Maria - Fräulein der Friesen

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8

Den Rest der Nacht lag Rimberti wach. Hatte der Mord an dem Sekretär etwas mit dem Verschwinden von Rentmeister Scriver zu tun? Oder hütete er ein anderes dunkles Geheimnis, das er mit ins Grab nehmen sollte? Erst gegen Morgen fiel Rimberti in einen unruhigen Schlaf, aus dem er mit lautem Klopfen geweckt wurde.

Noch ehe er sich aufrichten konnte, stand Fockena mit einer Waschschüssel vor ihm. »Macht Euch fertig«, ordnete er an. »Ihr werdet gleich Besuch bekommen.«

In Windeseile wusch Rimberti sich und kleidete sich an, als es schon zaghaft an die Tür klopfte.

»Ich setze unseren Gast in Eure Schreibstube, beeilt Euch«, wies Fockena ihn an.

Als Rimberti und Fockena kurze Zeit später in seine kleine Schreibstube traten, saß Fräulein Maria auf seinem Stuhl, während Junker Boing auf dem Stuhl von Rimbertis Schreiber Platz genommen hatte.

Maria sah ihn einen Moment konzentriert an und richtete dann das Wort an Rimberti: »Ich glaube, dass ich Euch vertrauen kann.«

Rimberti nickte. »Das könnt Ihr. Uns beiden.« Er deutete auf Fockena, der sich im Hintergrund hielt.

»Wir möchten nicht, dass die Grafen etwas von unserem Gespräch erfahren. Und ich weiß nicht, wer von meinen Bediensteten für sie arbeitet. Darum treffen wir uns hier«, erläuterte der Drost und nickte Maria zu.

Maria begann zaghaft: »Der Drost berichtete mir von den Ereignissen in der Nacht. Ihr wollt, dass die Sache als Unfall behandelt wird. Aber Ihr vermutet etwas anderes.«

»Junker Boing und ich wissen, dass noch jemand in der Nacht im Haus war. Er hat das Haus nach dem Sturz des Sekretärs verlassen. Er ist mit dem Schuh in das Blut des Sekretärs getreten und hat mehrere Abdrücke hinterlassen. Das waren nicht die Schuhe der Hausbesitzer.«

»Was vermutet Ihr?«

»Entweder hat jemand etwas in der Kammer des Sekretärs gesucht und ist dabei von ihm gestört worden, oder man wollte ihn zum Schweigen bringen.«

»Ich glaube, das Letztere trifft zu.« Fräulein Maria sah ihn unglücklich an. »Und ich glaube, dass wir beide, Ihr, lieber Doktor Rimberti, und ich mitschuldig sind am Tod dieses unglücklichen Mannes. Wir haben gestern über den Vertrag gesprochen, und viele Ohren haben zugehört. Aimo Herkens war damals der Schreiber, der das Bündnis zwischen Jever und Ostfriesland verfasst hat. Und das Eheversprechen. Er hat beide Schreiben aufgesetzt. Meine Schwestern und ich waren dabei.«

Sie bemerkte Rimbertis fragenden Blick. »Meine Schwester Dorothea ist vor einigen Jahren verstorben. Nun leben von uns Vieren nur noch Anna und ich. Die Umstände von Christophs Tod habt Ihr sicher schon erfahren. Wenn er noch lebte, wären wir nicht hier. Ich würde dann vermutlich auf einer Burg residieren, hübsche Blumenmuster sticken und Süßigkeiten essen, genauso wie meine Schwester Anna.«

»Habe ich schlafende Hunde geweckt?«, fragte Rimberti.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Fräulein Maria kleinlaut. »Ihr habt so deutlich von diesem Vertrag gesprochen, den uns der Graf damals weggenommen hat, damit wir nichts in der Hand haben. Wenn Königin Maria hier Nachforschungen anstellen lässt, könnten die Zeugen von damals auf einmal sehr wichtig sein.«

Rimberti hatte das Fräulein bei den bisherigen Begegnungen nie so viel reden gehört. Er nickte. »Besonders derjenige, der den genauen Wortlaut vielleicht noch in Erinnerung hat.«

»Mag sein«, knurrte Fockena. »Aber dann seid dennoch nicht Ihr am Tod des unglücklichen Mannes schuld, sondern der, der ihn von der Treppe gestoßen hat. Niemand anders.«

Maria schwieg. Dann begann sie mit bedachtsam gewählten Worten zu erzählen: »Meine beiden Schwestern und ich haben die meiste Zeit unseres Lebens wie Kinder gelebt. Wie Kinder, die sich schlecht behandelt fühlen. Immer haben andere für uns gedacht und entschieden.«

Sie warf Boing einen unschlüssigen Blick zu. Der nickte.

Maria fuhr fort: »Unsere Kindheit war eine unruhige Zeit. Fehden und Kriege. Unser Vater hat trotzdem gut für uns gesorgt. Aber er starb, als wir noch sehr jung waren. Die Regenten haben die Zeit nach Vaters Tod gut für ihre eigenen Interessen genutzt. Aber sie hatten nichts Schlechtes mit uns im Sinn und sorgten dafür, dass wir hier sorglos leben konnten. Graf Edzard war für uns wie ein Onkel. Nach dem Tod unseres Bruders Christoph besuchte er uns. Er wollte, dass die Cirksenas und die Wiemkens eine Familie mit einem Land werden. Meine Schwestern und ich waren naiv genug, das zu glauben.«

Sie schluckte. Das viele Sprechen schien sie anzustrengen. »Als die Grafen vor vier Jahren unsere Burg besetzten, wachten wir aus unserem Traum auf. Die Grafen haben uns hier in unserem eigenen Zuhause festgesetzt. Unsere Bediensteten und die Regenten mussten ihnen Treue schwören. Oben feierten sie das mit ihren Männern und den Regenten. Anna und ich mussten unten bleiben. Ihr Grölen und Trampeln höre ich heute noch. In dieser Nacht sind wir aufgewacht, zumindest ich. Aber da war es zu spät.«

»Es ist nicht zu spät, Fräulein Maria«, sagte Junker Boing.

»Doch. Es ist zu spät. Meine Schwester Anna lebt wieder in ihren Träumen. Nur zwischendurch wacht sie auf wie ein Kind aus einem unruhigen Schlaf. Dann trösten wir sie, und sie träumt weiter.«

»Jetzt ist es Zeit aufzustehen!« Auf einmal trat Fockena vor. »Verzeiht, ich bin nicht so ein gelehrter Mann wie Doktor Rimberti. Aber ich habe das Buch gelesen, das er mir geschickt hat. Doktor Luther hat es über Eure Namensmutter, die gelobte Jungfrau Maria, und ihren Lobgesang geschrieben. Die Gewaltigen stößt der Herr von ihren Thronen, auch wenn das mitunter lange dauert. Vier Jahre habt ihr nun gewartet, nun ist es Zeit. Aufgewacht seid Ihr schon vor vier Jahren. Jetzt müsst Ihr aufstehen.«

Verblüfft sah Maria ihn an. »Es ist zu spät. Ich bin allein. Ich muss es so annehmen, wie Gott es gibt.«

»Ja«, herrschte Fockena sie an und schlug mit der flachen Faust auf den Schreibtisch. »Gott gibt Euch das Amt, Regentin über dieses kleine Land zu sein. Dieses Amt müsst Ihr annehmen. Das ist Eure Bestimmung. Steht auf, und gewiss wird Hilfe nicht fern sein.«

Fockena atmete schwer aus.

Maria sah ihn jetzt wieder an wie ein großes Kind. »Ich habe Eure Worte gehört«, flüsterte sie. »Es … es ist zu viel für mich. Zu große Worte. Ich danke Euch für Eure Offenheit. Ich muss jetzt zu meiner Schwester …«

Langsam erhob sie sich aus dem Stuhl und ging zur Tür. Boing sprang auf und wollte sie begleiten, doch sie machte ihm ein Handzeichen. »Bitte lasst mich einen Moment allein und besprecht, was zu tun ist.«

»Es ist Eure Schuld«, schimpfte Fockena. »Ich habe keine Universität besucht wie Ihr. Aber was Luther schreibt, da ist Saft und Kraft darin, auch für ein schlichtes Gemüt wie mich.«

»In Euren Zornesausbrüchen steht Ihr Luther nur wenig nach«, antwortete Rimberti. »Er hätte wahrscheinlich nicht nur auf den Tisch geschlagen, sondern Fräulein Maria gepackt und durchgeschüttelt.«

»Den Mann muss ich kennenlernen«, erwiderte Fockena begeistert. »Ich gebe ihr darin recht, dass der Burgschreiber wohl sein Leben lassen musste, weil er den Ehevertrag geschrieben hat.«

»Aber es wird ja noch etliche andere geben, die den Vertrag zu Gesicht bekommen haben«, wandte Rimberti ein.

»Es ist 14 Jahre her«, erwiderte Fockena. »Und etliche, die davon wissen, sind am Ende damit einverstanden, dass das Jeverland von den Grafen übernommen wird. Wir müssen Zeit gewinnen.«

Boing von Oldersum seufzte und erklärte dann feierlich: »Die Zeit läuft ab, Ihr Herren. Wir können diese Sorgen nicht von den Fräulein fernhalten. Wir haben Kunde, dass Junker Balthasar, der Herr von Esens, einen Krieg gegen Jever vorbereitet. Und die Überfälle der Landsknechte Owelackers werden immer dreister. Keno Middens wird für die kommende Woche die Regenten auf die Burg einladen. Dann soll beschlossen werden, wie es weitergeht. Er wird vorschlagen, dass die Regenten und Häuptlinge den Eid auf die Grafen schwören und sie mit der Regentschaft über Jever beauftragen. Offiziell und für immer.«

Rimberti konnte sich gut an seinen kurzen Aufenthalt bei Junker Balthasar erinnern. Rimberti war als sein Gefangener großzügig bewirtet worden, war ihm dann aber doch in die Falle gegangen. Nur mit Hilfe von Ulfert Fockena war es ihm gelungen, einen Angriff von Balthasars Männern auf die Insel Bant zu verhindern. Gleichzeitig hatte er aber Balthasar vor einer Intrige der ostfriesischen Grafen bewahrt. Die kaltblütige Gewalt des Herrn von Esens schreckte ihn ab, aber gleichzeitig hatte er Respekt vor diesem Junker, der mit aller Kraft und allen Listen seine kleine Herrschaft vor den Angriffen der Grafen verteidigte.

Besorgt fragte er: »Und was wird aus den beiden Fräulein?«

»Fräulein Anna wird in ein Damenstift eingekauft«, erklärte Boing. »Und Maria wird einem Landjunker vermählt.«

»So einem wie Ihr und ich?«, fragte Fockena.

»Oder noch schlimmer«, schloss Boing.

9

Kurze Zeit später saßen Rimberti und Fockena bei einem Frühstück aus Brot, Butter, Käse und Dünnbier.

Entschlossen sagte Rimberti, ohne dabei den Blick von seinem Teller zu heben: »Wir müssen uns die drei Gefangenen vornehmen. Warum will Graf Enno nicht, dass wir sie hier verhören?«

»Vielleicht will er sie selber befragen«, antwortete Fockena kurz und biss herzhaft in ein Stück Brot.

»Aber dazu hatte er ja längst die Gelegenheit gehabt. Inzwischen ist er abgereist.«

Fockena erhob sich und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Ihr gebt ja doch keine Ruhe. Kommt.«

»Und der Wachtposten?«

»Ich möchte den Wachtposten sehen, an dem ich nicht vorbeikomme.«

 

Mit einem Ruck ging Fockena kos, und Rimberti folgte ihm über den Burghof bis zum Burgverlies. Hier war kein Wächter. Rimberti sah durch die kleine Luke in der Tür zum Kerker, aber er konnte niemanden darin erkennen.

»Herr, was sucht Ihr?«, fragte plötzlich jemand. Ein junger Soldat stand hinter ihnen. Er japste nach Luft und war vermutlich schnell hinter ihnen hergelaufen. Die Krümel und Flecke auf seinem Wams verrieten, dass er wohl in der Küche gewesen war.

»Die drei Gefangenen. Wo sind sie?«

»Herr Isko Onninga war vorhin hier und hat sie abgeholt. Er kam im Auftrag von Graf Enno.«

»Hatte er ein Schreiben bei sich?«, knurrte Fockena.

»Das nicht«, antwortete der Soldat verlegen. »Aber jeder weiß doch, dass er als Offizier im Dienst der Grafen steht. Ich stand auch schon unter seinem Kommando.«

»Wohin will er sie bringen?«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

»Hat nicht Graf Enno selbst verfügt, dass niemand zu den Gefangenen darf?«, fragte Fockena scharf nach.

»Herr Isko stand mit sechs Männern vor mir und verlangte die Herausgabe der Gefangenen. Im Auftrag der Grafen.« Der Wachsoldat schluckte.

Fockena wollte gerade zu einem Wutausbruch ansetzen, da legte Rimberti die Hand auf seinen Arm. »Lasst gut sein. Er kann nichts dafür.«

»Nur ein einziger Mann kann hier solche Anordnungen geben«, presste Fockena mit kalter Wut hervor, »und das ist euer Drost. Sonst niemand. Weder Herr Isko noch sonst jemand. Geht das in deinen Schädel?«

»Wann sind sie aufgebrochen?«, fragte Rimberti den Soldaten.

»Das ist noch keine Stunde her. Isko Onninga hat seine Männer und die drei Gefangenen mitgenommen. Er wollte mit ihnen zur Friedeburg. Sie haben den Dreien die Hände auf dem Rücken gefesselt und sie auf die Pferde gesetzt«, erklärte der Wächter sichtlich froh, wenigstens durch detaillierte Auskünfte hilfreich sein zu können.

Rimberti sagte: »Das hast du gut beobachtet. Denke daran, dass es hier nur einen Befehlshaber für dich gibt, und das ist der Drost. Wenn du das noch einmal vergisst, wird man dich bestrafen.«

Der Soldat nickte verlegen.

Drost Boing war über einen Brief gebeugt, als Rimberti und Fockena in seine Amtsstube kamen.

»Schlechte Nachrichten«, brummte er.

»Wir bringen noch schlechtere«, entgegnete Fockena. »Isko Onninga hat heute früh die drei Gefangenen aus dem Kerker geholt und mitgenommen.«

Der Drost sprang auf. »Isko …«, stieß er hervor. »Wir müssen ihnen hinterher. Wir müssen die drei Gefangenen verhören. Sonst werden wir nie erfahren, wo Ewert Owelacker und seine Strauchdiebe sich verstecken. Sie erscheinen wie aus dem Nichts und schlagen zu. Dann sind sie blitzschnell wieder verschwunden. Kommt, vielleicht können wir sie noch einholen.«

»Das glaube ich zwar nicht«, bemerkte Rimberti, »aber reitet lieber ohne mich.«

»Es ist mir wichtig, dass Ihr dabei seid, wenn ich die drei verhöre«, antwortete der Drost.

Fockena nickte. »Vielleicht nehmen wir noch ein paar Männer mit.«

»Besser nicht. Ich möchte nicht, dass die Fräulein etwas mitbekommen. Und wenn wir hier mit einer Truppe aufbrechen, werden sie merken, dass etwas nicht stimmt. Außerdem bin ich ihm im Rang übergeordnet. Er wird nicht wagen, mir zu widersprechen.«

»Da bin ich nicht so sicher«, antwortete Fockena trocken. »Aber er wird sicher nicht mit Gewalt gegen Euch vorgehen. Wenn Ihr dafür sorgt, dass drei Pferde für uns bereitstehen, werden Doktor Rimberti und ich noch einmal den Wächter im Kerker besuchen und ihm einschärfen, dass er den Mund hält.«

»Das muss er, denn ich …«, wollte Boing erklären.

»Das wird er«, bestätigte Fockena mit Nachdruck. »Dafür werde ich persönlich sorgen.«

Eine Viertelstunde später hatten die drei Männer Jever verlassen. Mit ihnen war ein junger Reitknecht aufgebrochen, der aus einem der Dörfer südlich von Jever stammte. Der Drost hatte ihn mitgenommen, weil der Junge wusste, wie man fernab von der üblichen Wegstrecke zur Friedeburg reiten und dabei den Weg abkürzen konnte.

Auch wenn es noch früher Vormittag war, brannte die Sonne schon heiß aus dem wolkenlosen Himmel auf die Reisenden herab. Die drei Männer hingen schweigend ihren düsteren Gedanken nach.

Als sie nach einer guten Stunde in eine Ansiedlung kamen, hielt der Junge kurz an und wechselte mit einem alten Mann ein paar Worte.

Dann wandte er sich an den Drosten: »Herr, er sagt, wir sind nicht die ersten Reiter, die heute diesen Weg nehmen. Sieben Mann zu Pferde mit drei Packpferden sind hier vor weniger als eine Stunde vorbeigekommen. Sie haben sich bewirten lassen, ohne etwas zu zahlen, und sind dann weitergeritten.«

»Dann hat er die Gefangenen freigelassen«, knurrte Fockena. »Sie sind vielleicht schon wieder unterwegs zu Owelacker.«

»Ich denke, wir sollten den Weg zurückreiten und die Augen offen halten«, schlug Rimberti vor. »Es hat wenig Sinn, Isko und seine Männer zu verfolgen. Vielleicht kommen wir den drei Gefangenen auf die Spur und finden heraus, wo sie ihr Lager haben.«

»Aber zuerst brauche ich etwas zu essen«, sagte Fockena bestimmt. »Mein Magen knurrt. Seit dem Stück Brot und einem Becher mit verdünntem Bier heute früh habe ich noch nichts zu mir genommen.«

»Das muss warten, Herr Ulfert«, stellte der Drost fest. »Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren.«

Fockena brummte etwas vor sich hin, aber er wusste, dass Boing recht hatte.

Der junge Reitknecht stand auf einmal mit dem alten Mann und zwei Frauen vor ihnen. »Jürnohm ist der Bruder meines Großvaters. Er ist der Meinung, Ihr solltet Euch kurz stärken, bevor wir wieder zurückreiten.« Sie reichten dem Drosten, Fockena und Rimberti Becher mit verdünntem Met, frisch gebackenes Brot und Käse.

Nachdem sie sich gestärkt und dem Verwandten des Jungen eine großzügige Bezahlung gegeben hatten, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie suchten nach Spuren am Wegesrand, aber keiner von ihnen war in der Fährtensuche geübt. So ritten sie den Weg genauso schweigend zurück, wie sie ihn vorhin gekommen waren. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel. Sie waren erleichtert, endlich durch eine waldige Gegend zu kommen, die etwas Schatten bot.

Fockena hielt sein Pferd an und hob die Hand. »Seht hier. Das kann sogar ich erkennen.«

Hufspuren führten vom schmalen Weg durch den Wald ins Dickicht.

Boing wandte sich an den jungen Reitknecht. »Du wartest hier mit den Pferden. Ich weiß nicht, was uns dort im Wald erwartet. Aber ich möchte nicht, dass jemand die Tiere hört und auf uns aufmerksam wird.«

Der Junge nickte, ging ein Stück mit ihnen und leinte die Pferde dann an niedrigen Ästen an.

»Seid Ihr bewaffnet?«, fragte Drost Boing.

Fockena klopfte mit der Hand auf den Griff des Schwertes, das er an der Seite trug. Rimberti fasste nach seiner kurzen Klinge, die er bei Ausflügen dieser Art bei sich trug. Der Graf, bei dem er nach dem Studium als Jurist im Dienst gewesen war, hatte Wert darauf gelegt, dass all seine Beamten eine gute Ausbildung im Umgang mit einer Waffe erhielten. Der Fechtmeister wiederum hatte eine eiserne Disziplin bei der Ausbildung seiner Schüler an den Tag gelegt, sodass Rimberti eigentlich gegen seine Neigung doch ein guter Kämpfer mit der Klinge war.

Boing nickte, und sie folgten den Spuren.

Einen Weg konnte Rimberti nicht erkennen, aber die Reiter waren hintereinander geritten, sodass die Spuren im weichen Waldboden gut zu sehen waren. Jemand hatte genau gewusst, wohin er wollte. Machte am Ende Isko Onninga mit Owelacker und seinen Landsknechten gemeinsame Sache? Vielleicht gab er ihnen nützliche Ratschläge, wo sie ohne großes Risiko reiche Beute machen konnten. Und sie gaben ihm dafür einen Anteil an ihrem Raub. Und die Ängste, die durch ihre Überfälle geschürt wurden, spielten den ostfriesischen Grafen in die Hände.

Plötzlich blieb Boing stehen und hob die Hand. Auf einer kleinen Lichtung mussten Isko und seine Männer eine kurze Rast gemacht haben. Man sah, dass Gras und unten hängende Zweige von den Pferden abgefressen waren. Die Spuren führten nicht weiter.

»Sie sind umgekehrt«, sagte Fockena. »Und dann sind sie ihren Weg weiter geritten zur Friedeburg. »Darum waren sie so kurz vor uns bei den Häusern.«

»Und ihre drei Gefangenen haben sie hier freigelassen«, stellte der Drost fest.

»Aber warum?«, wollte Rimberti wissen. »Warum haben sie sie nicht einfach dort hinten am Weg freigelassen? Warum sind sie mit ihren Pferden diesen beschwerlichen Weg geritten?«

Seine beiden Begleiter sahen ihn ratlos an.

»Sie haben sich hier verborgen«, erklärte Rimberti mit gedämpfter Stimme. »Hier muss ein Versteck sein, und einer von Iskos Männern kannte sich hier aus.«

»Das ist gut möglich«, antwortete Drost Boing leise. »Einige von Iskos Männern stammen aus dem Jeverland. Sie sehen für sich hier keine Zukunft und dienen sich den neuen Herren an.«

»Ich denke, wir suchen, ob wir hier Spuren von den drei Gefangenen finden. Aber wir bleiben zusammen.«

Sie gingen vorsichtig in einem Bogen um die kleine Lichtung. Ewert Owelackers Männer waren erfahrene Soldaten. Sie würden jedes Geräusch, das nicht zum Wald gehörte, sofort wahrnehmen. Die drei mussten Owelackers Lager auf jeden Fall finden, bevor man sie entdeckte.

Fast gleichzeitig sahen Rimberti, Fockena und Drost Boing, was sie eigentlich nicht erwartet hatten. Im Dickicht stand eine Holzhütte. Sie stand umgeben von dichtem Gebüsch, und das Strohdach war schon mit Moos überwachsen und eingesunken.

Fockena zog seine Waffe.

»Sollen wir nicht Verstärkung aus Jever holen?«, fragte Rimberti kaum hörbar. »Die Männer da drin sind erfahrene Kämpfer.«

»Nicht so erfahren wie wir«, flüsterte Boing und zog ebenfalls geräuschlos sein Schwert. »Wenn möglich, sollten wir einen von ihnen am Leben lassen, damit wir ihn befragen können.«

Auch Rimberti zog seine kurze scharf geschliffene Klinge, die ihm in der engen Hütte vermutlich bessere Dienste leisten würden als ein langes Schwert.

Fast geräuschlos näherten sich die drei der Hütte. Fast. In dem Augenblick, in dem Fockena den vertrockneten Ast unter seinem Fuß bemerkte, war es schon zu spät. Das Knacken war nicht laut, aber hörbar.

Im gleichen Moment sprang Boing von Oldersum auf und warf sich gegen die Tür. Das brüchige Holz brach sofort in Stücke, und Boing stolperte in den dunklen Raum. Im gleichen Moment waren Fockena und Rimberti über ihm und hielte ihre Waffen in die düstere Leere.

Ihre Augen brauchten einen Augenblick, um sich an den dunklen fensterlosen Raum zu gewöhnen, in den auch durch die kleine Tür wenig Licht kam. Nichts. Niemand regte sich dort. Sie verharrten kurz, während Boing sich wieder aufrichtete. Und dann sahen sie sie. Im hinteren Teil der Hütte lagen drei Männer. Regungslos.

Fockena beugte sich zu ihnen hinunter und drehte den ersten um. Er hatte immer noch die Hände auf dem Rücken gefesselt. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Mit einem Blick sah Fockena, dass die beiden anderen Männer das gleiche Schicksal erlitten hatten.

Rimberti blieb der Atem weg. Er wusste, dass diese drei ein Dorf überfallen und unschuldige Einwohner umgebracht hatten, vermutlich ohne zu zögern. Und doch lagen hier drei Menschen vor ihm, die man einfach getötet hatte, um sie zum Schweigen zu bringen. Für immer. Ein jammervoller Anblick.

»Die werden niemanden mehr überfallen«, brummte Fockena.

»Isko Onninga«, zischte der Drost. »Irgendwann wirst du für all das bezahlen.«

»Hier hat es zumindest nicht die Falschen getroffen«, bemerkte Fockena. »Warum holt er die drei aus ihrem Verlies, um sie dann hier umzubringen?«

»Damit sie nicht mehr reden können«, antwortete Boing.

»Doch, sie werden reden, auf ihre Weise«, entgegnete Rimberti. »Wir müssen schweigen über das, was wir hier vorgefunden haben. Dann werden andere uns sagen, was wir über diese drei wissen müssen.«

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