risiken? Nein, diesen Gedanken wollte er nicht denken, verdrängte ihn schnell. Erst einmal abwarten, beruhigte er sich. Viel stärker setzte ihm die Frage zu, ob es möglich sei, dass sie keine Kinder bekommen könnten, weil der Fluch der Untaten des Großvaters auf ihm lastete. Heinrich war kein gläubiger Mensch, doch unwillkürlich fiel ihm eine Bibelstelle ein, die sie im Religionsunterricht in der Schule gehört hatten:

…und werde sie verfolgen bis ins dritte und vierte Glied.

Ihn schauderte. Heinrich war ein nüchtern denkender Mensch und solche Gedanken lagen ihm fern. Aber, was wenn etwas daran wäre, an den alten Prophezeiungen? Das Wissen um den Großvater lastete schwer auf seiner Seele. Allein darüber wollte er mit dem Arzt nicht sprechen, der hätte sicher kein Verständnis für seine religiösen Anwandlungen. Nervös rutschte er auf seinem Stuhl, vertiefte sich in die Gegenstände, die auf dem Schreibtisch aufgebaut waren. Sie interessierten ihn nicht wirklich. Ein Blutdruckmessgerät, ein paar Bücher, ein Ohrspekulum, wofür ein Gynäkologe wohl so etwas brauchte, ein Stethoskop, verschiedene Stifte, Textmarker, ein dicker Stempel, eine Lupe. Alles fein säuberlich geordnet, sozusagen in Reih und Glied.

Warum dauert das so lange, dachte er.

Im selben Moment öffnete sich die Türe und der Arzt kam mit Cielo zurück. Sie wirkte blass.

„Äußerlich ist alles in Ordnung, soweit ich sehen kann“, stellte der Doktor fest und ließ sich in seinen Drehstuhl fallen.

„Und?“ Heinrich sah ihn fragend an.

„Leider können viele Ursachen in Frage kommen. Bevor wir jedoch mit einer differenzierten Untersuchung beginnen, sollten wir erst ein Spermiogramm Ihres Mannes anfertigen“, wandte sich der Arzt an Cielo.

„Wenn wir das Spermiogramm haben und es ist in Ordnung, können wir weitere Untersuchungen vornehmen.“

Das hatte Heinrich befürchtet.

„Die Schwester wird Ihnen alles weitere erklären. Wir rufen Sie in einer Woche an, dann habe ich die Untersuchungsergebnisse.“ Und aufmunternd fügte er hinzu: „Wir haben heutzutage viele Möglichkeiten, um bei Kinderlosigkeit zu helfen.“

Er stand auf, beendete die Konsultation, indem er den beiden die Hand reichte und schon standen sie wieder an der Empfangstheke.

„Hier ist Ihr Becher“, sagte die junge Sprechstundenhilfe, und es schien ihr nicht im Geringsten peinlich zu sein, „bitte möglichst viel Sperma, dann den Deckel drauf und beschriften. Sie können dort hinein gehen.“ Sie deutete mit dem Kugelschreiber auf eine Kabine.

„Ihre Frau kann hier so lange Platz nehmen.“ Sie äußerte sich als handele es sich um die natürlichste Sache der Welt.

Wie peinlich, dachte Heinrich, gut dass niemand am Empfang stand. Doch so laut wie die Schwester ihre Anweisungen erteilte, musste es jeder im Wartezimmer gehört haben. Heinrich spürte eine leichte Röte ins Gesicht steigen. Er schlüpfte aus dem Sakko und legte es Cielo in den Schoß.

„Hältst du mal, bitte.“

Ein zusammen gefaltetes Stück Zeitungspapier rutschte aus der Seitentasche und flatterte vor Cielos Füßen auf den Boden. Es fiel ihm wieder ein.

„Das ist ein Zeitungsartikel, den habe ich dir aus Montgomery mitgebracht. Ich dachte, das könnte dich interessieren, du hast doch mit diesen Dingen zu tun“, sagte er. Er griff sich den Becher und verschwand in der Kabine. Cielo entfaltete das Stück Zeitung, begann zu lesen. Das Gespräch im Gewächshaus, dessen Zeugin sie unfreiwillig geworden war, fiel ihr ein, die ominösen Andeutungen der Herren aus dem Ministerium. Was Cielo in dem Artikel las, machte sie nachdenklich. Der Autor schilderte ein weltweites Komplott von Firmen, die in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien den Markt für genmanipuliertes Saatgut beherrschten. Am Beispiel der Baumwolle zeigte er auf mit welch verbrecherischen Methoden Monsanto, Dow und Du Pont die Farmer zwangen nur ihr Saatgut anzubauen. Dass Monsanto in den Vereinigten Staaten sogar eine private Polizei unterhielt, die jeden Verstoß gegen die Knebelungsverträge mit unnachgiebiger Härte verfolgte. Schlüssig legte der Autor dar, warum diese Entwicklung dazu führte, dass die Kleinbauern überall auf der Welt verarmten. Es wurde nachvollziehbar beschrieben, wie die Artenvielfalt schwand, zu Gunsten einiger weniger spezieller Sorten, die sich jedoch nicht für alle Klimazonen eigneten. In Ländern, in denen das Saatgut nicht den klimatischen Bedingungen angepasst werden konnte, und trotzdem angebaut wurde, kam es zu Missernten und in ihrer Folge zu Hungersnöten. Bis heute wusste Cielo nicht, welche Folgen ihre Arbeit haben könnte. Nun öffneten sich ihr langsam die Augen. Sie beschloss weiter nachzuforschen. Aber nicht jetzt. War ihr Kinderwunsch nicht vorrangig? Sie verstaute den Artikel wieder in die Jackentasche ihres Mannes, überlegte mit ihren Vorgesetzten darüber zu sprechen.

Heinrich lehnte in der engen Kammer. Ein Kleiderhaken, ein Schemel, einige verfleckte Ausgaben des Hustler. Er mühte sich redlich, versuchte an Cielo zu denken. Es klappte nicht. Er fand die Situation widerwärtig, wünschte sich überall hin, nur weg aus diesem Kabuff. Auf Kommando Samen abspritzen, das war nicht seine Sache. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal Hand an sich gelegt hatte. Diese Überlegungen förderten seine hektischen Anstrengungen nicht. Er spürte kleine Schweißperlen auf der Stirn, schloss die Augen. Auf Kommando ging gar nichts. Wut stieg in ihm hoch, ob der Lage in der er sich befand. Er fühlte sich schmutzig, als täte er etwas Verbotenes. Die Hand tat ihm weh. Spontan fiel ihm jene schwüle Nacht in Coronado ein. Die Nacht, in der er Michelle nackt gesehen hatte, die erste Frau, die er berührt hatte. Er durchlebte das eigenartige schmerzvolle und zugleich süße Gefühl wieder, das ihn überflutete als Michelle mit seinem Glied gespielt hatte. Seine Fantasie raste und plötzlich ging alles ganz schnell. Erschöpft verschloss er den Becher mit dem Deckel. Er fiel auf den Schemel, lehnte den heißen Kopf an die Wand. Er fühlte sich hundeelend, hätte kotzen können.

Das ist normal, sagte er sich. Es war auch nicht die Tatsache als solche, die ihn beschämte, sondern dass es die Erinnerung an jene Nacht war, die ihn so erregt hatte. Nach einer Weile erhob er sich, wusch sich in dem kleinen Waschbecken gründlich die Hände, kühlte mit kaltem Wasser das Gesicht. Dann wankte er hinaus, stellte den Becher auf die Theke. Er starrte auf den Boden, sah der Sprechstundenhilfe nicht ins Gesicht.

„Gehen wir“, sagte er heiser zu Cielo. Als die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss fiel, sah ihm Cielo in die Augen. Sie spürte welche Überwindung ihn der Besuch beim Frauenarzt gekostet hatte.

„Danke“, flüsterte sie, „danke, du tust es für uns.“

Heinrich nickte, wieder gefasst. Ein gequältes Lächeln spielte um seinen Mund.

„Aber nochmal mache ich das nicht“, grinste er.

Den Rest des Tages nahmen sie sich frei. Sie fuhren in den San Diego Zoo, mischten sich unter die lärmenden Schulklassen, beobachteten Tiere und Kinder. In ihren Träumen sahen sie sich quer durch den weitläufigen Balboa Park einen Kinderwagen schieben. Sie sahen sich ein Eis für das Kind kaufen, Pommes und Würstchen essen. Sie beobachteten die fröhlichen, erhitzten Gesichter der Kinder auf dem bunt lackierten Karussell und die ernsthaften Mienen der Kleinen, die im Kreis auf stämmigen Ponys ritten. Sie litten mit einem verdreckten Mischlingsjungen, dem die Zuckerstange in den Sand gefallen war und der bitterlich weinend von der Mutter weggezogen wurde. Würden sie dieses Glück, diesen Schmerz je erleben dürfen? Cielo glaubte fest daran.

Spät abends kamen sie nach Hause. Der Anrufbeantworter blinkte im Flur. Eine Nachricht von Michelle. Nicht viel, nur:

„Ruf mich an, bitte.“

Heinrich wusste, sie wollte ihm den Termin der Beerdigung mitteilen. Sie würde erneut versuchen, ihn zu überreden zum Begräbnis zu kommen. Heinrich wollte sich auf keinen Fall breitschlagen lassen. Sein Entschluss stand fest: er würde nicht nach Selma fliegen. Später vielleicht, irgendwann, wenn es keiner aus der Familie merken würde, aber nicht zur Beerdigung. Er bummelte, schlich um das Telefon herum, fand plötzlich eine Menge Gelegenheiten sich im Haus nützlich zu machen. Schließlich verlor Cielo die Geduld.

„Ruf endlich an“, herrschte sie ihn an, „dann hast du es hinter dir. Anschließend machen wir es uns gemütlich.“

Brummelnd wählte Heinrich die Nummer, und hoffte im Stillen, Michelle wäre nicht zuhause. Es knackte in der Leitung.

„Heinrich“, hörte er ihre Stimme.

„Ja.“

„Ich wollte dir sagen, die Beerdigung findet übermorgen statt. Ich fürchte das ist zu kurzfristig für dich, aber ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.“ Sie weinte ein bisschen.

„Was ist mit Eduard?“, erkundigte er sich um sie abzulenken.

„Der ist mir keine Hilfe.“

Heinrich fragte nicht weiter.

„Ich glaube, er hat nicht an seinem Vater gehangen“, meinte sie. „Klaus war oft so“, sie suchte nach Worten, „so abwesend, beinahe als wäre er nicht bei uns.“

Bei Heinrich rührte sich das schlechte Gewissen. Verhielt er sich nicht wie sein Halbbruder?

„Kommst du?“, fragte Michelle und in ihrer Stimme schwang eine Spur Hoffnung mit. „Dein Vater hätte sich gefreut.“

Heinrich war sich da nicht sicher, doch sie hatte seinen wunden Punkt getroffen.

„Ich habe mich schon verabschiedet“, murmelte er unwirsch.

„Du willst nicht kommen“, resignierte Michelle. Es kam ohne Vorwurf, nur unendlich traurig. „Ich verstehe.“ Sie stockte einen kurzen Augenblick, fuhr fort.

„Ist es wegen der Nacht?“

Wie gut sie ihn kannte. Warum hatte er dann ein schlechtes Gewissen? Er war doch überzeugt, das Richtige getan zu haben.

„Nein“, stritt er ab, „es hat nichts damit zu tun.“

„Du bist ein schlechter Lügner“, sagte Michelle leise.

„Es tut mir leid, dass ich dich nochmal gefragt habe. Ich will dich nicht drängen. Du musst wissen was du tust.“

Heinrich war ihr dankbar, dass sie ihn nicht zwang erneut eine Ausrede zu erfinden.

„Ich denke an euch“, sagte er erleichtert. „Bestimmt“ und unsicher setzte er hinzu, „ich komme sobald ich hier weg kann.“

Sie wussten beide, er machte diese Zusage nur aus Verlegenheit.

„Du bist jederzeit willkommen.“

Das Gespräch erschöpfte sich in Höflichkeitsfloskeln.

„Lass uns ein andermal sprechen“, beendete Michelle das Telefonat, „ich muss noch eine Menge organisieren.“

„Ich melde mich“, sagte er halbherzig. Michelle hatte aufgelegt.

Betreten schlich Heinrich in die Küche, setzte sich auf einen der Korbstühle. Cielo hantierte am Herd.

„Du hast abgesagt?“, fragte sie ohne sich umzudrehen.

„Ja“, murmelte Heinrich gequält, „und jetzt fühle ich mich beschissen.“

„Es ist deine Entscheidung“, meinte Cielo. „Ich kann dir nicht helfen.“

Er stand auf, verweilte einen Augenblick, hilfesuchend und sehr allein, dann verdrückte er sich ins Arbeitszimmer. Seufzend ließ er sich in den Sessel fallen, den schon sein Vater benutzt hatte. Das Arbeitszimmer war der einzige Raum, den Heinrich seit dem Umzug des Vaters nicht verändert hatte. Eine ehrfürchtige Scheu hinderte ihn, eigene Möbel hineinzustellen. Nur einige seiner Bücher lagen in den Regalen und auf dem Schreibtisch rollten sich Bebauungspläne und Skizzen der von ihm geplanten Häuser. Ihm war seltsam zumute, die sorglose Heiterkeit des Nachmittags verflogen, gewichen einer schwermütigen Melancholie. Er holte tief Luft und griff seufzend nach dem Tagebuch. Er blätterte ein wenig, fand die Stelle, an der er aufgehört hatte zu lesen.

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